Das scharlachrote Kleid. Ein Spiel mit Stereotypen

Persiflage zum Thema Abhängigkeit

von  EkkehartMittelberg

Als Kind hatte er Scharlach und die Krankheit schüttelte ihn mächtig durch, bis die roten Pusteln verschwanden und er ein für allemal von ihr geheilt war. Dachte er jedenfalls.
Als junger Mann besuchte er gelangweilt eine Party, von der er nichts Besonderes erwartete.

Der Gastgeber hatte tolle Weiber angekündigt, doch die kannte er zur Genüge: aufgedonnert nach der letzten Mode, Partygeschwätz nach der letzten Mode, Verführungsversuche nach der letzten Mode. Nun ja, er hatte nichts Besseres vor.
Es war alles so, wie er es erwartet hatte: Die Szene feierte ihre Oberflächlichkeit, durchsichtig mit ein paar auswendig gelernten Sprüchen kaschiert. Die tollen Weiber waren austauschbar wie ihre Redensarten von der Stange, wie ihr geschmacklos zusammengestellter Markenputz.

Er wollte gerade gehen, als er ihr scharlachrotes Kleid aus einem Winkel im Halbschatten des Kerzenlichts leuchten sah. Die Farbe zog ihn magisch an und dann stand er vor ihr und ließ wie ein Automat seine Sprüche los: Natürlich war ihr dunkles Haar ebenholzschwarz und ihre grünen Augen schimmerten wie Smaragde in der Dunkelheit. „Ihr Kleid, ja, lassen sie mich raten, es ist rubinrot, nein, es ist purpurrot, das trifft es auch nicht, es ist scharlachrot, scharlachrot wie die Sünde. Unwiderstehlich, ach, und ihr Lippenstift passt zu dem Kleid. Unforgetable.“

Es dauerte nicht lange, und er hatte sie hinausschwadroniert in seinen gelben Ferrari, in dem das scharlachrote Kleid in verstörendem Kontrast der Signalfarben brannte. Am liebsten wäre er über sie hergefallen. Doch er schaffte es noch bis in seine pretiöse Villa, wo er ihr den scharlachroten Fummel vom Leibe riss.

So ging das wochenlang, nur mit dem Unterschied, dass er nicht mehr auf sie einreden musste. Sie kam freiwillig, immer im scharlachroten Kleid, das ihn elektrisierte wie am ersten Abend. Sie sprachen nicht viel und es war ihm recht so. Wozu Zeit verschwenden, wenn die Sinne überdeutlich rauschten?
Sie wurden auch nicht stiller, als sie anfing zu reden, nach der letzten Mode, und immer mehr Scheinchen in ihrem scharlachroten Portemonnaie verschwanden. Zwar fing er wieder an zu denken, aber die illusionslose Klarheit stellte sich, so wie früher, nicht ein. Er begriff nur eines: Er war ihr hörig und das musste ein Ende haben.

Als sie ermattet eingeschlummert war, verbrannte er das scharlachrote Kleid.
In ihren Augen stand eine Träne, aber sie beklagte sich nicht. Er fuhr sie nach Hause und dachte: Das war’s.

Es folgten Tage mit Qualen der Sucht. Immer wieder die Hand am Telefon und im letzten Moment zurückgezogen. Dann kam die Erkenntnis: Lieber hörig sein wie ein Hund als diese Tantalusqualen.

In diesem Moment stand sie vor der Tür im scharlachroten Kleid.
Er stürzte sich in den wieder gewonnenen Rausch. Aber sie hatte verstanden, verspätete sich bei Verabredungen oder erschien gar nicht, hielt ihn hin. Wenn er in Selbstmitleid versank, einsam um Erlösung winselte, war sie plötzlich da, verschwand abrupt und spannte ihn wieder auf die Folter. Er wusste, dass es ihm nichts half, wenn er das Kleid noch einmal verbrennen würde.

Früher hatte er wenig gelesen. Jetzt überbrückte er die Wartezeiten mit Hardcore-Krimis. Er flog auf Titel wie: „Mach eine Ende, Marc“, „Der perfekte Mord“, „Befreiung“.

Wie es ausgeht, möchten Sie wissen. Entweder legt er Hand an sich oder an sie. Was meinen Sie, wie er sich entschieden hat? Sie sollten wissen: Er kannte das süße Leben, ohne das scharlachrote Kleid.

Ekkehart Mittelberg, Juni 2013








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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(05.09.23, 06:19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.09.23 um 08:44:
Merci. Ja, denn das süße Leben besteht aus Episoden.

 AchterZwerg (05.09.23, 07:23)
Lieber Ekki,

mir gefällt der Vergleich beider Gegebenheiten um die Farbe Rot.
Bleibt nur zu hoffen, dass dem Entzündeten nicht noch eine dritte, zuweilen schwer heilbare, Krankheit ins Haus blüht ...

Herzliche Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 05.09.23 um 08:47:
Grazie, Piccola, das stimmt. In solchen Situationen lauern Krankheiten.

Herzliche Grüße
Ekki

 Saira (05.09.23, 19:26)
Hallo Ekki,
 
ich fürchte, er wird die Frau töten, sie entkleiden, sich eine Puppe kaufen und dieser das scharlachrote Kleid anziehen. Die Puppe wird er immer bei sich haben, auf Partys, beim Duschen, Schlafen, bei der Arbeit … und er wird glücklich sein bis ans Ende seiner Tage.
 
Die Blicke und das Getuschel anderer wird er als Neid interpretieren.
 
Scharlach kann heftige Folgen haben, wie man an deiner Geschichte erkennen kann. Eine überspitzt erzählte Persiflage. Gelungen!
 
Liebe Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 05.09.23 um 21:07:
Vielen  Dank, Sigi. Auch Psychopathen finden einen Ausweg.

Liebe Grüße
Ekki
Agnete (66) äußerte darauf am 08.09.23 um 13:27:
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Teolein (70)
(05.09.23, 19:43)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 05.09.23 um 21:11:
Merci, Teo, ich freue mich, dass der offene Schluss so unterschiedliche Deutungen provoziert hat.
LG
Ekki
Agnete (66)
(08.09.23, 13:28)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.09.23 um 23:17:
So ist es, Moni, richtig analysiert.

LG
Ekki
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