III. Die Vitalisten

Stilblüte zum Thema Gesundheit

von  Terminator

Für die Kranken ist Gesundheit ein Dauerthema. Den Gesunden ist sie selbstverständlich, sie reden nicht darüber. So verhält es sich mit den Vitalisten im abendländischen Zeitalter der Dekadenz: erst wenn das Leben nicht selbstverständlich ist, wird es auf ein Podest gestellt. Für wen Leben, Erleben, Lebendigkeit, Lebenskraft, Lebenssinn usw. prekär werden, der beginnt das Leben zu idealisieren. Da das Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit im Leben ein Geistiges ist, wird das "starke" Leben dem "schwachen" Geist gegenübergestellt.


Schwach ist jedoch nur der minderwertige Geist des Vitalisten, der dem Leben nicht gewachsen ist. Der Geist an sich verhält sich zum Leben wie der Reiter zum Pferd. Schwacher Verstand und schwacher Wille verursachen Verwirrung und Angst: der Dekadente steht vor dem Leben wie das Kaninchen vor der Schlange.


Das Leben hat Vorrang vor dem Denken, es muss, soll, will gelebt werden! – Schön und gut, aber wer lebt denn das Leben? Das Leben lebt sich übrigens auch selbst, es bedarf des vortrefflichen wohlgeratenen vernunftbegabten Menschen nicht, es kann auch eine ewige Abfolge tierischer Generationen sein. Aber wer lebt das Leben eines Menschen? Das Subjekt, das seiner Selbst als seiner Selbst bewusst ist. Das da-seiende Selbstbewusstsein ist schon dann im Leben mittendrin, wenn es aus dem Grübeln nicht herauskommt, wie es sein Leben leben soll.


Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben ist der Übergang vom Vitalismus der Dekadenz zum Vitalismus der Ultradekadenz: verehrte der dekadente Vitalist Nietzsche das starke, siegreiche, wohlgeratene, vortreffliche Leben, so ist für den Fürsorge-Vitalisten bereits die Tatsache, dass etwas lebt, anbetungswürdig. Das ist der Abfall des Vitalismus vom Lunaren ins Chthonisch-Tellurische.


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Kommentare zu diesem Text


 Hamlet (05.03.23, 19:09)
Interessante Nietzsche-Rezeption mit eigener Hierarchisierung und Rettungsversuch des nicht dekadenten Geistigen

und schöner Chiasmus:
Da das Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit im Leben ein Geistiges ist, wird das "starke" Leben dem "schwachen" Geist gegenübergestellt.

 Terminator meinte dazu am 05.03.23 um 22:25:
Das Geistige muss nicht gerettet werden, es ist (als Wille und Vernunft) der Natur überlegen. Nicht die starken und vitalen Tiere beherrschen die Erde, sondern die vernunftbegabten Menschen.

Im christlichen Kontext gibt es auch diese Figur: "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach". Darauf wird der Wohlgeratene antworten: "Nicht das, sondern dein Fleisch ist schwach", und auf seinen eigenen durch Training und Askese gestählten und durch den Willen beherrschten Körper hindeuten.

Im Ressentiment gegen das Solare/Apollinische wertet der Missratene den Geist ab, im Ressentiment gegen das Lunare/Dionysische wertet der Missratene (der chthonische Tellurist) den Körper ab. Der vortreffliche Denker (der aus Überschuss, nicht aus Kränklichkeit Philosoph wurde) und der vortreffliche Olympionike haben Respekt voreinander und werten sich gegenseitig nicht ab.
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