Delfine

Erzählung

von  minze

Die letzten Tage ist jede Entscheidung, später zu fahren, gut. Ich will später in die Mühle einsteigen, mir kommen meine Schritte, die ich gehe immer langsamer vor. Unentschlossen, wohin mich egal welches Tempo führen würde. Wenn diese Unentschlossenheit den Tag später übernimmt, umso besser. Wann wurde es besonders anstrengend, diese Rolle zu bekleiden, in der ich jetzt eigentlich sicherer bin?

Vielleicht, weil ich sie jetzt schon inne haben, die Erwartungen der anderen sind jetzt ganz natürlich, sie warten nicht mehr ab, ob ich wirklich zu der Vorgesetzten werden kann, die Zeit des Werdens ist eigentlich vorbei, jetzt ist es, wie es ist. Und wir gewöhnen uns gegenseitig an all ihre Anliegen und Anfragen, sie und ich. Auch mein Tempo ist so schnell, dass ich nicht ganz mitkomme, jetzt mittlerweile oder gerade jetzt. Die vielen Richtungen, die ich bediene, werden selbständig und wachsen immer weiter. Ich hab das so gewollt und habe alles angetrieben. Die Maschine ist in Gang gekommen. Ich halt den Rahmen. Je mehr wächst, desto wachsamer muss ich sein, dass es zusammenpasst und zusammengehalten wird. Und je doller die Anwüchse zunehmen, desto klarer brauche die Arretierung auf mein Gefühl und Besinnung auf das, was wirklich tragbar ist und in Eines fließt. Ich glaube, meine Rolle ist unsichtbar. Sie muss berechnen, umreißen, verantworten und sagt ja, nein, später und manchmal ist eine Begründung nicht möglich oder passt nicht in ihre Fragen und Vorstellungen. Ich bin müde.


Heute sind wir bei der U-Untersuchung für das fünfte Lebensjahr und wie bei den letzten klappere ich alles mit dem Arzt ab, was klappt und kein Thema ist. Mir kommt es hier manchmal so leicht vor. Wenn wir hier sind, dann gelingt uns alles. Trotzdem sage ich was, als er noch fragt, ob es etwas gäbe, was mir Sorgen bereitet. Mara spricht immer wieder davon, dass der Bauch weh tut, sag ich. Das nehme ich oftmals nicht ernst, weil sie munter ist und weil der Tag dann weiter läuft, ohne dass sie auf den Schmerz besteht. Wenn sie wirklich krank ist, sei es schon klar und deutlich. Er fragt weiter, ob der Po jucke et cetera, ich sage nein, nach dem Nein schließt sich ein Zögern ein und dass ich einräume selten. Nicht besorgniserregend, aber es ist doch, als würde ich mich erinnern, wie es manchmal von ihr auch bemerkt würde, als eine mir schon bekannte Szene. Ich bewundere den Arzt, weil er so in sich ruhig und klar ist. Er ist bestimmt und sanft, so wie ich gar nicht bin und wie ich in einem kleineren Ausmaß sein will. Ich will ihm nichts ab, ich genieße jedes Gespräch mit ihm, seine Wirkung auf mich. Die Beruhigung, wann immer es um die Gesundheit meiner Kinder geht, bestimmt meine Zuversicht über ihre weitere Entwicklung, zumindest die körperliche Entwicklung. Aber auch als ich das eine Mal mit ihm über Joschas Person und wie die im Kindergarten funktioniert, sprach, sagte er einen so gültigen Satz, der sich über ein Jahr zieht jetzt. Ich kann den Satz nicht ganz deuten, aber er funktioniert – manches braucht einfach Zeit und dann entwickelt es sich.


Vorhin als ich mit Joscha von der Probe des Krippenspiels komme, hat er gleich alles verstanden. Dass ich außer mir war, weil er ins Mikrofon blöde Wörter sagt und Geräusche, wegrennt. Wir versöhnen uns instantly, dabei kann ich ihn in der Kirche kaum greifen. In der Kirche sehe ich uns als überfordertes System und weiß nicht, ob ich, ob wir beide oder alle Anwesenden innerlich kollabieren. Ich mag mich nicht, wenn ich außer mir bin, aber ich spüre auch, dass es das braucht, dass wir alle so einen Zugriff aufeinander haben. Ich lasse es zu, mich nicht zu mögen und ich zu sein. Als wir im Regen den Weg zurück gehen und ich den Schirm in die Hecke haue und mir eigentlich wünsche, mindestens in Kauf nehme, auch etwas gehässig, lauernd, dass der Schirm kaputt geht, lass ich auch etwas los – lass die Überforderung los. Und da wird’s verständlich für die Kinder. Es ist gut, wenn wir beide wütend sein können und kontrollfrei, er und ich. Abwechselnd, dann können wir uns einzäumen.


Der Arzt sagt wegen der Bauchschmerzen, dass er gerne einen Ultraschall machen will, das würde vielleicht auch einfach Beruhigung bringen. Mara freut sich, weil sie weiß, dass man beim Frauenarzt als schwangere Mama auch den Ultraschall bekommt und legt sich bereit hin. Er fragt sie trotzdem immer, auch Ankündigungen sind fragend, sind sanft. Ich spüre, dass er auf dem Bildschirm genau Dinge wahrnimmt, misst und sehe auch selbst Gebilde neben dem Grauflimmern. Es ist wie immer bei diesem Bildschirm nur ein sehr loses Gefühl, weil für mich nichts erkennbar ist. Aber sein Blick und die Ausdrucke, die er kommandiert, bedeuten etwas.


Ich stehe in diesen Minuten in der Zeit und es ist mir lieb, wenn es auch nur Sekunden sind, diese Sekunden bin ich außerhalb von allem und sie wiegen schwer. Mir wird bewusst, dass sie in einem Vakuum behalten sind, in dem ich Maras warme Hand halte und alles gut und unbewusst ist, alles heil und sie und ich verbunden, ohne, dass ich bei der Arbeit bin und sie weg von mir, ohne dass ich mich gut oder schlecht fühle, gestresst, überfordert oder beglückt oder wirksam als Mutter oder Vorgesetzte, es ist alles rund und weich. Es ist ohne eine Entscheidung, ohne eine Erkenntnis, ohne das, was er mir gleich sagen kann und dann anschließen könnte: an weiteren Untersuchungen, an einer Überweisung an andere Stellen, an einem Schicksal.


Mara ist warm und dreht sich sofort auf den Bauch, als er sie danach fragt, ihr Gesicht liegt auf der Seite und lächelt. Sie ist so süß.


Er ist wieder, wie er immer ist und sagt, dass bei den Organen alles okay sei. Er sehe, dass sie aktuell viel Verstopfung habe und das sie sicherlich beschäftige. Ungefähr vier Wochen wird sie eine Kur machen, sie bekommt ein Rezept für morgens und abends Pulver, dann könne sie abführen und es ginge leichter. Im Anschluss müsse man sehen, ob es eine längere Kur bräuchte, vielleicht wäre dann auch alles gut. Ich frage nach der Ernährung. Er sagt, Kinder sollen Wunschkost behalten, ich könne dann vielleicht die Lust etwas umlenken, was hinzufügen: Pflaumensaft oder Apfelmus.


Es ist alles machbar, etwas flennt in mir, auch, dass ich es fast nicht angesprochen habe und dann doch und dann in Sorge war und jetzt alles in dem Maße klar wird, wie es so alltäglich ist und behandelbar. Mara sage ich, dass es wichtig war, sie ernst zu nehmen.

Auf der Packung zum Abführmittel sind schöne Delfine aufgezeichnet, ich kaufe es sofort, nachdem sie wieder im Kindergarten ist.



Es klappt eigentlich ganz gut an Weihnachten mit den Krippenspiel. Géraldine hat einen Fuck in Richung seines grinsenden Cousins gesehen, ich nicht, sicher auch nicht der Pfarrer. Später, als ich wieder mit ihm alles durchspreche, sagt er, dass er am Ende seiner Kräfte gewesen wäre, versteh mich doch Mama, nach seinem ersten Theaterstück mit der wichstigsten Rolle.

Ich habe wieder so viel Druck, weil eine Lehrerin seiner Schule in der vierten Reihe sitzt. Wenn ich einkalkuliere, dass die Weihnachtsaufregung, die Geschenke, die Hauptrobe und das Theaterstück alles ineinandergreift, verstehe ich, dass er irgendwann aussteigt und vor dem Altar liegt und sagt ich will schlafen.





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