Die Hochzeit

Erzählung

von  Quoth

„Dass sie nicht einmal das Ende der Trauerzeit einhalten konnte!“ Herta, auf der Rückbank sitzend, seufzte. Aber nicht nur Ellinors Eile, sich wieder zu verheiraten, hatte sie gestört. Es war die Art dieser Ehe, ihre Gleichgeschlechtlichkeit, die sie, obgleich sie seit kurzem legal war, befremdete. Nur mit Mühe hatten Else, Hedwig und Ute sie überreden können, die Einladung anzunehmen. Aber für alle war es das erste Mal, dass sie an einem Ereignis dieser Art teilnahmen. Seit dem 1. Oktober war es möglich, dass ein Mann einen Mann, eine Frau eine Frau heiratete. Ellinor und Louise hatten dieses Datum extra abgewartet, weil sie sich mit der bis dahin möglichen eingetragenen Lebensgemeinschaft nicht begnügen, sondern gleich in den Ehehafen einlaufen wollten. Die vier Mädels hielten, wie Ellinor ihnen empfohlen hatte, am Rheinufer, schälten sich aus Hedwigs Citroen, glätteten die zerknautschten Kleider, richteten die Frisuren und brauchten nur um die Ecke zu gehen, um vor der Kunsthandlung Nautschke und Grell in der Bolkerstraße zu stehen, in deren Fenstern unbegreifliche Bilder von einiger, um nicht zu sagen, riesiger Größe standen, die sie beeindruckt, aber auch verständnislos musterten. „Warum hat der Maler dort einen Strohwisch ins Bild geklebt?“, murmelte Ute ratlos. „Das ist eben moderne Kunst,“ sagte Hedwig weise, „in Paris habe ich noch viel Absurderes gesehen. Aber wo wird hier nun gefeiert?“ Drei jüngere Paare, festlich gekleidet, betraten das Haus, die Mädels schlossen sich ihnen an, durchquerten die wilhelminische Eingangspracht – und landeten nicht etwa auf einem düsteren Hinterhof mit Mülltonnen, sondern in einem Garten, in dem das Laub der Ahornbäume schon zu erröten begann, in den Ebereschen leuchteten die roten Beeren, der gepflegte Rasen war sattgrün, Blumengebinde von Dahlien und Astern standen auf den Tischen – und die glücklich strahlende Ellinor kam ihnen im schwarzen Frack entgegen, umarmte eine nach der anderen, zuletzt die peinlich berührte Herta, die ihr die Frage nicht ersparen konnte: „Hättest du nach Alfons‘ Tod nicht noch ein wenig warten können?“ „Herta, er ist doch schon vor drei Jahren gestorben! Drei Jahre habe ich ein Wesen gepflegt, das mich ebenso wenig erkannte wie ich es, das war Trauerzeit genug! Sein physisches Ende war für mich eine herbeigesehnte Befreiung!“ Schicke sexy Kellnerinnen boten Champagner auf Tabletts in Vulvenform an, und dann begrüßte die frisch Angekommenen auch Louise, ganz in weißem Tüll, auf ihrer Brust funkelte der Diamant aus Holgers Asche, Ellinor trug den ihren auf dem Revers. Louise zeigte sich total gerührt, dass die Mädels den weiten Weg auf sich genommen hatten. Ein Kamerateam war zugegen, um die Höhepunkte dieser ersten Hochzeit ihrer Art in NRW für den WDR einzufangen. „O, da ist Massimo!“, rief Ute glücklich aus, "wie schön, dass du ihn und Matzke beauftragt hast, Ellinor, da fühlen wir uns gleich wie im Café im Bahnhof Lunden!“ „Aber dies ist nicht die Serie 'Kornblumenblau', dies ist Wirklichkeit!“, rief sie stolz aus einer Runde anderer Gäste, die sie baten, ein bestimmtes Gedicht vorzulesen.

„Es ist das Gedicht, mit dem unsere Liebe begonnen hat. Ich las es Louise vor – sie kannte die Gedichte ja gar nicht, die Holger an mich gerichtet hatte. Ich wollte ihr noch mehr vorlesen – aber an diesem Tage lasen wir nicht weiter!“ Sie setzte sich in ein Lederfauteuil, Louise nahm anmutig auf der Armlehne Platz, und Ellinor las mit stockender Stimme:“

„Wär ich doch eine Frau!“ Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich nicht einfach so vorlesen! Wäre einer von den Herren bereit, meinen Verehrer Holger Grell zu spielen, der Louises Mann war? Wie wäre es mit dir, Nils-Peter?“ Die Mädels steckten die Köpfe zusammen: „Das ist der Intendant des hiesigen Schauspielhauses!," raunte Edvigue,  "mondieu, wie verloren sind wir unter so viel Prominenz!“ Nils-Peter überflog das Gedicht, dann kniete er vor Ellinor nieder und rezitierte:

„Wär‘ ich doch eine Frau! Vertrauensvoll
Kämst du zu mir mit deinem ganzen Leid,
Entrichtetest der Tränen bittern Zoll,
Ließest mich schau'n in jede Traurigkeit.
Ich böte dir der besten Freundin Brust,
Die immer Zeit hat, zuhört, tröstet, rät,
Und die, wenn du mal um dich schlagen musst,
Den Rücken hinzuhalten nicht verschmäht.
Dein Leben wäre meins und ungetrübt
Von jenem Misstraun zwischen Mann und Frau,
Das immer aufkommt, wenn es heißt, ‚er liebt,‘
Errichteten wir treuer Freundschaft Bau.
Verfluchter Phallus, der dies Glück mir raubt,

Verflucht der Zufall, der ihn angeschraubt!“

Ellinor und Louise versanken in einem nicht enden wollenden Kuss.

Zögern, Schweigen – dann lachten und klatschten die Gäste, einige riefen: „Bravo!“, und es war nicht auszumachen, ob das mehr dem Gedicht oder dem prominenten Theatermann oder dem Paar galt, das es zusammengeführt hatte. Sogar Herta lächelte zustimmend. Und wenig später wurde die Hochzeitstorte angeschnitten. Zu der sagte Ellinor: „Ich wurde gefragt, was das für Beeren sind auf dem Baiser. Nein, es sind keine Johannisbeeren, es sind Vogelbeeren. Habt keine Angst, dass wir euch vergiften wollen! Sie wurden kurz erhitzt! Eine Dichterin hat die Hochzeitstorte mitgebacken: Marina Zwetajewa.“ Sie hielt kurz inne, zeigte auf die Ebereschen ringsum und rezitierte auswendig:

„Als der Vogelbeerbaum
Die Blätter verloren
Flammte er rot:
Ich wurde geboren.

Sonnabend war’s,‘
Der Streit begann‘
Von hundert Glocken:
Evangelist Johann.

Heute noch treibt’s mich
Des bittern und heißen
Vogelbeerbaumes
Früchte zu beißen.

Und eben diese russische Dichterin – die Dichter genannt werden wollte – hat in ihrer französischen Schrift ‚Mon frère féminin‘, mein weiblicher Bruder, die Worte gesagt, die Louise jetzt sprechen möchte …“ Louise warf sich Ellinor an die Brust und seufzte in die tiefe Stille:

„Du bist meine Freundin, du bist mein Gott, du bist mein alles.“

Als die vier Mädels am nächsten Tag, noch etwas verkatert und mit zertanzten Schuhen, heimfuhren, meinte Hedwig: „Die Schrift ‚Mon frère féminin‘ muss ich mir unbedingt besorgen und daraus in 'Alma an der Ostsee' vorlesen, meiner Loge.“

„Die Torte fand ich gewöhnungsbedürftig!“, sagte Else; sie hatte die Beeren vorsichtshalber diskret unterm Tisch entsorgt.
Ute kämpfte mit ihren Blähungen: "Das vegane Buffet war klasse. Aber ihr müsst mich entschuldigen - bitte mach mal ein Fenster auf, Edvigue!"

„Dass Louise Ellinor zu ihrem Gott macht, hat mir, wie ihr euch denken könnt, nicht gefallen. Aber wenigstens wurde der Evangelist Johannes erwähnt.“ Herta war entschlossen, sich mit Wenigem zufrieden zu geben. Doch die Aussicht, am Abend im Fernsehen zu sehen zu sein, bedrückte sie. „Hoffentlich erkennt man mich nicht; unsere Gemeinde lehnt das neue Gesetz entschieden ab. Ich habe darauf geachtet, Matzke immer den Rücken zuzukehren.“ Ute, Else und Hedwig hatten das Gegenteil getan und wollten Freunde anrufen, dass sie es sich anschauten. Aber alle fragten sich: Würden sie sich ohne Ellinor, die nach Düsseldorf verzogen war, noch weiterhin treffen?




Anmerkung von Quoth:

Das Gedicht von Marina Zwetajewa übersetzt von Christa Reinig
In: Marina Zwetajewa: Vogelbeerbaum
Ausgewählte Gedichte
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin


 
 

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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (23.09.22, 23:15)
Wunderbar Quoth. Werden sie sich wieder treffen? Solch alte Freundinnen dürfen nicht auseinander gehen.
Vogelbeeren sind nicht giftig auch roh nicht, roh aber leicht sauer. Man hat sie auch als Ersatz für Preiselbeeren zum Braten gereicht.

Liebe Grüße
Alma Marie

 Quoth meinte dazu am 24.09.22 um 10:33:
Hallo Alma, Du willst die Textfolge offenbar am Leben erhalten. Danke für Dein "wunderbar" und alles. Gruß Quoth
Deinen Namen konnte ich unauffällig einschleusen, als ich entdeckte, dass die hiesige Loge heißt wie Du!

 Dieter_Rotmund (24.09.22, 08:20)

 Café im Bahnhof Lunden

Verstehe die Anspielung nicht. Welche Fiktion ist das?

 Quoth antwortete darauf am 24.09.22 um 10:25:
Der Bahnhof von Sandbergen wird in "LUNDEN" umbenannt, wenn dort von Max Matzke für die fiktive Fernsehserie "Kornblumenblau" gedreht wird. Vergessen? Würde mich freuen, wenn Du die ganze Serie noch mal durchläsest und mir Fehler bzw. Unstimmigkeiten mitteiltest. Danke für die Nachfrage, habe es verdeutlicht. Gruß Quoth

Antwort geändert am 24.09.2022 um 10:38 Uhr

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 25.09.22 um 09:02:
Oje, das ist aber für den Leser kaum zu verstehen, wenn du Anspielungen auf fiktive statt auf reale Fernsehserien machst!
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