Gleiten

Erzählung

von  minze

Die Anreise ist lange geplant, als wäre es die letzten zwei Jahre oder alle letzten Monate nur darum gegangen. Vielleicht ging es jedes Jahr ab dem Messen der Wachstumsfugen darum, wann die Operation stattfinden könnte. In der Uniklinik bei uns zu Hause meinte der Arzt, man solle es mit elf Jahren machen. Ich könne sonst später nicht schwanger werden, die Wirbelsäule breche durch; da begreife ich es schon als eines der nächsten Lebensthemen, schon da. Aber Mama kennt verschiedene Fachkliniken, ich habe es ja von Oma vererbt. Ich soll in dieselbe wie sie. Mama hat sich selbst nie röntgen lassen, ich alle sechs Monate. Er ist mir eigen, der Gleitwirbel. Ich fühle ihn immer noch, auch wenn er versteift ist. Wir haben ihm zugeschaut, eine Weile, wie er sich vorwärts schob – und dann mit fünfzehn war es soweit. An Felix Todestag. Darauf hatte ich eigentlich keinen Anspruch, diesen Tag anders zu belegen, die Rituale zu irritieren, die sonst seinen Todestag ausmachen.



Aber wir sind geschäftig und sprechen wenig, Christian, weil er sicher keine Lust hat so lange zu fahren – durch halb Deutschland, mein Vater freut sich auf das Fahren, - Mama will ich gar nicht so genau ansehen. Ich packe einen Kunstdruck, das Kuscheltier, den Discman, einen Haufen CDs ein und denke, es ist aufregend, dass sie mich aufschneiden werden, wie sie an mir rumschneiden, wie die Narbe aussehen wird, mein Leben lang, wie es mich prägen wird: wie der Gleitwirbel mich richtig zeigen wird, ob ich es fühlen kann, mich anders fühlen kann.
Bin dann doch wieder unter der Glocke der Trauer und auch Müdigkeit, allerdings schon enervierend vorprogrammiert. Es ist noch der Vorabend, wir fahren nachts um 2 Uhr. Wenn wir in der Klinik ankommen müssen wir, anders, als bei den Voruntersuchungen, nicht lange in den Warteräumen warten, wo es Instantkaba gibt und tiefhängende Lampen, die wie Ufos aus den 80gern aussehen, dunkelgrün und aus Plastik. Eine Nummer ziehen und lange Brettspiele spielen. Ich bekomme dieses Mal gleich mein Zimmer. Ich darf dann da einziehen für ein paar Wochen. An Felix Todestag, das schämt mich, weil es ja sein Tag ist, nicht meiner und dann ein Gefühl von Triumpf, gleichzeitig. Aber das alle mitmüssen, wir machen das als Familie, ist anstrengend. Christian hat einen Gameboy, ich darf nicht damit spielen.


Als wir im Zimmer sind, denke ich, jetzt, wo wir angekommen sind, kann Mama ja ein bisschen rausgehen, weinen, wenn ihr danach ist. Sie hat schon angedeutet, dass sie befürchtet, hier noch ein Kind zu verlieren, das merke ich aber nicht, nicht richtig. Oder will es nicht merken, nur kurz, als ich auf der Intensivstation das Herzrasen habe und die Pfleger hektisch werden. Aber ich merke es auch da nicht ganz, weil ich immer das Morphium, oder was es ist, in mich reinjage, auf Knopfdruck, so alle 15 Minuten und mich auf angenehme Weise ihre Panik nicht mehr erfassen kann, auch nicht ihre Angst. Ich sehe es, aber muss es nicht spüren währenddessen.

Ich komme in das Sechsbettzimmer und fühl mich feierlich, bekomme ein Gefühl für WGs, ich kann mir natürlich noch nicht ganz vorstellen, was eine WG ist, aber die Mädels sind gleich aufgeschlossen und werden mir helfen – sagt die Krankenschwester. Ich sehe zwei gegipst, manche fixiert – und andere noch beweglicher und geduscht. Am Abend sagt Marie, dass sie nur Suppe esse, sie ist morgen dran. Es gibt verschiedene Suppen im Essensraum. Man muss dahin zu den Mahlzeiten, außer man ist dann eben unbeweglich nach der OP, wenn man das Laufen wieder lernen muss. Marie und Elsa erzählen es unaufgeregt und sachlich, aber mir kommt es wie ein Abenteuer, ein Traum vor, was mich erwartet. Ich frage, welche Suppen es gibt und will jetzt schon entscheiden, welche ich am Tag vor der OP essen werde. Ich denke, dass ich dann besser in das Korsett passen werde, was man nach der Rücken OP trägt. Dabei ist es ja nur eine einzige Mahlzeit. Elsa sagt, dass man dann auch gar nicht mehr so viel essen kann. Ich bin bereit, für das Korsett und bereit, mich dann darin einzufinden. Ich werde Tomatensuppe essen, wie Marie, die mich in den Essensraum begleitet und andächtig wirkt. Sie ist ruhig, sagt mir alles ohne Schrecken. Die Untersuchung am Rückenmark mit dem Kontrastmittel wird eklig, kommt aber erst zwei Wochen nach Ankunft in der Klinik. Sie erzählt mir, wo der Gips hergestellt wird, die Orthopäden sind im Haus und sie hat den Abdruck vor ein paar Tagen gemacht. Mama ist in der Pension eingemietet, aber ich bekomme sie einfach nicht mit. Sie ist immer da, hält meine Hand, aber es ist, als wäre sie nicht da. Und wäre sie nicht da, dann wäre ich wohl alleine.


Am ersten Abend kichern wir schon, die anderen Mädchen und ich. Und dann riecht es und ich frag, ob jemand gepupst hat. Elsa hat den Kopf weggedreht, sie liegt aber eh ganz auf der Fensterseite. Das Fenster ist sogar offen. Es bleibt still, sie läutet, ein Pfleger kommt und sie sagt, dass sie groß gemacht habe. Sie hat eine Unterlage sich hingelegt, oder sie lag vielleicht schon da. Der Pfleger fragt, ob eine Frau kommen solle – Schwester Irene kommt. Ich verfolge es ruhig und prüfe meinen Körper.


In der Klinikschule kann ich besser üben als zu Hause. Wir sind nur wenige Schüler, viele kommen auch das Minimum, man soll drei Stunden kommen, ich bin länger da, vor allem der Deutschlehrer ist gut. Und die Gleichungen kann ich nachholen in Mathe. Am liebsten rede ich aber mit Peymen, der auch viel in der Schule ist. Er muss sich alle Jahre operieren lassen, die ganze Wirbelsäule ist quer, auch der Schultergürtel. Er sieht indisch aus, aber ich frage ihn nicht, woher er kommt. Er wurde schon operiert oder ist gerade ziemlich schwach, daher kann er mit seinen Stumpen nicht im Rollstuhl sein und bewegt sich auf einem Bett mit Rollen – eher eine Liege. Es wirkt auf mich wie Surfen. Er hat auch Übung mit seinen Armen und allem. Bald setze oder lege ich mich dazu. Er hat längere Haare und dunkle Augen, eine Brille und lächelt mit traurigem Blick, aber vor allem reden wir eben lange, er erzählt mir alles, was schon an ihm gemacht wurde und ich höre ihm zu, weil ich seine Stimme so beruhigend finde. Seinen ruhigen, unausgewählten Mut, jetzt, da er nicht alleine pissen kann. Er ist sicher noch nicht 18 aber er ist für mich der erste Mann, schon allein wegen der Stimme, der Brille, wie lässig er die schwarzen Haare aus dem Gesicht pfeift. Als er sagt, er flirte viel im Internet, kratzt es unter meinen Rippen. Und es ist so verlockend für mich, dass ich ihm so nah kommen kann, dass er es schön findet, wenn ich direkt bei ihm sitze und ich lass es gleich in meine Fantasie springen, weil ich es mir jede Nacht in der Klinik mache.


Immer dann, wenn die anderen schlafen, weil ich nicht alleine bin. Aber ich bin noch mehr drauf aus, als zu Hause, wo ich alleine wäre und jederzeit in mein Bett oder auf dem Sofa mich reiben könnte, da habe ich einen ganzen Stock für mich alleine – Christian ist tagsüber selten da. Im Krankenhaus bin ich so auf meinen Körper reduziert: Blutproben, die Untersuchungen, wie es mit Pinkeln und Kacken wohl wird, wie ich noch das waschen schaffen werde. Wie sie mich umoperieren.
Lange weiß ich es noch nicht, wie es geht, es mir als Mädchen zu machen und als ich einmal anfange, so gegen 23 Uhr; ich merke ganz sicher, dass alle schlafen und ich es heimlich machen kann, dann ist es automatisch so: sobald die anderen Mädchen schlafen, muss ich zu mir kommen und mich anfassen. Eine, zwei schnarchen und ich reib mich, reib mich los wie wild.


Erst als Nina eine Woche später kommt und sich etwas abschätzig umschaut, verändert sich die Dynamik wieder. Sie ist das einzig coole Mädchen, aber nimmt mich rein. Die anderen sind sehr klein oder schüchtern und ich rede viel. Sie kommt aus einer Stadt im Norden und ist schon groß und 16. Sie trägt Ringe am Finger und hat riesen Augen, einen Seitenscheitel, wie ichs nicht hinbekomme. Sie fragt mich gleich, was hier abgehe, wie die Pfleger sind und so. So viel kann ich noch nicht sagen, bisher habe ich sie eher gleichgültig wahrgenommen, ich sage ihr, dass man auch immer eine Schwester kriege, wenn man gepflegt wird und ihre Augen fallen fast raus, sie ist eher so ungläubig als alles-bereit, so wie ich mich schon positioniert hatte. Nicht dein Ernst sagt sie, richtig empört.

Und dann stelle ich ihr den Stationsarzt vor, Dr. Steurer. Sie nennt ihn Schnitte und für mich ist es das erste Mal, dieses Wort zu hören. Ich beschließe sofort, zwischen Peymen und Dr. Steurer zu wechseln. Nina hat alles parat: was alles geil ist an Dr. Steurer und ich schwärme sofort mit. An einem Tag ist eine Betriebsfeier und wir schleichen durchs Haus, beide mit Gips, ich kann es mir schon viel schlechter machen, so ein Roboter, wir halten uns gegenseitig fest zwischen Lachen und Unfähigkeit, meine Mutter ist endlich abgezogen. Aber immerhin kann ich schon wieder laufen. Wir wollen einfach Dr. Steurer ohne Arztkittel zu sehen. Ganz privat. Er trägt einen dunkelblauen Rollkragenpulli und nichts deutet darauf hin, dass er mit einer der Kolleginnen flirtet. Er ist unser Hero , sagt Nina. Sie hat von Enrique Iglesias Hero auf dem Discman. Wenn wir gut abschätzen können, dass er ins Zimmer auf Visite kommt, mit seinen Grübchen, seinen halblangen dunkelblonden Haaren, dann liegen wir auf den zusammengeschobenen Betten und hauen auf die Taste, sobald er hinein kommt. Manchmal soll Elsa Schmiere stehen und uns auf den Moment vorbereiten. Ich pisse mir schon vorher in die Unterhose, aber wenn das Timing stimmt und der Discman nicht hängt, dann ist es fast noch besser, ihn beim Reinkommen so zu erleben, zu fühlen als alles Andere. Mit Enriques Stimme, mit der unbedingten Message von Nina und mir – ein so auflösender Moment und wir sind so aufgeregt darauf, es immer wieder erleben zu wollen. Einmal sind wir so übergeschnappt, einen Vorwand zu erfinden, warum er kommen muss. Er grinst aufmerksam; ich habe ein schönes Gefühl, wenn ich denke, er verstehe schon was von unserem Schwärmen.

Als ich ihn das eine Mal nur für mich habe, weil Nina auf Intensivstation ist, zieht er mir die Fäden. Ich habe gedacht, es würde eine Schwester machen, aber er macht es, ist lange und konzentriert an meinem Rücken und ich verlier kurz die Sprache, bin aber dankbar – vor allem, da es so unerwartet ist. Seine Hände sind kalt und vorsichtig, ich sage es nicht mal Nina, sie meint du Schwein, wie ich es kurz andeute, nach ihrer Rückkehr.


Ich verzichte darauf, dass nur Schwestern mich pflegen, denke, es ergibt sich doch kein wirklicher Anspruch. Als würden nur Mädchen auf Station liegen, denke ich, dass Jonas, der Pfleger sich zurückgewiesen fühlen müsste, wenn er wieder wegmuss, nur weil was im Intimbereich ist oder so. Er sieht nicht gut aus, aber ich habe kein Problem damit. Fischi.
Am Abend vor der OP kommt er und sagt, er müsse mich noch vorbereiten. Ich bin entspannt, habe nicht so großen Hunger nach der Suppe. Dann erklärt er, dass ja am Hüftknochen etwas abkommt für die Verknöcherung an der Wirbelsäule und hält den Rasierer vorsichtig in der Hand. Ich muss ein bisschen von deinem Schamhaar abrasieren, ist das okay? Soll eine Schwester kommen? Es ist auch sein unsicherer Ton, wenn er das fragt. Jetzt bin ich gebannt - als wäre ich mir das erste Mal bewusst, dass ich Schamhaare habe. Sehr kurz huscht so ein Nina-Reflex durch mich Achwas!, aber dann fühle ich mich angenehm ausgeliefert, will‘s geschehen lassen, bin neugierig, wie ich mich fühle, wenn er das macht. Er fragt auch nicht, ob ich die Unterhose runterziehe und zieht sie selbst ein bisschen, ich mache den Hintern hoch, dass es besser geht. Er muss nur die Hälfte wegmachen und es wird wirklich ganz glatt. Die Wunde wird man hier nicht sehen, das wird nur ganz klein sein. Aber man muss sauber arbeiten und mehr von den Haaren wegmachen.
Ein Gefühl der Erleichterung, als er fertig ist, alles zusammenknüllt in ein kleines Papiertuch. Ich traue mich fast nicht, mich den Abend anzufassen.


Richtig deutlich wird mir Mama in den Minuten vor der OP. Sie klammert sich an mir fest und ich liege wieder nackt, ganz exponiert auf einer Liege. Ich frage mich, wie sie im OP meinen Körper finden werden, wie er atmet, wenn ich nichts mehr spüre und sich heben und senken wird. Wie ich ihn dann fühlen werde, wenn ich mal wieder etwas fühle. Und denke aber auch, ich lieg unter einem Leichentuch, mit dem hellen Kittel. Vielleicht auch weil sie so fertig ist, aber ja doch meine Hand eng hält. Ich verspreche ihr und mir still, dass ich ja zu Felix komme, wenn es nicht klappt. Und dann bekomme ich die Narkose und bin wirklich erlöst: ich spüre, dass ich zu Felix komme, wenn ich nicht mehr aufwache und wenn doch, dass ich dann einen anderen Körper habe, dass ich dann ein Korsett bekomme. Ich kann von ihr loslassen, wo ich nie dachte, ich könne loslassen. Und das ist es auch auf Intensiv, später, auch als sie das Flimmern bemerken, was nur mit einer ungefährlichen Kammerstörung zu tun hat im Herzen, ich bin losgelöst, es ist jetzt mein Körper.


Die ersten Gehversuche sind zart und vorsichtig, die Zeit mit der Physiotherapeutin ist mit die schönste. Weil sie nicht von mir weicht, mich hält und mich vorsichtig lernen lässt – alles, als sei ich wieder ein kleines Kind. Und Vertrauen hat, dass es geht, wenn wir langsam machen. Und ich gehe auf in dem Wunder, dass wir jeden Tag ein bisschen mehr gehen, irgendwann die Treppen. Peymen ist noch immer da, er wird Wochen bleiben, malwieder. Er schaut mich liebevoll an, er hängt auch so immer im Treppenhaus rum, da ist irgendwo auch ein Raucherbereich. Das merke ich erst jetzt, dass er deswegen so besonders riecht, weil er raucht.


Zu Hause werde ich es seltsam und schön finden, dass Mama mir beim Duschen helfen muss. Wenn ich wenige Sekunden nur ohne Korsett bin, spüre ich intensiv meine Schwäche, meinen Rücken, der nichts halten kann, und doch eine zart aufbäumende Kraft. Mein zittriger, auf einmal so flacher Bauch, der einklappen will, es aber aushält, nur so lange Mama mir den Bauch und Rücken abtrocknet, dann ein Hemdchen mir überzieht. Ich stehe konzentriert am Waschbecken, stütze mich ab, hebe erst den einen, dann den andern Fuß. Und dann wieder die Festung, das Korsett und die Unterhose; den Rest kann ich eigentlich machen. Und sie geht wieder aus dem Bad und ich hab mich wieder für mich. Es ist ein schüchterner Austausch von Hilfe, sie sieht auch, dass ich jetzt schon voll Brüste hab, dass ich mich umdrehe, wenn ich mich unten wasche – ich liefere mich ihr in dieser kurzen Schüchternheit so gerne aus.

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