Das Loch

Persiflage

von  uwesch

Es gibt ein Loch in meinem Leben, in das ich jeden Tag Worte hineinschaufle. Ideen, Gedanken. Ich schaue ihnen nach, wie sie verschwinden. Warte, ob ich etwas höre, einen Widerhall, eine Reaktion.
Das Loch bleibt stumm.

Ich rufe meine Freundin Annette an, meinen Freund Rainer. Sie gehen nicht an ihr Handy, weil das keiner mehr tut. Ich bespreche die Mailbox und höre nichts zurück.
Ich zücke mein Smartphone und sende eine E-Mail an meine liebste Kollegin Eva, um ihr meine neuesten Ideen zu erklären. Ich sehe nichts zurück. Ich schalte meinen Laptop ein und sende ein neues Bild von der Weihnachtsfeier vor einem halben Jahr an meinen Sohn, weil ich lange nichts von ihm gehört habe, und bekomme keine Reaktion.
Das Loch bleibt stumm.

Ich freue mich ja schon, dass ich ein paar in meinem Gehirn tobende Gedanken ausspucken konnte und die ersten Stunden gehen noch so, aber mit zunehmender Zeit überfallen Ungeduld, Selbstbefragungen und Ärger mein Gemüt. Ich finde es anstrengend, eine stockende Unterhaltung in Gang zu halten und ich merke wie zunehmend meine Magensäure nach oben drängt.
Das Loch bleibt stumm.

Ich versuche mein Gehirn zu beruhigen. Es gibt sicher Gründe, warum Annette, Rainer, Eva und mein Sohn sich nicht melden. Ich atme langsam bewusst ein und wieder aus, was ich in einem teuren Workshop gelernt habe. Morgen ist auch noch ein Tag und dann werden sie sich sicher melden.
Das Loch bleibt stumm.

Am Abend des nächsten Tages beginnt das schwerste Stadium meiner Einsamkeit mit Telefon, Smartphone und Laptop. Die Selbstzweifel melden sich unerbittlich und die Selbsterforschung setzt ein. Was habe ich falsch gemacht? Warum sind sie so ignorant? Habe ich etwas gesagt oder geschrieben, was ihnen nicht gefällt? Sind sie etwa sauer? Doch die Gedanken, dass mich niemand mehr mag verwerfe ich aus Selbstschutz. Ich denke mir lieber Geschichten aus, warum sie mir nicht antworten. Stelle mir ihre Situation vor, in der sie stecken.
Das Loch bleibt stumm.

Ganz auf mich zurückgeworfen – in diesen Hyperkommunikationszeiten – überrollt mich diese gellende Stille. …. Doch die Geschichten gehen weiter in meinem Kopf. Diese hier habe ich deshalb aufgeschrieben und ins Internet entlassen. Und es kann sich etwas epische Ruhe entfalten.
Doch das Loch bleibt stumm.

In der unruhigen Nacht wache ich plötzlich auf und spüre förmlich, wie die Expertensysteme des US-Geheimdienstes NSA alle meine ins Netz gesendeten Texte, überhaupt alles Digitale, meine Sprache, meine Bilder analysieren, nach Verdächtigem durchsuchen. Meine Gedanken sind beobachtet worden und für die Ewigkeit in Utah, wo früher die Indianer lebten, gespeichert. Verschwunden in den weltweiten Jagdgründen der Fahnder.
Doch das Loch bleibt stumm.



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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (03.04.23, 22:54)
Lieber Uwe,
was für ein bewegender Text. Die Einsamkeit ist greifbar, man möchte sagen: "Ja Gott, ruft doch einer an und wenn es bloß übers Wetter geht".
Sehr gut geschrieben.
Herzlichst
Alma Marie

 uwesch meinte dazu am 04.04.23 um 05:50:
Das freut mich sehr, denn ich halte diesen Text für einen meiner besten und auch sehr aktuell.
Danke dir auch für die Empfehlung und LG Uwe
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