Julia

Text

von  AZU20


Fortsetzung:

„Wollen Sie mehr erfahren?“ Gerhard Felser führt mich in seinen Garten und macht Kaffee. Mein Blick streift über eine eindrucksvolle Blütenpracht: Rittersporn, Rosen, Lilien und vieles mehr. Farben ohne Ende. „Wie Sonnenstrahlen von einem Brennglas eingefangen ein Blatt Papier entzünden können, so hat sich ihr Schicksal in mein Gedächtnis eingebrannt und tiefe Spuren hinterlassen. Ein viel zu frühes Ende eines vielversprechenden Menschenlebens.“

Während er dies sagt, stellt Gerhard Felser die Kaffeekanne auf den Gartentisch und schenkt ein. 

„Ich habe damals Biologie in der Klasse 7 unterrichtet. Ich schätzte vor allem ihren Fleiß, der sich mit einer großen Begeisterung für mein Fach verband. Ihre Mutter arbeitete als Raumpflegerin in unserer Schule und war stolz auf ihr Mädchen, wie sie sie nannte.“ Gerhard Felser sitzt einen Augenblick schweigend da. Ich atme den Duft ein, den die Blumen im Garten verströmen. Er greift in die Tasche, reicht mir ein Bild herüber und zeigt mir Julia auf einem Klassenfoto: Ein schmales Gesicht voller Sommersprossen, lange blonde Haare, grüne Augen.

„Ihre Mitschülerinnen waren gern mit ihr zusammen. Gemeinsam wollten sie die Zukunft gestalten. Doch das Schicksal gestattete ihr nur einen kurzen Weg, der endete, bevor er richtig begonnen hatte.“

„So früh zu sterben, ist schrecklich.“

„Ja, das stimmt. Doch darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich niemals vergessen werde und die zeigt, welch tiefen Anteil Julia am Leben nahm?“

„Sehr gern. Legen Sie los.“ 

„Während einer Biologiestunde ging ich mit Julias Klasse zum Tierhaus, wie wir es nannten, einem kleinen Blockhaus, das Sponsoren neben dem Schulgebäude im Garten errichtet hatten. Viele Schüler pflegten einzelne der Tiere, die wir dort hielten. Julia hatte die Pflege eines Kaninchens übernommen. Auf dem Weg zum Haus gingen wir an einer Fichte vorbei, in deren Zweigen ein kleines Eichhörnchen turnte. Wir schauten dem possierlichen Tier eine Weile zu und Julia begann zu erzählen.“ Gerhards Felsers Miene hellte sich auf. „Ich habe mein Eichhörnchen ‚Mucks‘ genannt. So begann sie. Mucks ist ein schönes Tier, dunkelbraun, buschiger Schwanz und kleine Pinselöhrchen, die an der Spitze so hell sind, als ob eine kleine Schneehaube auf ihnen läge. Mucks streift gern in unserem Garten umher. Vor allem im Herbst, wenn die Zapfen der Nadelbäume locken. Es lässt sich von diesen Leckerbissen auch nicht vertreiben, wenn ich im Garten erscheine. Ich darf zusehen, wenn es die Zapfen abschält. Es hält sie dann zwischen seinen Pfötchen und raspelt mit seinen Nagezähnen an ihnen herum. Zu Beginn beobachtete ich mein Eichhörnchen aus der Ferne, doch dann wagte ich mich von Tag zu Tag näher heran. Am Ende hätte ich es beinahe mit meinen Händen greifen können. Aber ich wollte es nicht vergraulen. In seiner Nähe zu sein, reichte mir. Mit einem Wort: Mucks und ich sind Freunde geworden. Und unsere Freundschaft besteht unverändert. Uns verbindet sogar ein Weih-  nachtsgeheimnis.“

Gerhard Felser hielt einen Augenblick inne. „Sie konnte so lebendig erzählen. Ihre Augen leuchteten, während sie vor Vergnügen auflachte.“ Ich blicke auf das Foto. Auch dort hat sie ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. „Mucks müht sich unentwegt, die Reste der Zapfen einzusammeln und zu vergraben, fuhr sie fort. Wenn es im Winter hin und wieder wach wird, gräbt es sie wohl aus, aber viele findet es nicht wieder. So wuchsen rings um seinen Lieblingsplatz kleine Fichten oder Kiefern aus dem Boden und wurden von Jahr zu Jahr größer, bis meine Mutter sie aus dem Boden riss. Doch eine besonders schöne Fichte ließen wir Mucks zu Ehren stehen. Bald würde Mucks auch hier zum ersten Mal ernten können.“

Gerhard Felser blickt zu mir herüber. „Wir waren vor dem Tierhaus stehen geblieben, standen um sie herum und hörten aufmerksam zu, als Julia weiter erzählte. Es war im vorigen Jahr kurz vor Weihnachten, fuhr sie fort, ich ging wie jeden Abend in den Garten. Es hatte leicht geschneit. Der Schnee lag wie Puderzucker auf dem Rasen. Ja, ich erinnere mich sehr genau an diese Worte. Selbst zu solchen Vergleichen war dieses Mädchen mit seinen damals zwölf Jahren schon fähig.“

„Ungewöhnlich“, beeile ich mich einzuwerfen.

„Mucks war nicht da, erzählte sie weiter. Nach Eichhörnchenart ruhte es sicher irgendwo in seinem Kobel. Ich schaute zu ‚meiner‘ Fichte hinüber und wollte meinen Augen nicht trauen. Sie hatte sich in einen Lichterbaum verwandelt. Schnee lag wie Lametta auf den Zweigen. Die morgendlichen Tautropfen waren zu dicken Eiskugeln gefroren und hingen wie Christbaumkugeln an den Ästen. Kleine Eiszapfen hier und da wurden von meiner Taschenlampe so beleuchtet, dass sie wie Kerzen erstrahlten. Begeistert stand ich vor diesem Bäumchen und konnte mein Glück kaum fassen. Der Anblick des von Mucks gepflanzten Baumes, der sich in einen Weihnachtsbaum verwandelt hatte, ließ mich nicht mehr los. Es war wie ein kleines Wunder. Aber etwas fehlte noch. Nachdenklich ging ich ins Haus zurück. Endlich fiel es mir ein. Unter einen Weihnachtsbaum gehö-ren Geschenke. Ich raffte also die schönsten Nüsse und andere Köstlichkeiten zusammen und legte sie unter den Baum. Für Mucks. Er würde sicher irgendwann wach werden und die Geschenke finden.“

„Eine wunderschöne Geschichte, Herr Felser. Haben Sie Mucks kennengelernt?“ „Leider nicht. Damals ahnte ich natürlich nicht, warum es nicht mehr dazu kommen würde. An jenem Morgen betraten wir jedenfalls ganz im Banne dieser Geschichte das Tierhaus und versorgten die Tiere mit Futter und frischem Wasser. Zwei Tage später hielt Julias Mutter mich kurz an, als ich nach dem Unterricht nach Hause fahren wollte. Sie sagte, Julia könne am nächsten Morgen nicht zum Unterricht kommen. Sie habe einen Arzttermin.“

Gerhard Felser blickt still vor sich hin. Ich trinke meinen Kaffee aus. Währenddessen spricht er weiter.

„Was fehlt ihr denn?, fragte ich besorgt. Die Mutter schaute zur Seite und schüttelte den Kopf. Machen Sie sich keine Sorgen, sagte sie, reine Routine. Das waren ihre Worte, aber ihre ernste Miene passte nicht dazu. Am nächsten Tag traf ich sie nach Unterrichtsende wieder. Bevor ich fragen konnte, sagte sie,

Julia müsse noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Unser Chef teilte uns am gleichen Tag mit, dass Julia an akuter Leukämie erkrankt sei. Es wurde ganz still im Raum.  Nur die Wanduhr tickte beharrlich weiter. Die einzige Frau, die zum Kollegium der Klasse gehörte und Deutsch unterrichtete, hatte Tränen in den Augen. Sie war nicht die Einzige. Wie bringen wir es nur der Klasse bei? Unser Chef mischte sich ein. Julia hat darum gebeten, es ihren Mitschülerinnen selbst sagen zu dürfen. Ein tapferes Mädchen, das muss ich schon sagen. Ja, das war sie. Als Julia sichtlich angeschlagen von den ersten Behandlungen wieder in der Schule erschien, wussten wir nicht so recht, wie wir mit ihr umgehen sollten, doch sie machte es uns leicht, indem sie sich ohne Wenn und Aber in die Arbeit stürzte und noch intensiver am Unterricht teilnahm als vor ihrer Erkrankung. Gleich am ersten Tag informierte sie die Klasse und verbat sich jede Form von Mitleid. Freilich reichte ihr Lächeln nicht mehr wie früher bis zu den Augen. Ich werde kämpfen und ganz bestimmt wieder gesund. Ihr helft mir, wenn ihr mit mir umgeht, als gäbe es keine Probleme. Das waren ihre abschließenden Worte, wie mir ihre beste Freundin sagte, als ich sie nach dem Verlauf des Gesprächs fragte. Wochen gingen dahin, Julia saß Tag für Tag auf ihrem Platz. Mal schien es ihr besser zu gehen, ein anderes Mal fühlten wir, dass sie nur mit äußerster Anstrengung dem Unterricht folgen konnte. Wir litten mit ihr, auch wenn wir es uns nicht anmerken ließen. Auf einen strengen Winter mit viel Schnee und einen kurzen Frühling folgten die ersten warmen Sommertage. Julia kam mit einem Wunsch zu mir: Ich würde so gern noch einmal mit der Klasse in den Kölner Zoo fahren. Ich sagte sofort zu. Die letzte Fahrt vor einem Jahr hatte ich noch in sehr guter Erinnerung. Einer der Lehrer, die im Zoo Schülergruppen betreuten, hatte ein tolles Programm für uns zusammengestellt und die Klasse dafür begeistern können. Wir hatten noch Wochen danach im Unterricht bei vielen Themen davon gezehrt. Ich rief den Kollegen an und konnte ihn buchen. Wir waren uns einig, diesmal mehr die Freude an lebenden Tieren in den Mittelpunkt zu stellen und weniger die Sacharbeit, doch Julia machte mir schon auf der Hinfahrt klar, dass sie nicht daran dachte, einen Erholungstag im Zoo einzulegen. Ich möchte möglichst viel Neues entdecken, das macht doch am meisten Freude. Ihre Mitschülerinnen schienen zu ahnen, dass es die letzte gemeinsame Unternehmung sein würde, und taten alles, damit der Tag für Julia so angenehm wie möglich verlief. Im Zoo angekommen, informierte ich den Kollegen. Der hielt eine kurze Ansprache. Liebe Schülerinnen, fing er an, heute wollen wir Tiere mit Kopf, Hand und Herz erleben und dabei lernen, dass nur eine intakte Natur auch unser menschliches Leben ermöglicht. Bitte sucht euch entsprechende Tiere aus, erforscht vor allem ihren Körperbau und zeichnet sie am Ende. Dafür werde ich euch Papier und Stifte austeilen. Der Vormittag verlief wie im Flug. Die Kinder entwickelten sehr viel Freude bei dieser Aufgabe, Julia zeichnete ihren Freund vom letzten Mal, einen gewaltigen Orang - Utan, der im Affenhaus auf einem Ast ruhig sitzen blieb, bis sie mit ihrer Zeichnung fertig war. Sie hatte ihn perfekt auf dem Papier verewigt. Aber auch alle anderen lieferten sehr schöne Zeichnungen ab. Ich beschloss spontan, im Biologiesaal eine Ausstellung zu organisieren. Danach sprachen wir darüber, in welchem natürlichen Umfeld die gezeichneten Tiere normalerweise lebten und wie es um ihre Lebensumstände bestellt war. Es war die letzte Aktion, an der Julia teilnehmen konnte. Kurz vor den Sommerferien verschlechterte sich ihr Zustand so sehr, dass niemand es mehr übersehen konnte. Ihre blasse Gesichtsfarbe, ihre hastigen Bewegungen, ihre unkonzentrierten Antworten, dazu kurze Aufenthalte im Krankenhaus, das alles beunruhigte uns. Es fiel uns immer schwerer, ihr gegenüber so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Ihre Mutter hielt mich auch in den Ferien auf dem Laufenden. Sie war nicht sicher, ob Julia diese Wochen überleben würde. Doch am ersten Schultag saß sie sie eisern auf ihrem Platz. Sie war stark abgemagert, die blasse Haut spannte sich über die Wangenknochen und verlieh dem Gesicht etwas Maskenhaftes. Tag für Tag schleppte sie sich in den Klassenraum. Es fiel ihr wohl immer schwerer. Zwei Wochen nach Schulbeginn brachte ihre Mutter sie. Sie hielt sie fest im Arm und führte sie an ihren Platz, auf den Julia sich nur mit großer Anstrengung setzen konnte. Draußen zogen tiefhängende Wolken über den Himmel. Es regnete in Strömen. Ich bat die Schülerinnen, ein bestimmtes Kapitel im Buch aufzuschlagen, machte Licht und erschrak. Julia saß fast unmittelbar vor mir und war grün im Gesicht, an Armen und Händen. Julias Mitschülerinnen blickten krampfhaft auf ihr aufgeschlagenes Buch, einige weinten. Julia meldete sich und las die ersten Sätze vor. Es strengte sie an.

+ „Die Korallentiere bilden eine besondere Klasse der Hohltiere, begann sie. Sie sind nach Art der Polypen gebaut, unterscheiden sich aber von den Polypen durch folgende Merkmale.“ Julia konnte nicht weiterlesen. Ich ging zu ihr und hielt ihre Hand. Ich spürte, dass es ein Abschied für immer war. Zwei Tage später starb sie in den Armen ihrer Mutter. An der Beerdigung nahm die Klasse geschlossen teil. An einen Satz aus der Predigt des Pfarrers erinnere ich mich sehr deutlich. Das Schlimmste ist zu sterben, ohne gelebt zu haben. Auf Julia trifft diese Aussage nicht zu. Sie hat ihr kurzes Leben sehr intensiv bis zum letzten Atemzug gelebt und lebt in der Erinnerung weiter. Aber was auch immer noch kommen mag, Julia kommt nicht wieder



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (28.08.23, 16:58)
Sehr anrührend und sehr, sehr traurig.
Das Sterben trifft die Angehörigen eines so jungen Menschen besonders hart. Handelt es sich gar um das eigenen Kind, wirkt das Geschehen geradezu gottlos-abartig ...

 AZU20 meinte dazu am 28.08.23 um 17:21:
Vielen Dank. Es ist die zentrale Geschichte meines neuen Buchs und von der ersten bis zur letzten Zeile so passiert. Mir kommen immer noch die Tränen, wenn ich sie lese.
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