Zwischenfall auf der Gegengeraden

Text zum Thema Sport

von  Koreapeitsche

Ein Bekannter aus dem „Medusa“ namens Joe C. bot mir ein Ticket für St. Pauli gegen Hannover 96 an. Er wollte mit dem Auto hin und könne mich mitnehmen. Schließlich fischte er mich am Samstag um 10 direkt am Antiquariat gegenüber von REWE im Knooper Weg auf. Es fuhr noch eine dritte Person mit zum Millerntor, der mal ein paar Jahre in Glasgow gelebt hatte. Wir kamen in einem Rutsch durch, doch bei der Parkplatzsuche gab es Probleme, und wir kurvten die ganze Umgebung ab. Wir parkten schließlich am Rand des Heiligengeistfeldes auf einem kostenpflichtigen Parkplatz, während nebenan der Jahrmarkt tobte. Wir trafen Joe C.’s Bekannte, die uns die Tickets aushändigten. Danach gingen wir ins Stadion. Die zwei tranken Bier, ich einen Kaffee.
Wir stellten uns so ziemlich in die Mitte der Gegengeraden, wo wir eine sehr gute Sicht auf das Spielfeld hatten. Auf dem Platz liefen sich beide Mannschaften und der Schiedsrichter warm. Wir unterhielten uns entspannt, auch mit ein paar Hamburgern, die vor uns standen. Schließlich begann das Zweitligaspiel. Für November war es nicht allzu kalt. Da ich klirrende Kälte befürchtete, war ich dick eingepackt, in schwarzer Bomberjacke mit Gegen-Nazis-Aufnäher, Angelic-Upstarts-Mütze mit rotem Sternchen, Kaputzenpullover und zwei Halstüchern: ein Palästinensertuch und ein bunt gestreiftes Halstuch aus Peru. Während der ersten Minuten trieben Rauchschwaden durchs Stadion. Das wirkte angenehm, denn es war kein schwarzer Rauch, der mir Angst gemacht hätte, weil er mich an brennende Ölfelder erinnert.
      Später brannten bei den Hannoveranern etliche Bengalos direkt oberhalb des Zauns, alle in stechendem Rot. Die Durchsage des Stadionsprechers mit der Aufforderung zur Unterlassung kam sehr spät, als hätte der Sprecher die Sekunden gezählt, um die Durchsage erst kurz vor dem Erlöschen der Bengalos zu beginnen. Direkt nach der Durchsage erloschen sie. 
      Während des Spiels sahen wir kaum gute Spielzüge. Phasenweise war das Spiel zerfahren. Plötzlich fiel wie aus dem Nichts ein Tor für Hannover. Ein Spieler hatte sich von rechts in den Strafraum gedribbelt und von halb rechts ins lange Eck abgezogen. Der Hannoveraner Anhang jubelte frenetisch. Im restlichen Stadion herrschte betretenes Schweigen. Jetzt spielten die St. Paulianer phasenweise Haifischfußball, indem die ballführenden Hannoveraner wieder und wieder angegrätscht wurden, zum Teil direkt von vorne, was dem Spiel jegliche Ruhe und den Spielfluss raubte. Von konzentriertem Spielaufbau keine Spur. Die Sonne schien kräftig, auch wenn wir hier im Schatten standen. Plötzlich kam es zu einem Zwischenfall.
Ein Japaner in Reihen der Hannoveraner beging ein Foulspiel auf unserer Spielfeldseite nahe der Mittellinie, im Prinzip direkt vor unseren Augen. Das war nichts Dramatisches, denn das Foulspiel war harmlos. Doch da das Spiel nicht sofort fortgesetzt wurde, verloren sich einige Zuschauer in Beleidigungen gegen den Spieler, der  Foul gespielt hatte. Als ich hinter mir plötzlich den Ausruf „du Sushi“ vernahm, platzte mir der Kragen. Ich drehte mich um und rief „Was soll das?“ Ich sah betretenes Schweigen. Ich rief: „Weshalb beleidigst Du den Spieler rassistisch?“ Doch der Stadionbesucher sagte kein Wort und schien sich auch noch zu freuen. Niemand stand mir bei. Stattdessen hieß es „Das Spiel geht weiter!“ und „Ist doch halb so schlimm!“ Diese rassistische Äußerung wurde von den Umherstehenden stillschweigend akzeptiert, sodass ich wie ein Idiot da stand, weil ich mich als einziger beschwerte. In mir kochte das Blut. Ich sagte noch „Solchen Leuten müsste man sofort aufs Maul hauen“, und konzentrierte mich wieder aufs Spiel. Jetzt bemerkte ich, dass der Japaner in der Folgezeit im näheren Umkreis unserer Stehplätze ausgepfiffen und ausgebuht wurde. Der Spieler unten auf dem Platz wirkte sichtlich irritiert, zumal sich das Geschehen weiterhin nahe dem Seitenaus an der Mittellinie abspielte. Es wirkte, als hätte eine einzige rassistische Äußerung eine neue Atmosphäre im Stadion erzeugt, sodass die Stimmung völlig kippte. Der Japaner war wegen eines einzigen harmlosen Fouls der Buhmann des Spiels. Das empfand ich als unfair. Ich war unglaublich enttäuscht, so etwas bei St. Pauli zu erleben und umso mehr, dass es keine Solidaritätsbekundungen der Umherstehenden gab, als ich intervenierte. Ich überlegte, das Stadion zu verlassen. So groß war die Enttäuschung. Ich war immer St. Pauli-Sympathisant, selbst dann, wenn St. Pauli nicht an erster Stelle für mich kam. Ich kenne sogar Spieler, die früher für St. Pauli gespielt hatten. Einer war auf meiner ehemaligen Schule, und ich hatte Trainingsspiele gegen ihn in meinem alten Verein. Gegen einen anderen Ex-St.-Paulianer spielte ich mehrmals im Jugendbereich. Als Jugendspieler hatte ich außerdem mal an einem Großturnier am Millerntor teilgenommen, das auf den Nebenplätzen ausgetragen wurde.
      Es gab zwar immer wieder Erzählungen, dass es im Stadion rechtsradikale St.-Pauli-Fans gebe. „Das Problem ist doch bekannt,“ hieß es. Ich hielt diese Berichte für Spinnerei und absichtliche Rufschädigung und konnte das nicht wirklich glauben. Bis ich das an diesem Tag vor Ort im Stadion erlebte.
In der Halbzeitpause blieben wir auf der Tribüne und verließen die Stehplätze nicht. Wir sprachen noch einmal über den Zwischenfall. Ein Fan, der vor uns stand, blendete sich ein, ich könne den Vorfall bei einem Ordner melden. Der würde den Übeltäter zur Rechenschaft ziehen. Das erschien mir jedoch jetzt eine halbe Stunde später zu stressig, zumal mir zuvor die Solidarität der anderen Stadionbesucher fehlte.
Schließlich begann die zweite Halbzeit. Um es kurz zu machen: Die zweiten 45 Minuten waren noch schlechter als die ersten. Leider kam es während der zweiten Halbzeit zu weiteren rassistischen Äußerungen. Ich hörte den Begriff „Kümmelmannschaft“ und unmittelbar danach das Wort „Kanaken“. Da zerbrach in mir eine Welt. Ich bin mir nicht sicher, ob es dieselbe Person wie zuvor in der ersten Hälfte war, denn die Beleidigungen kamen jetzt aus einer anderen Richtung, ein paar Meter weiter links hinter uns. Nur halbherzig erwiderte ich etwas, wie „Was soll das?“ oder „Ist denn mal gut?“ Ich hatte mein Pulver bereits während der ersten Hälfte verschossen. 
      Hannover gewann am Ende mit 1:0. Mit Ertönen des Schlusspfiffes wirkten beide Mannschaften, als hätten sie ein Champions-League Finale bestritten. Die Spieler der einen Mannschaft ließen sich enttäuscht auf den Boden auf den Rücken fallen, als hätten sie alles aus sich herausgeholt und unglücklich verloren. Die anderen fielen nach vorne auf die Knie und reckten die Arme in den Himmel als hätten sie etwas für die Ewigkeit erreicht. Das fand ich übertrieben.
Im Auto sprach ich nicht mehr viel, aß mit Joe C. in Kiel noch eine Falafel und ging frustriert nach Hause. Ich erwog ernsthaft, nie wieder ins Millerntorstadion zu gehen. Eine solche Entscheidung hatte ich bereits vor Jahren für Hertha BSC getroffen, nachdem ich Zeuge mehrerer rassistischer Vorfälle durch Hertha-Fans wurde. 
In meiner Wohnung fasste ich den Entschluss, via Facebook an St. Pauli zu schreiben, um mich über die rassistischen Äußerungen zu beschweren. Deshalb verfasste ich das folgende Schreiben:

Guten Tag.
Der Stadionsprecher hat den Spieler Genki Haraguchi mit dem Namen Gecko angesagt. Das kann mal passieren, sofern es keine Absicht war. Ich stand auf der Gegengeraden. Im Verlauf des Spiels beleidigte ein Zuschauer ebendiesem Spieler Haraguchi mit "du Sushi". Ich intervenierte sofort und fragte was das soll. Andere Stadionbesucher im Umkreis sagten, das Spiel ginge weiter und das meint der nicht so etc. Niemand bestätigte mich, dass man einen japanischen Spieler nicht "Sushi" nennen darf, denn das ist eindeutig rassistisch. Als ich kontra gab, solidarisierte sich nicht ein einziger umherstehender Stadionbesucher mit mir. Es gab noch weitere rassistische Äußerungen wie „Kümmelmannschaft“ und „Kanaken“. Ich bin aufgrund dieser Vorfälle sehr enttäuscht. St. Pauli gehörte immer zu den von mir favorisierten Vereinen. Ich werde bis auf Weiteres das Stadion nicht mehr betreten.
Mit Grüßen aus Kiel

Das Schreiben blieb leider bis auf den heutigen Tag unbeantwortet.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (10.11.21)
Der ursprüngliche Kommentar wurde am 12.11.2021 um 13:23 Uhr wieder zurückgezogen.

 Dieter_Rotmund (10.11.21)
Der Protagonist hat "via Facebook" an (die Fußball GmbH) St. Pauli geschrieben? Was willst Du uns damit sagen? Dass er etwas einfach gestrickt ist?

Mich irritieren die vielen unnötigen Details im ersten Drittel - was sollen diese bezwecken?

Reichlich gekürzt könnte noch ein stimmiger und stimmungsvoller Text entstehen, finde ich.

 Koreapeitsche meinte dazu am 10.11.21:
Ist der Protagonist einfach gerstrickt, wenn er sich via FB an den FC St. Pauli wendet? Ist FB das falsche Medium? (The medium is the message?)

Es soll doch nur auf die missglückte Kommunikation hingewiesen werden.

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 10.11.21:
Ja, ist er, Facebook ist falsche Medium.

Das mit der missglückten K. würde ich daher anders ausdrücken .

Nachfrage: Wozu die vielen, vielen Details, vor allem im ersten Drittel des Textes?

 Koreapeitsche schrieb daraufhin am 12.11.21:
Missglückte K.?

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 12.11.21:
Wie du schriebst: "missglückte Kommunikation".

 Koreapeitsche ergänzte dazu am 12.11.21:
Weshalb? Wenn es zu einer Kontaktaufnahme per Message kommt und keine Reaktion erfolgt, dann ist das doch eine missglückte Kommunikation, oder? Oder eine verhinderte Kommunikation? Weigerung? Techn. Problem? Hyperonym wäre auf jeden Fall "missglückte Kommunikation".

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 15.11.21:
Ein Facebook-Post ist keine "Message", oder?

Was du beschreibst, ist so etwas wie ein "offener Brief", aber der muss natürlich auch direkt an die Angesprochenen gehen.

Wieso ist der Protagonist nicht clever genug, den Facebook-Post auch als Mail an den Fußballclub zu schicken? Oder von mir aus als richtiger Brief per Schneckenpost? Dafür kann er dann gleich den passenden Ansprechpartner raussuchen. Ein Facebook-Post ist nur in den Wind gepupst.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 15.11.21:
Offen bleibt auch die Frage, was die vielen, vielen Details, besonders im ersten Drittel, für einen Zweck haben sollen?

 Koreapeitsche meinte dazu am 15.11.21:
Dann ist das ein Missverständnis. Bei dem zitierten Text handelt es sich nicht um einen Kommentar, sondern um eine Message via FB-Messenger an den FC St. Pauli.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 15.11.21:
Achso, kenne ich gar nicht. Ist sich der Prot. sicher, dass der FC das auch liest? Ich kann dir aus meiner beruflichen Erfahrung als Sportjournalist sagen, das Message via FB-Messanger kein übliches Kommunikationsmittel ist. Wie kommt man darauf, dass dies eines sei?
Wieso wendet er sich nicht an einen dieser sog. Fanbeauftragten? Sind die nicht dafür da?

P.S: Details?

 Koreapeitsche meinte dazu am 15.11.21:
Wollen Sie mich jetzt in die Mangel nehmen? ;)

Antwort geändert am 15.11.2021 um 22:29 Uhr

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 15.11.21:
Den Text! Texte werden hier in die Mangel genommen, nicht deren Verfasser!

 Koreapeitsche meinte dazu am 16.11.21:
Das mit den Details ist deshalb, weil ich den Vorfall gleich nach der St.-Pauli-Fahrt niedergeschrieben habe, als die Eindrücke noch relativ frisch waren. Deshalb kann ich mich an die vielen Einzelheiten erinnern. Ein paar Details habe ich ja schon auf Dein Drängen hin gelöscht.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 16.11.21:
Ja, ist schon besser. ist aber immer noch etwas zu viel, finde ich.
Die Stelle "direkt am Antiquariat gegenüber von REWE im Knooper Weg" finde ich übrigens gut, das verleiht Lokalkolorit und Glaubwürdigkeit. Dass zwei Bier tranken und einer Kaffee ist hingegen sehr banal.

 Koreapeitsche meinte dazu am 16.11.21:
An der Stelle hatte ich auch gekürzt, vorher hieß es "die zwei tranken Bier, ich trank einen Kaffee aus einem Kinderbecher." Das hielt ich für wichtig, zumal ich im Stadion genervt war, dass ich den teuren Kaffee in einem kleinen Kinderbecher bekam, wie es sie sonst im Kindergarten gibt. Der Kaffee war wohl auch nicht besonders gut. Das müsste ich noch mal im Tagebuch nachschlagen.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 16.11.21:
Was dich persönlich genervt hat, interessiert den Leser vielleicht gar nicht? Ich würde mich ganz von der Authentizitätsfokusierung lösen und mich bemühen, Distanz zum Lyrich zu schaffen und dem Leser zugewandt versuchen, eine unterhaltsame Geschichte zu erzählen, mit Fokus auf den spannenden Sachen!

 Artname meinte dazu am 23.11.21 um 11:15:
Lieber Dieter, 


Ich würde mich ganz von der Authentizitätsfokusierung lösen und mich bemühen, Distanz zum Lyrich zu schaffen und dem Leser zugewandt versuchen, eine unterhaltsame Geschichte zu erzählen, mit Fokus auf den spannenden Sachen!
Also mich unterhält diese Geschichte sehr! Was fehlt dir denn?

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 23.11.21 um 14:15:
Wie schon gesagt, es ist viel eher ein "Zuviel" als ein "Zuwenig".

 Artname meinte dazu am 23.11.21 um 16:41:
@Dieter, siehst du keinen Unterschied darin, ob 

a) ein Medium möglichst zeitnah und neutral über ein Sportereignis berichtet
b) oder ein User in einem Forum über ein  ihn empörendes persönliches Erlebnis schreibt - mit allen stilistischen und sonstigen individuellen Merkmalen? 

Ich lese sehr selten, welcher Profi welches Sportereignis kommentiert, da für mich bereits „Neutralität“ eine einkalkulierte Lüge ist . 

Aber hier steht Fußball nur scheinbar im Vordergrund, sondern das Denken und Handeln eines Zuschauers. Und DAS kann von Details beeinflusst worden sein, die nur ER fühlt, ahnt oder gar weiß!

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 23.11.21 um 17:11:
Ja, Neutralität ist nicht gegeben, aber das Bemühen um etwas Objektivität ist aller Ehren wert.

Was fühlt er denn so, wenn er an der Kreuzung soundso parkt und einen braunen (nicht weißen!) Kaffeebecher dabei hat?

Die Details müssen geschickt platziert werden, hier ist weniger mehr!

 Artname meinte dazu am 23.11.21 um 20:20:
Lieber Dieter, vielleicht ist dir mal aufgefallen, dass ich dir oft zur Seite stand, wenn deine formalen Bedenken im Forum Widerstand weckten. Und auch in diesem Falle kann ich deine Argumente gut verstehen.

Aber für mich  zählt zu fiktiven Werken eben auch der individuelle Erzählstil! Nimm doch mal „Pulp Fiction “ von Tarantino. Ich bin überzeugt, dass gerade die  vielen banalen Einlassungen der beiden Killer unmittelbar vor und nach ihren Morden zum Welterfolg des Filmes beitrugen. 

Klar ist in unserem Falle die Erzähl-Struktur etwas anders geartet, aber trotzdem nehme ich hier die von dir gerügte Redundanz  vergnügt wie ein mehr oder weniger bewusst benutztes Stilmittel wahr . Dieses Vergnügen leiste ich mir - und täte das auch sonst niemand unter Gottes Sonne!  :D

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 24.11.21 um 01:35:
Also das mit dem "individuellen Erzählstil" kann auch ganz schnell nach hinten losgehen. Nämlich dann, wenn der Autor sich in diesem Stil zu sehr verliebt und dann geht es schnell nur noch darum. Das ist dann so, wie wenn ein Regisseur in seinem eigenen Film auftreten würde und dort erzählen, wie individuell toll der Film doch sei.
Bei Koreapeitsche ist es ja hoffentlich/offensichtlich noch nicht so weit...
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram