Heul doch Schlappohr

Ulrike hoppelt mit einem Körbchen voll bunter Eier durch den Wald. Übermorgen ist Ostern. Es gibt viel zu tun. Gerade will sie ein Ei hinter einem Gebüsch verstecken, als sie auf Olaf trifft, der da vollkommen selbstvergessen schläft. Lieb sieht er aus. Eine Kröte hat eine Schreckstellung eingenommen und sitzt aufgebläht auf seinem Kopf. Ob der Olaf etwas vom Gift der Kröte eingenommen hat? Ulrike schüttelt die langen Ohren und hoppelt weiter.

Jemand rennt ungebremst auf sie zu und plumpst mit ihr in den nahen Graben. Ulrike blinzelt verwirrt und blickt in Roberts Augen. „Blödmann! Kannst du denn nicht aufpassen?“ Der angesprochene Hase bückt sich, murmelt eine Entschuldigung und sammelt stöhnend die Eier ein. Dann reicht er Ulrike den Korb und die Pfote. Die Häsin lässt sich von ihm aus dem Graben helfen. Zum Schluss mahnt sie ihn: „Achte zukünftig darauf, welchen Weg du wählst!“

Ulrike versteckt fleißig weiter ihre Eier aus dem Korb hinter Strauch, Steinchen und Bäumchen, als sie einen Hasen auf einem Schokoporsche sitzend vorbeiziehen sieht. Er ruft immer wieder: „Brumm, Brumm.“  Die Häsin erkennt ihn und ruft: „Hallo Christian, du hast es aber eilig!“ Der Angesprochene winkt ihr zu und rast weiter.

Doch da sieht sie, wie jemand um ihr letztes Versteck herumschleicht. Sie hört ein hämisches Lachen. Schnell huscht Ulrike hakenschlagend zu dem verdächtigen Hasen, der ein sehr großer ist. Als er sich der Eier bedient, überrascht sie den Dieb, indem sie ihm einen Ast auf den Kopf haut.

Der Hase fällt rücklings hin und blickt erschrocken zur Häsin, die wütend auf ihm hockt. Ulrike erkennt ihn: „Du bist doch der Markus aus Bayern! Was machst du denn hier im Norden? Habt ihr keine eigenen Eier?“ „Ich, ich habe mich wohl verlaufen“, meint da der ertappte Markus und fügt hinzu: „In Bayern legen die Hühner nicht so viele Eier wie bei euch. Das ist ungerecht. Ihr im Norden verströmt eine Anti-Bayern-Stimmung. Das spüren auch die Hühner.“ Ulrike rollt mit den Kulleraugen Richtung Nase und meint: „Heul doch, Schlappohr, aber nicht hier. Geh heim!“

Der Markus stolpert mit hochrotem Kopf davon.

Plötzlich nimmt Ulrike ein lautes Schluchzen wahr. Sie findet Angie, die da verzweifelt neben einem Baumstamm hockt. Adrett gekleidet ist sie. Hat heute den rosa Hosenanzug an. „Was zieht dich in den Norden und warum weinst du so bitterlich?“ „Ich mach mit dem Joachim Urlaub, doch der ist weitergelaufen, weil er sauer auf mich ist. Weißt du Ulrike, ich suche nach den Spuren meiner Wirkungszeit und finde nur Morast“, flennt die Angie. „Aber so schlimm es doch nun auch wieder nicht, was du in 16 Jahren angerichtet hast. Du hast immerhin den Hosenanzug wieder salonfähig gemacht. Das mit dem Klimaschutz und der Infrastruktur klappte nicht gut und deine Sozialarbeit war mies, aber für die Geflüchteten hast du vorbildlichen Einsatz gezeigt.“ „Aber Ulrike …“ „Ach Angie, deine Reue kommt zu spät. Genieße deine Rente. Die Ampel wird’s schon richten.“

Ulrikes Körbchen ist fast leer, als sie in der Ferne einen roten Zipfel entdeckt, dann einen zweiten, dritten … und zuletzt einen achten. Der letzte Zipfel zeigt kurz sein Gesicht: Ein Zwerg! Er kichert. Doch dann sind alle Zipfel hinterm Horizont verschwunden. Ulrike läuft zu der Stelle, wo sie das Gesicht des kichernden Zwerges gesehen hatte. Sie findet einen kleinen Zettel mit einem Herz darauf. „Ach, du warst es“, denkt Ulrike und lächelt.

© Sigrun Al-Badri/ 2023