Die hingestreckte Frau des Federico García Lorca

Essay zum Thema Kritik/ Kritiker

von  Roger-Bôtan

Casida de la mujer tendida, zu Deutsch Kasida über die hingestreckte Frau des berühmtesten spanischen Lyrikers Federico García Lorca wirft Fragen auf, so als wäre das kein Gedicht, sondern ein Knobelspiel, eine regelrechte Denksportaufgabe. Wortwörtlich übersetzt, bleibt der Text genauso unverständlich wie die Originalfassung.

Es wird angenommen, dass das eigentliche Thema dieser Kasida die völlig banale und herkömmliche Bumsbeschäftigung ist. Vielleicht. Aber wo ist der Ficker geblieben? Der Leser hat nur eine nackte Frau vor Augen, und auch das nur dank dem Titel. Was ihren vermutlichen Liebhaber betrifft ­– Fehlanzeige.

Um genauer zu sein, wenn man alle vier Strophen gelesen hat, entsteht der Eindruck, es gäbe eine Unmenge von Liebenden in den vielen „Schlafzimmern“, wo „das Blut ertönen wird“. Aber auch hier kann man nicht sicher sein, ob der Plural Schlafzimmer (las alcobas) nicht im übertragenen Sinne verwendet wird.

Das Gedicht besteht fast ausschließlich aus Gleichnissen und Metaphern. In der ersten Strophe wird die nackte Frau mit der Erde verglichen, wobei das Wort für „Frau“ (mujer) gar nicht gebraucht wird:

 

Verte desnuda es recordar la Tierra.

La Tierra lisa, limpia de caballos.

La Tierra sin un junco, forma pura

cerrada al porvenir: confín de plata.

 

Dich nackt zu sehen ist wie sich an die Erde zu erinnern,

die glatte Erde, die rein von Rossen ist,

die Erde ohne eine einzige Binse, reine Form,

die der Zukunft verschlossen ist: Grenze des Silbers.

 

Welch ein Quatsch, nicht wahr? Man fühlt sich irgendwie so ziemlich verarscht.

Da aber dieses Gedicht für ein Meisterwerk ersten Grades gehalten wird, versuchen wir mal, dem versteckten Sinn auf den Grund zu gehen, wenn das überhaupt möglich sein sollte.

Die daliegende Dame sieht aus wie die glatte Erde – das hieße wohl: Sie ist noch Jungfrau, bis dato noch von keinen Kerlen („Rossen“) berührt. Wahrscheinlich ist sie epiliert: ihre Haut hat keine „Binsen“ (sin un junco).

Was die „reine Form“ angeht, so denke ich dabei an eine Gießform – nur so versteht sich das „Silber“ (plata) in der letzten Zeile: Die Gießform ist schon verschlossen und wartet darauf, mit geschmolzenem Silber gefüllt zu werden. Geht es dabei um die befruchtende Substanz gleicher oder ähnlicher Farbe?

In der zweiten Strophe handelt es sich um leidenschaftliche Gefühle, die das Bild der nackten Frau hervorruft.

 

Verte desnuda es comprender el ansia

de la lluvia que busca débil talle

o la fiebre del mar de inmenso rostro

sin encontrar la luz de su mejilla.

 

Dich nackt zu sehen ist wie die Sehnsucht

des Regens zu verstehen, der eine schwache Taille sucht,

oder das Fieber des Meeres mit Riesengesicht,

das das Licht seiner Wange nicht findet.

 

Die Erde als Inbegriff des Weiblichen – eine uralte Vorstellung, wie auch die vom „Regen“, Symbol der Männlichkeit, der sich nach dem Weiblichen (nach der „weichen Taille“, débil talle) strebt. Mutter Erde und Vater Himmel der Mythologie – Juppiter, Zeus – das sieht ganz nach einer klassischen Antithese aus. Man vergleiche zum Bleistift diese Stelle aus Aeschylus:

 

μᾶ Γᾶ μᾶ Γᾶ, βοὰν

φοβερὸν ἀπότρεπε,

πᾶ, Γᾶς παῖ, Ζεῦ.

 

(Αἰσχύλου Ἱκέτιδες 899-901).

 

Das fieberhafte Meer ist ein Gleichnis, das ein weiteres Gleichnis nach sich zieht: Ein riesiges Gesicht, so aufgeregt, dass es seinen normalen Geisteszustand nicht wiedererlangen kann. Und der normale Zustand wird als „das Licht seiner Wange“ (la luz de su mejilla) definiert.

Das wirkt bizarr, aber ähnliche Tropen kommen auch bei anderen Dichtern vor. Ich frage mich, ob Lorca Byron gelesen hatte. Möglich wär’s.

Man vergleiche:

 

There mildly dimpling, Ocean’s cheek

Reflects the tints of many a peak

Caught by the laughing tides that lave

These Edens of the eastern wave...

 

(The Giaur).

 

Die Wange ist nun mal eine glatte Stelle, besonders bei jungen Frauen. Oder kann vielleicht das Meer (d. h. der Liebhaber) nicht seine eigene, sonder die Wange seiner Geliebten nicht wiederfinden?

 

Die dritte Strophe versetzt uns in die Zukunft.

 

La sangre sonará por las alcobas

y vendrá con espada fulgurante,

pero tú no sabrás dónde se ocultan

el corazón de sapo o la violeta.

 

Das Blut wird in den Schlafzimmern erklingen

und es wird blitzartig wie ein Schwert kommen,

aber du wirst nicht wissen, wo sich

das Herz der Kröte oder das Veilchen verbergen.

 

Na klar, das wird passieren.

Das geile Blut wird kochen und der Orgasmus wird auf sich nicht warten lassen – er wird wie ein Schwert – ein phallisches Symbol – „kommen“ (vendrá).

Aber wo wird das geschehen? Nicht dort, wo die Frau sich aufhält. Wir wissen nicht einmal, ob sie in einem Schafzimmer herumliegt oder woanders.

Vielleicht in den Schlafzimmern desselben Gebäudes? In allen Schlafzimmern der Welt? Hat der Dichter die ganze Welt, die Erde und den Himmel gemeint? Da ist was dran. Wenn es zum Höhepunkt kommt, wird wohl die wie vom Blitz getroffene Frau –  oder die Erde, oder beides – vor lauter Ekstase nicht wissen, was da vor sich geht: Sie wird das „Krötenherz“ von einem „Veilchen“ nicht unterscheiden können. Was steckt hinter diesen unerwarteten Tropen?

Die Kröte kann die absolute Hässlichkeit versinnbildlichen:

 

« Quand on observe la nature, on y découvre les plaisanteries d’une ironie supérieure : elle a, par exemple, placé les crapauds près des fleurs. »

(H. de Balzac, Massimilla Doni).

 

Das Veilchen hingegen steht für die Bescheidenheit. Violette bedeutet ‘eine bescheidene Person’ im Französischen, im Spanischen möglicherweise auch. Im Plural aber heißt dasselbe Wort ‘bläuliche Flecke am Gesicht eines Sterbenden’ – wiederum im Französischen.

Also sie ­– die Frau-Erde oder Erde-Frau – wird wohl sich nicht im Klaren sein, ob sie noch lebt?

Nebenbei gesagt, sapo heißt nicht nur ‘Kröte’, sondern auch ‘Vulva’. Bei Lorca konnotiert es ab und zu dem Tod.

Und wo zum Kuckuck „verbergen sich“ das „Krötenherz“ und das „Veilchen“? In der Erde selbstverständlich, die durch den „Regen“ fruchtbar gemacht wird. Womöglich sind es nur Samen und Keime.

 

Der abschließende Vierzeiler bringt uns aus der hypothetischen Zukunft zurück in die Gegenwart.

 

Tu vientre es una lucha de raíces,

tus labios son un alba sin contorno,

bajo las rosas tibias de la cama

los muertos gimen esperando turno.

 

Dein Bauch ist ein Kampf der Wurzeln,

deine Lippen sind eine Morgendämmerung ohne Umrisse,

unter den lauwarmen Rosen des Bettes

stöhnen die Toten, auf ihre Reihe wartend.

 

Ja, ich hatte wohl recht.

Die Kasida erzählt uns mehr über die Erde und die Natur, als über die nackte Frau, die übrigens nicht besonders deutlich beschrieben wird. Quatsch. Sie ist absolut undeutlich. Man kann nicht sicher sein, ob Lorca eine echte nackte Frau vor Augen hatte oder nur ein Bild an der Wand. Die Natur hingegen ist in jeder Strophe präsent. Die „Wurzeln“ sind eher echte Wurzeln als metaphorische. So auch die Morgenröte. Und die „Rosen des Bettes“ sind eher Rosen auf dem Blumenbeet, en la cama de flores, als auf dem Bett, wo das Liebesgeschäft vollbracht wurde.

Und was könnten wir mit den „Toten“ anfangen? Na, tot sind nicht nur die gestorbenen Lebewesen, in gewissem Sinne sind es auch die ungeborenen, die Keime, die Samen, die Larven, die in der Erde begraben liegen und darauf warten, endlich zu entstehen. Ganz tot sind sie allerdings nicht, deswegen „stöhnen“ sie.



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Kommentare zu diesem Text


 LottaManguetti (21.12.21, 09:16)
Eine Sichtweise, die der Zartheit des Gedichtes von García Lorca nicht gerecht wird. Mir scheint hier eher eine aggressive Sichtweise zum Ausdruck zu kommen, die mglw. auch der gegenwärtigen Ausrichtung vieler Mitmenschen entspricht. Hier bahnen sich Wut und Abneigung ihren Weg, die sich mal gegen jenes, mal gegen jene richten. Untermauert mit abwertenden Begriffen ist diese Kritik kaum als Kunstbetrachtung ernstzunehmen. Sie wird dem Werk in nichts gerecht und dokumentiert allein den inneren Widerstreit mit sich selbst des hier Schreibenden.
Kurz: Der Empfindsamkeit García Lorcas steht die brutale Entfremdung eines heutigen Kritikers gegenüber. Soll das der Zeitgeist der unsrigen Tage sein? Es scheint so.

Lotta

Kommentar geändert am 21.12.2021 um 09:17 Uhr

Kommentar geändert am 21.12.2021 um 09:26 Uhr

 Roger-Bôtan meinte dazu am 21.12.21 um 12:49:
Zärtlichkeit? Hmm. Wie wär’s mit ein Bisschen Musik?
 https://www.youtube.com/watch?v=OSo9HSCxCC4
Hört sich das zärtlich an?

 nadir antwortete darauf am 21.12.21 um 13:48:
es ist natürlich sarkasmus, der dich antreibt, ich fand es amüsant, auch wenn es dem gedicht wirklich nicht gerecht wird.


Antwort geändert am 21.12.2021 um 13:49 Uhr

 Roger-Bôtan schrieb daraufhin am 22.12.21 um 11:22:
Anstatt den Kritiker zu kritisieren, Leute, schlagt eine bessere Auslegung vor.

Übrigens, dass die Kasida einen Coitus beschreibt, ist nicht meine Idee. Ich weiß beim besten Willen nicht, was sie überhaupt beschreibt. Wusste es Lorca? Wissen es seine Fans? Das bezweifle ich.
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