"Ich habe den Herrn gesehen", schrieb Jesaja

Predigt zum Thema Begegnung

von  tulpenrot

1.    „Ich habe den Herrn gesehen“, schrieb Jesaja vor über 2760 Jahren.

Er sieht Gott im Tempel auf einem hohen Thron sitzend. Als erhabene Gestalt beschreibt Jesaja ihn, herausgehoben aus allem, was Jesaja sich vorstellen kann, umgeben von geflügelten Wesen, den Seraphim. Diese sprechen, sodass ein Mensch sie verstehen kann, sogar unglaublich laut rufen sie, so laut, dass die Schwellen des Tempels beben! Dreimal „Heilig“ rufen sie. Einmal heilig ist nicht genug. Nein, dreimal. Eine bedeutungsvolle Zahl. Die Zahl der Vollkommenheit, etwas, dem nichts mehr hinzugefügt werden muss. „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“ Es gibt nichts Heiligeres als Gott und seine Ehre erstreckt sich über die gesamte Erde. Überall ist Gottes Ehre zu finden.

 

Durch Jesaja wissen wir von dieser Heiligkeit und Größe Gottes. Jesaja hat im Tempel diese überwältigende Vision gehabt. „Ich sah den Herrn“. Jesaja dachte, jetzt müsse er „vergehen“, sterben. Das kann man ja gar nicht aushalten, so ein Lärm und so eine Machtentfaltung! Die Schleppen des Mantels Gottes füllen den Tempel aus, seltsame Wesen, die Seraphim stehen über der majestätischen Gotteserscheinung, Gott sitzt hoch erhaben auf einem mächtig großen Thron. Alles ist überdimensioniert, viel zu groß für Jesaja. Er fühlt sich fehl am Platz, er empfindet das Ganze, als gehörte er nicht hierher. Deplatziert. Er fühlt sich nicht vorbereitet, unrein. Er steht einem über die Maßen heiligen Gott gegenüber. Das ist eigentlich unbeschreiblich, er versucht es dennoch auf seine Art, mit seinen Worten und Vergleichen.

 

1 In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und die Schleppen seines Mantels füllten den Tempel.

2 Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie.

3 Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!

4 Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch.

5 Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.

6 Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm,

7 und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei.

 

Das Rufen der Seraphim ist gewaltig, so gewaltig, dass die steinernen Schwellen des Tempels nicht mehr sicher waren. Sie bebten. Und das ganze Haus war verraucht. Voll Weihrauch. Das wirkt befremdlich, ungemütlich, für unser Empfinden auf jeden Fall. Weihrauch, als ob Gott sich darin zurückgezogen hat, verborgen ist. Und dennoch weiß Jesaja und spürt es deutlich: Gott in seiner Unvergleichlichkeit ist hier bei ihm im Tempel anwesend.

 

Er hört die Stimme Gottes und die Anfrage „Wer will für uns gehen?“ Er kann ihr nicht widerstehen. Er ist überwältigt, denke ich mir. Er kann nicht anders, als sich bereit zu erklären. „Hier bin ich, sende mich“. Und damit war er als Prophet von Gott berufen. Ob er geahnt hat, was auf ihn wartet? Er hat die Stimme Gottes gehört und hat ihr geantwortet, das war im Todesjahr des Königs Usija um 740 v. Chr.

 

Diese Berufung war kein beiläufiger Vorgang, so nebenbei beim Spaziergang oder bei der Gartenarbeit. Bei Jesaja nicht. Gott hat ihn eigentlich an seinem Arbeitsplatz berufen. Denn der historische Jesaja, der mindestens zwischen 734 und 701 v. Chr. in Jerusalem und in Juda auftrat, stammt wohl aus Jerusalemer Priesterkreisen. Ihm war also die Umgebung eines Tempels sehr geläufig.

Er lässt sich rufen und bleibt Gott die Antwort nicht schuldig. Nur einen Einwand hat er: „Meine Lippen sind unrein, wie soll ich da göttliche Wahrheiten verkündigen? Ich habe in meinem Leben bisher Worte in den Mund genommen, die vor Gottes Heiligkeit und Reinheit nicht bestehen können. Ich kann doch jetzt nicht in seinem Namen auftreten und göttliche Worte reden!“ Das bekümmert ihn.

 

Doch dann erlebt er, wie Gott ihn von seinem unreinen Zustand befreit. Mit einer glühenden Kohle, die der Seraph vom Kohlebecken mit der Zange fasst, berührt er seine Lippen. Eine Vision, bei der sich Jesaja mitten im Handeln Gottes erfährt. Er ist nicht nur Zuschauer, Beobachter, sondern er erlebt Gottes Handeln am eigenen Leib. Wie Gott seine Unreinheit auslöscht, beseitigt, erfährt er durch und durch. Das Unbeschreibliche hat Jesaja versucht zu beschreiben, mit eindrücklichen Bildern. Sie zeigen, dass es für Jesaja ein schmerzlicher, aber reinigender Vorgang gewesen sein muss, diese Befreiung von Schuld.

 

Wie Jesaja seine Berufungsgeschichte darstellt, lässt erahnen, wie sehr er überrascht und bewegt gewesen sein muss. Vor allem, wie er versucht, die unermessliche Größe Gottes und seine Besonderheit darzustellen, lässt auch uns heute einen Schauer über den Rücken laufen. Das heilige Gebäude, der Tempel, das in seiner Festigkeit erschüttert wird, der hohe Thron, die Gotteserscheinung in einem unglaublich großen Mantel, ein Kohlebecken mit glühenden Kohlen, Rauch und die überaus laut rufenden Seraphim, diese geheimnisvollen Wesen. Das alles genügt schon, um vor Gottes unermesslicher Größe und Besonderheit zu erschauern, den Lesern sein eigenes Erschrecken begreiflich zu machen. Wie könnte man denn auch sonst so eine Begegnung anders beschreiben? Könnten wir das besser, wenn wir an Jesajas Stelle gewesen wären?

 

Jesaja hat Gott gesehen - und ist am Leben geblieben. Ob er an die Erfahrung des Mose gedacht hat? „Du kannst mein Angesicht nicht sehen. Denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“, (2. Mose 33,20) hatte Gott zu Mose gesagt und sich nur in abgemilderter Form gezeigt. Denn Mose konnte Gott, der in seiner Herrlichkeit an ihm vorbeigegangen war, nur von hinten sehen, nicht von Angesicht zu Angesicht. „Denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.“ Das erklärt zusätzlich das Unbehagen, ja die Angst, die Jesaja befällt, als er Gott sieht. „Ich sah den Herrn. Er ist hoch und erhaben.“ Jesaja fühlt sich eigentlich unwürdig Gott zu begegnen. Er kann vor ihm nicht bestehen. Seine Unreinheit – und nicht nur seine eigene, sondern auch die Unreinheit seines Volkes - trennen ihn von Gott. Und das bedeutet seinen Tod.

 

Aber „Ist Gottes schöpferische Gegenwart nicht gerade die Garantie für Leben und Gelingen? Heißt es nicht immer wieder ausdrücklich in den biblischen Überlieferungen, dass die Menschen Gottes Angesicht suchen sollen? Sind sie nicht voller Hoffnung auf ein Leben vor Gottes Angesicht und darauf, dass die Frommen und Gerechten eines Tages Gottes Angesicht schauen werden? Wiederholen sie denn nicht die Bitte und die Klage:

Wir Menschen können zu Lebzeiten die ganze Herrlichkeit Gottes nicht ertragen, es ist zu viel für uns. Gott verbirgt sich jedenfalls vor solchen Menschen, die sich ihm in neugieriger und unehrerbietiger, zudringlicher Weise nähern wollen. Als ob der Blick auf Gott so eine Kleinigkeit wäre, wie wenn man auf seine Uhr schaut, um zu sehen, wie spät es ist. Ihm, dem heiligen Gott, gegenüber zu stehen, hat mit Ehrfurcht zu tun.

 

Wenn Gott sich uns Menschen zeigt dann auf eine barmherzige Weise, ohne dass wir gleich sterben müssen. Wir wissen ja: In Jesus Christus ist die ganze Fülle und Herrlichkeit Gottes erschienen. Durch ihn und in ihm werden wir mit dem Angesicht des dreieinigen Gottes vertraut, durch ihn und in ihm werden wir erneuert und erhoben, so dass wir in der uneingeschränkten Begegnung mit Gottes Herrlichkeit nicht vergehen müssen.“ (nach: Prof. Dr. Dr. Michael Welker, 1999 in der Peterskirche Heidelberg, bearbeitet.)

 

Wir lesen selbst im AT und erst recht im NT immer wieder Beispiele dafür, dass man Gott sehen kann und am Leben bleibt.

a Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude, haben wir eben in Psalm 34,6 gelesen.

b In Psalm 84,6-8 heißt es: Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln! Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie gehen von einer Kraft zur andern und schauen den wahren Gott in Zion.

c. Bei Hiob 19, 25-27 lesen wir: Doch eines weiß ich: Mein Erlöser lebt; auf dieser todgeweihten Erde spricht er das letzte Wort! Auch wenn meine Haut in Fetzen an mir hängt und mein Leib zerfressen ist, werde ich doch Gott sehen! Ja, ihn werde ich anschauen; mit eigenen Augen werde ich ihn sehen, aber nicht als Fremden. Danach sehne ich mich von ganzem Herzen! HFA

d. Im Johannesevangelium 14:8-9 heißt es: Spricht zu ihm Philippus: HERR, zeige uns den Vater, so genüget es uns. Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch und du kennest mich nicht? Philippus, wer mich siehet, der siehet den Vater.

 

2.    Die Folgen des Sehens – Berufung zum Propheten

Zurück zu Jesaja. Jesaja hat ein zentrales Thema in seiner Prophetenzeit: der missratene Gottesdienst. Er kritisiert und klagt darüber, dass er nicht mehr mit dem rechten Ernst gefeiert wurde. Das betrübt ihn. Das hält er dem Volk vor. Darüber hinaus ist Jesaja auch politisch sehr aktiv gewesen. Häufig geriet er in Konflikte mit den Königen von Juda und musste ihre politischen Bemühungen missbilligen, weil sie nicht mit einem Eingreifen Gottes rechneten.

 

Eine Prophetenrede ist der Versuch Gottes, die Menschen auf seine Seite zu bringen, auf eine heilsame Lebens-Spur zu ziehen. Gottes Gerichtsandrohungen werden durch die Propheten nicht ausgesprochen, um die Menschen zu knechten und klein zu halten, sondern um ihnen vielmehr die Möglichkeit zu geben, umzukehren, zurückzufinden in die Wirkungssphäre Gottes, um ihnen ein lohnendes und reiches Leben zu ermöglichen, damit sie aufatmen können und es ihnen und ihrer Umwelt gut geht. Damit Frieden herrschen kann. Damit Bedrohungen aufhören durch Menschen und Völker, die rücksichtslos und zerstörerisch nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind.

 

3.    Die Botschaft

Jesajas Prophetenrede: „Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. Verfette das Herz dieses Volkes, mach schwer seine Ohren, verkleb seine Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht, mit seinen Ohren nicht hört, damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt und es sich nicht bekehrt und sich so Heilung verschafft.“  Jes 6,9-10

 

Jesaja hat keine gute Botschaft für das Volk. Was er als Prophet sagen und tun(!) soll, hört sich nicht gut an. Krank soll das Volk werden durch das Reden des Propheten, tiefgreifend krank, mit fettem, verstocktem Herzen, taub, blind, ohne Einsicht vor sich hinleben. Verstört, zerstört, ohne Aussicht auf Heilung. Nur ein kläglicher Wurzelstock soll übrigbleiben von ihm.

Doch aus diesem Wurzelstock wird einmal etwas Neues wachsen: ein Volk, das allein mir gehört. 6,13 HFA

Da ist er, der winzige Hoffnungsschimmeraus diesem Wurzelstock wird einmal etwas Neues wachsen“. Die Vernichtung ist im Moment größer als alles, aber es kündigt sich dennoch etwas Neues an, das wachsen will. Man könnte nämlich davon ausgehen, dass eine solche Ankündigung die Lebensgeister des Volkes wach werden lässt, dass es alles dafür tut, damit es doch nicht so schlimm kommt. Wenn die Propheten so bedrohlich reden, dann ist das oft als Weckruf gedacht, damit das Volk sich in Bewegung setzt, das Unheil abzuwenden - oder es mindestens erträglicher zu machen, indem es sich wieder Gott zuwendet.

Durch Propheten wie Jesaja redet Gott und warnt die Menschen davor, sich ihm zu verschließen und dadurch Unheil heraufzubeschwören. Durch ihre Worte wird deutlich, was Menschen anrichten, wenn sie Gott loswerden, gottlos werden, sich von Gott abwenden.

 

Besorgt ist Gott um seine Menschen, um seine Welt. Und das über die Jahrtausende, in der Zeit des Alten und Neuen Testaments genauso wie auch heute. Gott sucht Menschen, die diese Besorgnis Gottes aussprechen, weil sie auf seinen Ruf geantwortet haben: Hier bin ich, sende mich. Als Sprecher an Gottes Stelle, als Prophet eben.

 

„Ich sah den Herrn“ sagt Jesaja in Kapitel 6, „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen,“ erklärt Hiob (42,5), und Simeon freut sich( Lk 2,29ff) „Denn meine Augen haben das Heil gesehen“, und die Jünger bitten Jesus: „Herr, zeige uns den Vater“ (Joh 14:8-9)

Mit vielen Stimmen und zu allen Zeiten haben Menschen berichtet, dass sie Gott, den Herrn gesehen haben und auch dass sie das Verlangen hatten ihn zu sehen.

 

„… so erlebt die ganze Welt Stunden in denen sie schreit nach dem Angesicht Gottes aus der Gottlosigkeit und der Gottverlassenheit. Das ganze alte Judentum ist ein einziger solcher Schrei: Wie komme ich dahin, dass ich Gottes Angesicht schaue? … Und auch durch unsere Tage hallt wieder die alte Frage: Wie schauen wir Gott? … In diese Fragen tritt das Wort Jesu hinein: „Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“ (Matth 5, 8). Nichts, gar nichts anderes ermächtigt uns Gott zu schauen, als ein reines Herz, als die Reinheit unseres Wesens.“ (Bonhoeffer)




Anmerkung von tulpenrot:

work in progress

Was machen wir jetzt mit diesem Text?
Der ist uralt, das berührt uns doch nicht mehr. Wir haben andere Probleme als die damals.
Wir finden manches sehr befremdlich.
 
Ich überlege:
Vielleicht war es Jesaja nur wichtig mit seinem Text, seine Beglaubigung als Prophet zu dokumentieren, klar zu stellen. Aber warum macht er das nicht zu Anfang seines Buches? Also Kapitel 1 Vers 1: „Hier bin ich, hier schreibe ich, rede ich, Jesaja. Ich bin als Prophet von Gott berufen, und was ich euch sagen werde, stammt von Gott, sind Gottesworte und seine Weisungen. Hört auf mich, so hört ihr Gott.“ Wäre doch viel einfacher. Wir könnten die Bibel zuklappen – das gehört zum Alten Testament, das geht uns nichts an, wir leben im Neuen Testament.
 
Wir könnten auch fragen:
Was hat er den Menschen damals zu sagen gehabt, der Jesaja, der Text, als er frisch aus Jesajas Feder kam?
Warum hat sich so ein Text über die Jahrtausende gehalten?
Warum wurde er immer wieder zitiert? Auch im NT.
Warum wurde er ausgewählt als Predigttext für Sonntag, den 4. Juni 2023? Nur um Jesajas Bereitschaft zum Dienen herauszugreifen? Und dann danach auszuführen, warum Dienen so wichtig ist und was es heißt? Das ist doch zu banal. War das das Anliegen des Jesaja, als er den Text schrieb?

Ich bin nicht zufrieden und noch nicht fertig damit.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram