Brauchen die Menschen noch Kirche?

Essay zum Thema Religion

von  Regina

Traditionen, die viele Jahrhunderte überdauerten, ohne kritisch unter die Lupe genommen worden zu sein, tendieren heute dazu, sich aufzulösen. Auch die beiden großen Kirchen in Deutschland verlieren an Akzeptanz. Kirchenaustritte nehmen zu. Gottesdienste und der Empfang der Sakramente halten viele für altbacken und nicht mehr zeitgemäß. Verwunderlich erscheint es, dass dabei die evangelische Kirche mehr gegen Un- und Andersgläubige eifert als der altkonservative Katholizismus, Erbe der Inquisition. Aber bei näherem Hinsehen entbehrt diese überraschende Feststellung nicht der Logik.

So basieren katholische Austritte häufig auf Skandalen, die aufgedeckt wurden, weniger auf Abfall vom Glauben. Das Fußvolk möchte sich nicht mehr von pädophilen Hirten leiten lassen, die das Priesteramt zum Ausleben ihrer niederen Triebe missbrauchen. Auch Exorzismustote werden nicht mehr widerspruchslos hingenommen, wenn diese Fälle auch seltener vorkommen als die sexuellen Entgleisungen unfähiger Priester oder anderer Mitarbeiter im göttllichen Auftrag. Noch weniger häufig geht es um Finanzskandale wie im Fall des verschwenderischen Bischofs Franz Peter Tebartz van Elst. Symptomatisch für Krisen der katholischen Kirche sind also Ereignisse, die sich innerhalb der Gemeinschaft abspielen, meist Verfehlungen von Personen. Vertuschung sittenwidrigen Verhaltens geht nicht mehr, weil das Bewusstsein sensibler und die Informationsverfügbarkeit umfassender geworden sind, so dass Widrigkeiten schneller entdeckt werden und ausgemerzt werden müssen.

Etwas anders sehen die Akzeptanzprobleme der evangelischen Kirche aus, die ohne zölibatär lebende Geistliche auskommt. Diese Schwierigkeiten treten eher von außen an die Institution Kirche heran. Protestantismus, einst selbst eine Abspaltung der Mutterkirche, sieht sich seit Jahrzehnten mit einer Vielzahl von neuen Gruppen, Sekten, Weltanschauungen und Bewegungen konfrontiert, die im Werben um Kirchgänger als Konkurrenz auftreten. Auf der Suche nach Höherentwicklung trifft die Seele auf vielerlei Angebote, die auf den ersten oder auch zweiten Blick attraktiver erscheinen als der Kirchgang im Sonntagskleid, das Gesangbuch unter dem Arm. Mit schwungvollerer Musik und hellseherischem Charisma warten da Erweckungsbewegungen auf. In anderen Kreisen kann das Chakrensystem geboostert werden, es buhlen Esoterik, spirituelle Einweihung oder die schaurige Unterwelt des Okkultismus um die Psyche, mehr oder weniger kostspielige Erlebnismobilisationen, wie sie die Kirche nicht zur Verfügung stellt. Daneben gibt es seit den Siebzigern eurohinduistische Kulte, wo sich die Eleven zu Füßen eines Gurus niederlassen, der das Bewusstsein auf mehr oder weniger heilsame Weise meditativ bearbeitet. Die Leute können dem Buddhismus, dem Taoismus oder dem Zen anhängen, um dort einen Meister für ihren Aufstieg zu finden oder auch einem Schamanen die Sorge für ihre Gesundheit anvertrauen und vieles mehr. Exotisches, Historisches, Absurdes und Neues steht auf dem Programm, häufig mit dem Anspruch, die intelligentere Wahrheit zu vertreten und die Kirchen ihrerseits auf ihren Mängeln sitzen zu lassen.

Hier sollen nun alle diese Rituale und neuen Glaubensformen nicht auf ihr Für und Wider hin untersucht werden, denn damit beschäftigt sich ja der evangelische Sektenbeauftragte. In seinen Broschüren kann nachgelesen werden, auf welche Art und Weise jede einzelne dieser Richtungen als gefährlich angesehen wird und Fehler begeht, die sie vom wahren Glauben abtrünnig werden lassen, welcher in der christlichen Gemeinschaft verortet wird. Ob diese Sicht keine befangene sei, mag dahingestellt bleiben. Das hohe Aufkommen im Wettbewerb um die Seelen bereitet der evangelischen Kirche Kopfzerbrechen und lässt ihr die Schäflein wegrennen.

Freilich gibt es auch Leute, die sich nach längerem Nachdenken einer atheistischen Denkweise anschließen. Lenin und Marx erfreuen sich zwar zurzeit nicht gerade der Hochkonjunktur der Beliebtheitheitsgrade, eher schon eine selbstgeschneiderte Haltung der Ablehnung kirchlich-religiöser Praxis oder aber Agnostizismus. Selbstredend sieht auch in diesen Fällen die Begeisterung für den traditionellen Kirchgang eher mager aus.

Die Gesellschaft zerfällt so in vielerlei Gruppen, Grüppchen und Bewegungen pluralistischer Varianten. Es bleibt die Frage, ob die Menschenseelen die Kirchengemeinden und die Sakramente noch brauchen, die ihnen Heimat, Kontakte, gesellschaftliche Stabilität, Solidarität und karitative Unterstützung gesichert hatten, bis sie sich auf den Weg machten, nach der Erfüllung ihrer spirituellen Sehnsucht zu suchen, einem Ziel, das immer öfter außerhalb der Kirchenmauern zu finden sein würde.



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Kommentare zu diesem Text

Agnete (66)
(27.06.22, 15:05)
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 Regina meinte dazu am 27.06.22 um 15:41:
Danke, das sind Aspekte, die es auch zu bedenken gibt. LG Gina
Taina (39)
(27.06.22, 16:07)
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 Regina antwortete darauf am 27.06.22 um 17:15:
Hier, lies:
https://theologe.de/sektenbeauftragter.htm#:~:text=Dr.%20Wolfgang%20Behnk%2C%20der%20so%20genannte%20%22Sektenbeauftragte%22%20der,gegen%20deren%20Einrichtungen%20er%20entsprechend%20zu%20Felde%20zog.

 Regina schrieb daraufhin am 27.06.22 um 17:18:
In der Tat, Taina, manche Sekten sind gefährlich und lassen Mitglieder nicht raus. Demgegenüber gibt es evangelische Sektenbeauftragte, die über das Ziel hinausschießen.
Taina (39) äußerte darauf am 28.06.22 um 12:53:
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 Regina ergänzte dazu am 28.06.22 um 20:12:
die EZW hat seitenweise Organisationen und Methoden aufgelistet, die sie kritisch beschreibt und bewertet. Das ist interessant, aber nicht objektiv, nämlich aus dem evangelischen Blickwinkel gesehen. Wir würden uns hier aber übernehmen, wollten wir das alles einzeln hinterfragen.
Taina (39) meinte dazu am 28.06.22 um 21:45:
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 Regina meinte dazu am 28.06.22 um 21:51:
Doch, kannst du machen, aber dann bist du die nächsten paar Jahre beschäftigt, weil das so viele sind.

 Verlo (27.06.22, 16:29)
Ja, Menschen brauchen noch Kirchen.

Nicht nur für ihren Glauben, sondern auch als Kulturgut.

Ich habe nicht einmal in einer Kirche gebetet, aber ich habe unzählige Kirchen und Dome besucht.

 Regina meinte dazu am 27.06.22 um 17:20:
Ja, die architektonische Ästhetik und die Kunstwerke, die sich in den alten Kirchen befinden, gehören zum Kulturgut.

 Verlo meinte dazu am 27.06.22 um 21:25:
Regina, die Kirchen selbst bitte nicht vergessen.

 Dieter_Rotmund (27.06.22, 16:31)
Gut und flüssig geschrieben.

 Regina meinte dazu am 27.06.22 um 17:04:
Danke, Dieter, das Lob freut mich.

 EkkehartMittelberg (27.06.22, 19:46)
Hallo Gina,

es wird immer Menschen geben, die in den kirchlichen Ritualen und in der Gesellschaft der dort versammelten Gläubigen Halt finden. Aber die seit vielen Jahren andauernden Austritte sind kein  Modetrend und offensichtlich unumkehrbar, weil an Demokratie gewohnte Menschen nicht mehr in ihrem Glauben autoritär gegängelt werden wollen.

LG
Ekki

 Regina meinte dazu am 27.06.22 um 19:57:
Ja, die Freiheit der Wahl macht es. Danke für Empfehlung und Kommentar. LG Gina

Antwort geändert am 27.06.2022 um 19:58 Uhr
Agnete (66) meinte dazu am 27.06.22 um 19:59:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.06.22 um 21:48:
Agnete, ich denke, dass es sich dabei um eine andere Gruppe handelt, die noch stärker gegängelt werden will.
Hell (30)
(27.06.22, 21:45)
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 Dieter Wal meinte dazu am 27.06.22 um 21:54:
Die Hölle diskutiert mit. Wow! :)

 Regina meinte dazu am 28.06.22 um 00:25:
Das ist Demokratie, lieber Dieter, da dürfen alle mitdiskutieren.

 Dieter Wal meinte dazu am 28.06.22 um 07:13:
@Regina: Falscher Nick für diese Antwort. Du müsstest jetzt Heaven heißen.

 Regina meinte dazu am 28.06.22 um 10:47:
Regina coeli.

 Dieter Wal meinte dazu am 28.06.22 um 11:54:
Santa madonna mia!
Hell (30) meinte dazu am 29.06.22 um 20:19:
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 Dieter Wal (28.06.22, 12:07)
Leider christozentrische Darstellung. Dabei, was die  EZW betrifft, eine erstaunlich schlecht informierte.

Es gibt andere Weltreligionen. Tatsächlich nahmen christliche Kirchenmitgliedschaften seit den letzten 20 Jahren für die Einen erstaunlich, für die Anderen erschreckend ab, und der Trend besteht weiterhin.

Die christlichen Kirchen in Deutschland entwickelten in meinen Augen sehr gute Konzepte angesichts dessen ( Citykirche,  Autobahnkirche).

 Regina meinte dazu am 28.06.22 um 12:45:
Naja, ich weiß nicht, ob irgendwer austritt, weil es keine Autobahnkirche gibt, oder eben deshalb, weil er in einer Sekte, nichtkirchlichen Weltanschauung oder auch in einer anderen Weltreligion heimisch geworden ist.
"Dabei, was die   EZW betrifft, eine erstaunlich schlecht informierte." Welche Infos vermisst du?

Antwort geändert am 28.06.2022 um 13:25 Uhr

 Dieter Wal meinte dazu am 28.06.22 um 22:02:
die sie vom wahren Glauben abtrünnig werden lassen, welcher in der christlichen Gemeinschaft verortet wird

Wertende Darstellung aus Sicht des Verfassers finden sich am Ende. Sie sind als subjektive Meinungen gekennzeichnet. Die übrigen Texte, ca 90%, sind weitgehend objektive und wertfreie Darstellungen. Vom wahren Glauben kann keine Rede sein. Der EZW geht es um Vielfalt und Informationsgewinn, nicht Apologetik. Auch die röm.-kath. Kirche verfügt über vergleichbare Einrichtungen.

 Regina meinte dazu am 29.06.22 um 16:56:
Die lange Liste der EZW, die nicht nur Sekten, sondern auch Methoden und Phänomene außerhalb derselben darstellt, ist durchaus informativ, behauptet aber gar nicht, objektiv zu sein, denn sie nennt sich ja evangelisch. Hier drei Beispiele für die Tendenz, die ich meine (Auszüge aus dem "Lexikon"):
Über Anthroposophie (wo kein Kirchenaustritt verlangt wird):
"Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungen (EZW) hat in ihrer Bewertung der Anthroposophie festgestellt, daß diese esoterische Weltanschauung mit den Grundlagen aller christlichen Kirchen nicht vereinbar ist: "Anthroposophie ist eine esoterische Weltanschauung, deren Hauptquelle nicht diskutierbar ist, ..."

"Über Astrologie (keine Organisation an sich):
Aus christlicher Perspektive sind nicht die Sterne Herren über das Leben der Menschen, sondern Gott. Statt Sicherheit in astrologischen Berechnungen sucht der christliche Glaube Freiheit im Vertrauen."


Über Veganismus:
"Auch Ethikveganismus stößt an Grenzen: Der Mensch kann nicht leben, ohne die Umwelt zu belasten, nicht essen, ohne dass Tiere sterben. Christlich wird diese Erfahrung in den Begriff Ursünde gefasst, der Gott mit Gnade begegnet. Dem weltanschaulichen Veganismus fehlt eine Gnadeninstanz, die ihn aus dem unvermeidbaren Widerspruch von Wollen und Können befreit. ... Aus christlicher Sicht kann der Mensch die Welt nicht retten. Er muss es auch nicht, denn das ist bereits geschehen."


Das ist alles so aus dem evangelischen Selbstverständnis heraus geschrieben, dass ich da keine Objektivität und Wertfreiheit finden kann, beim besten Willen nicht.
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