Herbstgeflüster

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  AZU20

Wann ich mich zum ersten Mal mit meiner Krankheit unterhielt, weiß ich nicht mehr. Meiner Krankheit. Wie sich das anhört. Klingt nach Besitz, nach einem hohen Gut. Klingt nach Freundschaft oder guter Nachbarschaft. Wenn das Wort Krankheit nicht wäre. Mit einer Krankheit, die einen zwickt, mit einer Krankheit, die Schmerzen bereitet, mit einer solch elenden Befindlichkeit des Leibes kann man nicht befreundet sein. Oder doch?
Plagt sich nicht jeder Mensch vor allem im Herbst seines Lebens mit dem ein oder anderen Zipperlein herum?  Wird es ihm nicht zur alltäglichen Erfahrung? Zum vertraulichen Umgang? Und mit allen Dingen, mit denen man vertraulichen Umgang pflegt, unterhält man sich eben. Mit einer Krankheit flüstert man nur leise, aber das ist natürlich auch eine Form der Unterhaltung. Das gilt zumindest für mich und meine Krankheit.
Ich gebe gerne zu, dass man sich nicht mit jeder Krankheit nett und freundlich unterhalten kann. Es gibt sicher Krankheiten, die sich von Natur aus jedem Gespräch verweigern. Und andererseits gibt es auch Gebrechen, mit denen man am liebsten nichts zu tun haben möchte. Mit denen würde ich mich nicht auf ein Gespräch einlassen. Das könnte denen so passen.
Andererseits ist man auch nicht immer bereit, sich mit seiner Krankheit näher zu beschäftigen, weil andere, wichtigere Dinge den Geist beanspruchen. Außerdem ist auch die Intensität der Krankheit schwankend und beansprucht unsere Aufmerksamkeit mal mehr mal weniger. Doch kann man froh sein, wenn einen die Krankheit nicht völlig verlässt, weil sonst ein wichtiger Gesprächspartner  für den Rest, den Herbst des Lebens fehlen würde. Selbst wenn man im Alter lieber mit anderen Menschen spricht, ist es immer  ratsam, eine Krankheit in der Hinterhand zu haben, über die sich trefflich plaudern lässt.
Man kann also sein Leben relativ ungetrübt fortsetzen, wenn man seine Krankheit bei Laune hält. Das gelingt nicht immer. Manchmal versuche ich wirklich alles und habe keinen Erfolg. Denn auch meine Krankheit hat ihre Launen und kümmert sich dann nicht um meine Animationsversuche. Nur lasse ich niemals zu, dass sie sich hemmungslos austobt, sonst würde ich binnen kürzester Zeit keine gute Figur mehr machen.
Meine Krankheit ist schrecklich neugierig. Kaum gehe ich aus dem Haus, schon meldet sie sich und will wissen, wohin ich gehe. Häufig antworte ich dann einfach nicht, denn man kann seine Krankheit ja auch nicht den ganzen Tag über hofieren. Ich habe schließlich die Krankheit und nicht die Krankheit mich. Ich habe sie  erworben wie mein graues Haar und damit gehört sie zu mir und nicht ich zu ihr.

Als ich vor kurzem allein im Wohnzimmer saß und eine Sonate von Beethoven genoss, zupfte meine Krankheit mich am Arm. Sie flüsterte mir zu: „Das ist aber eine schöne Musik. Die mag ich.“ Ich war verblüfft. Das hatte sie noch nie gesagt. Ich hatte offensichtlich ihren Geschmack getroffen. Sie hörte zu und ließ mich dabei in Ruhe. Ich konnte ungestört Beethoven genießen. Danach nervte sie mich wieder so, wie ich es von ihr gewohnt war. Nur hin und wieder flüsterte sie mir heimlich zu: „Wann hören wir wieder so bezaubernde Musik?“ Und dann erfüllte ich ihren Wunsch und durchlebte gemeinsam mit ihr Augenblicke höchsten Glücks. Sie hatte mich nicht verlassen, aber sie schmerzte auch nicht.
Inzwischen habe ich mir eine riesige Sammlung der Musik Beethovens angeschafft, damit ich nicht zu oft das gleiche Stück hören muss. Auch meine Krankheit liebt die Abwechslung.
So lebe ich mit ihr, und das gar nicht schlecht. Wenn sie mich aber jetzt fragen, wie meine Krankheit heißt, so muss ich die Antwort schuldig bleiben. Das zu verraten hat mir meine Krankheit verboten.

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Kommentare zu diesem Text

orsoy (44)
(13.12.05)
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 AZU20 meinte dazu am 13.12.05:
Liebe Konni, vielen Dank für Deine freundlichen Worte. Dieser Text entstand, nachdem ich Hesse ins Sanatorium in der Schweiz "begleitet" habe. LG zum Abend Armin

 Bergmann (15.12.05)
Das kann ja keine schlimme Krankheit sein. Die Lebensgefährtin? Nein. Eher wahrscheinlich: Eigene Charakterzüge... So eine Art innerer Administrator...? Schwer zu sagen. Krankheit? Krankheit ist bestimmt ein ablenkender oder verdeckender Begriff. Jetzt hab ich's: Es handelt sich um eine KV-Befindlichkeit! Eines der vielen KV-Fieber und Stimmungsviren... Oh!
Wollen mal hoffen, dass daraus kein Thema für eine Forums-Diskussion erwächst...

 AZU20 antwortete darauf am 15.12.05:
Nein, eine schlimme Krankheit ist es nicht. Der Text entstand zuerst, als ich mich mit Hesse und seinem Sanatoriumsaufenthakt in der Schweiz literarisch und örtlich auseinandersetzte. Doch dann merkte ich, dass er auch etwas aussagt zum "innerern Schweinhund", so will ich es einmal ganz platt nennen. Wenn er mich "packt", lenke ich mich mit Beethoven (oder Wagner) ab. Dass Sie eine weitere Deutungsmöglichkeit entdeckten, wundert mich nicht. LG
Symphonie (73)
(16.12.05)
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Symphonie (73) schrieb daraufhin am 16.12.05:
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Anne (56)
(05.06.11)
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 AZU20 äußerte darauf am 05.06.11:
Freut mich, der Text entstand bei einer lit. Auseinandersetzung mit Hesse als Patient. LG und danke
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