Arnold - Portrait eines Baums

Skizze zum Thema Natur

von  blauefrau

Gestatten, Arnold mein Name. Viele nennen mich Arnie. Ich wäre jetzt gern nach Arnold Schwarzenegger benannt, weil ich so kräftig bin, aber der Name stammt von Gertrudes Vater, dem ollen Arnold. Gertrude ist die alte Frau, die da vorne auf dem Stuhl sitzt, genau die,  80 Jahre alt, weißhaarig, mit strähnigen Haaren, im unförmigen grünen Kleid, Fettflecken hat es auch, sie klappt jeden Tag um 15.00 Uhr ihren Klappstuhl aus und stellt ihn vor mich hin. Dann setzt sie sich, der Klappstuhl zerbricht fast, ich höre da gerade auch wieder ein Knirschen, doch er hält. Gertrude sitzt dort also und starrt vor sich hin.  Viele denken, dass sie das ist, was man früher verrückt nannte, heute heißt es eigenwillig oder individuell. Dass sie auf mich starrt, wird oft nicht wahrgenommen. Auch die Polizei wurde schon bestellt, weil Gertrude hier saß und auf mich starrte - dabei macht sie nichts anderes als mich anzuschauen.
Ich fühle mich geehrt. Gertrude ehrt mich durch ihre Blicke. Sie lässt sich nicht beirren. Kinder springen um sie herum, lachen über sie, schütten schon mal Wasser über ihre Füße oder bewerfen sie mit Sand. Gertrude schüttelt kurz ihre Füße, wischt den Sand weg und nimmt die Entschuldigungen entgegen, die die Kinder auf Veranlassung ihrer Eltern sprechen mussten. Jedenfalls: Gertrude schaut weiter nach vorn, auf mich, auf meine dicken bauchigen Ringe. Sie wirft mir nie vor, dass ich immer dicker werde, auch nicht, dass ich ein wenig krumm gewachsen bin und immer krummer werde. Ich bin so alt wie sie. Am Tag ihrer Geburt hat Arnold, ihr Vater einen Samen eingesetzt in seinen Garten. Mich, im Werden. Vor mich, in meiner eigenen Pfütze liegend, hat er ein Schild eingepflockt:
Danke für Gertrude
Von Arnold und Auguste
R, 7.5.1940
Auguste und Arnold begossen mich täglich mit Wasser, Arnold anfangs sogar stündlich, heimlich, bis ich fast im Keim erstickt wäre. Er hielt sich dann zurück und überließ Auguste das Gießen. Sie schaukelte die kleine Gertrude im Kinderwagen neben sich hin und her. Ich schaukelte mit. Nach einem Jahr, als ich nicht mehr so stark im Wind schaukelte, stellte Auguste einen Laufstall neben mich, in Reichweite. Manchmal ging sie jetzt auch ins Haus zurück und ließ Gertrude bei mir. Eines Tages schaffte Gertrude es, mich mit ihren pummeligen Händen zu knicken. Arnold fand einen geeigneten Stock, an den er mich band,  und ich richtete mich auf. Auguste schimpfte mit Gertrude, Arnold sagte nichts. Ich weiß, ich bin ein wenig schräg in die Welt gepflanzt, doch ich kann mich nicht beklagen. 1941 hörte ich laute Schüsse, ich hörte eine Bombe einschlagen, mich traf ein Splitter. Seitdem bin ich ängstlich geworden. Ich wuchs trotzdem, schoss hoch auf. Gertrude lachte, wenn sie mich sah. Sie zupfte und riss an mir,  doch es störte mich nicht weiter. Die paar Blattfetzen.
Gertrude und ich wurden fünf Jahre alt. Gertrude band bunte Bänder an meine Zweige und klatschte in die Hände. Als sie zehn Jahre wurde, war mein Stamm braun, ich hatte so einige Jahresringe und war stolz darauf. Gertrude brachte eine Leiter und stieg bis zu meiner Spitze hoch. Dann fiel die Leiter um.


Anmerkung von blauefrau:

September 21

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