Den Tätern verfallen

Fabel zum Thema Abhängigkeit

von  EkkehartMittelberg

Ein Fuchs verschleppte aus einem Gänsestall noch schnell ein paar kleine Gänschen, bevor ihn der Bauer erschlagen konnte, den das ängstliche Geschnatter der Gänseeltern geweckt hatte.

Meister Reineke sperrte die Gänschen in die tiefste Kammer seines Baus und schärfte seinem Clan ein, sie zwar streng zu bewachen, aber sie großzügig zu verpflegen und freundlich mit ihnen zu reden, damit sie zu einem schmackhaften Braten heranwüchsen.

Anfangs wagten die Gänschen aus Furcht vor den Entführern kaum zu atmen. Aber bald glaubten sie, dass diese es nicht auf ihr Leben abgesehen hatten, freuten sich, wenn sie ihre Fesseln lockerten, ihnen schmackhafte Speisen brachten und begannen, ihren Reden zu vertrauen, dass ihre Eltern, hartherzige kapitalistische Mörder der Gänseblümchen und des Glücksklees, die Wiesen, die doch für alle bestimmt seien, eigennützig beherrschten.

Ein Luchs, der auch vergeblich nach den Gänschen getrachtet hatte, missgönnte dem Fuchsclan den gelungenen Coup, und er hatte mit seinen feinen Ohren bald das leise Geschnatter der Gänschen aus der Tiefe des Fuchsbaus erlauscht und meldete es dem Elch, dem König des Waldes.

Dieser schickte eine Spezialeinsatztruppe von Maulwürfen los, um das possierliche unschuldige Federvieh aus den Klauen der heimtückischen Füchse zu befreien. Meister Reineke hatte seinen Bau zwar mit raffinierten Fallgruben in eine vermeintlich uneinnehmbare Festung verwandelt. Aber die geschulten Maulwürfe unterminierten seine ausgeklügelte Festung und tauchten als Retter in dem Verlies der Gänschen auf. Diese fürchteten sich im Halbdunkel ihres Gefängnisses vor den schwarz uniformierten Maulwürfen mehr als vor den seidig rot schimmernden Füchsen und konnten nur widerstrebend von den Maulwürfen befreit und ihren Eltern zurückgegeben werden.

Die staunten nicht schlecht, als ihre Kinder ihnen von den edlen Füchsen erzählten, die sie mit Strenge gut behandelt und der kapitalistischen Indoktrination ihrer Eltern entzogen hätten.
„Warte nur, unsere Kinder sind noch so jung und kommen wieder zur Vernunft“, sagte der geduldige Gänsevater täglich zu seiner bekümmerten Gänsefrau. Aber die Fuchsideologen hatten ganze Arbeit geleistet, und selbst die besten Dachstherapeuten, die der Elch aus der Staatskasse bezahlte, konnten die Gänschen nicht wieder zu einer natürlichen Gänsefurcht vor Füchsen zurückschulen.

Inzwischen war der Fuchsclan nach einem langwierigen Prozess wegen Freiheitsberaubung und heimtückisch geplantem Mord zu lebenslänglicher Haft in ein Hochsicherheitsgefängnis weggesperrt worden. Doch auch Füchse sind Menschen, und so werden sie noch immer von den dankbaren Gänsekindern besucht, die trotz der sorgfältigen Sicherheitsvorkehrungen den einen oder anderen Kassiber an Füchse herausgeschmuggelt haben sollen, die noch in Freiheit leben.

© Ekkehart Mittelberg, Februar 2014


Anmerkung von EkkehartMittelberg:

Anmerkung: Diese Fabel wurde durch einen Kommentar von ViktorVanHynthersin vom 21.02.2014 zu meiner Fabel „Furcht verbindet“ inspiriert: „Lieber Ekkehart,
vielen Dank für die Anregung. Meiner erster Gedanke galt den Schicksalsgemeinschaften, die sich gemeinsam den Herausforderungen stellen. Ich denke aber auch, dass die Paarungen ungleich sein können - siehe Stockholm-Syndrom.
Herzliche Grüße
Viktor

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Kommentare zu diesem Text

Zweifler (62)
(23.02.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.02.14:
Ich freue mich, dass dir die Fabel gefällt, Zweifler. Danke!

 TrekanBelluvitsh (23.02.14)
Man sollte die Menschen... äh... die Tiere, die Tiere meine ich natürlich... also: Man sollte die Tiere nie nach dem beurteilen, was sie sagen, sondern immer nach dem, was sie tun. Und wer hat die Gänschen gebildet? Die Füchse! Dass die sie fressen wollten ist bloß Propaganda des Großelchs... oder so ähnlich...

Aber vielleicht ist es ja ganz anders und das 'Stockholm-Syndrom' gibt es auch in der Fauna(?).
(Kommentar korrigiert am 23.02.2014)

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 23.02.14:
Merci, Trekan. Richtig, beurteilte man die Füchse, nach dem, was sie sagen, wären sie Unschuldslämmer.
Und die Großelche? Sie sind Meister der Propaganda. Sonst wären sie nie Großelche geworden. Aber wer der Propaganda nicht aufsitzen will, muss immer genau hinsehen; denn nicht immer sind die Verlautbarungen der Elche Propaganda.
Nimbus (38)
(23.02.14)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 23.02.14:
Danke, Heike, diesmal rätselst du zu viel herum, und das liegt nicht am Text der Fabel.
Das Stockhom- Syndrom (siehe Wikipedia zu dem Ereignis und seiner Benennung im Einzelnen) besagt, besagt, dass die Opfer sich zunehmend mit den Tätern, die sie berechnend "anständig" behandeln, identifizieren und im Extremfall, so wie hier in der Fabel, sogar deren Ideologie übernehmen. Die Gänschen durchschauen nicht, dass die Füchse sie nur als Festtagsbraten hegen und pflegen. Weil sie Schlimmeres erwartet haben (sie rechneten mit sofortiger Gewalt), sind sie für jede Zuwendung der Füchse dankbar, glauben deren Lügen und übernehmen schließlich deren Rechtfertigungen, um ihrem Schicksal einen Sinn zu geben.
LG
Ekki
Nimbus (38) äußerte darauf am 23.02.14:
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chichi† (80)
(23.02.14)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 23.02.14:
Merci, Gerda. Hast du die Anmerkung gelesen? Diesmal hat mich Viktor inspiriert.
Soweit ich das sehe, hat Trekan das Stockholm-Syndrom nicht thematisiert.
LG
Ekki
wa Bash (47)
(23.02.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.02.14:
Lieber wa Bash,
ich danke dir für deine offene Kritik, weiß aber nicht, ob ich ihr genügen kann:
die Ideologie: Sie wird unterschiedlich sein, je nachdem, wer die Geiselnehmer sind. Mir ging es grundsätzlich darum, dass Geiselnehmer versuchen, den Opfern ihre Ideologie zu suggerieren, um sie nach einer eventuellen Freilassung als Boten ihrer Macht vorzuführen.
Ich weiß nicht, ob moderne Fabeln immer eine explizit ausformulierte Belehrung oder Moral enthalten müssen. Welche Moral könnte es bei meiner Fabel sein? Füchse bleiben Füchse. Die ändern sich nicht, und die indoktrinierten Gänschen, bei denen haben sogar die Dachstherapeuten versagt.
Die Fabel hat jedoch eine ironische Schlusspointe: Die braven Gänslein schmuggeln aus dem Hochsicherheitsgefängnis Kassiber an die Füchse hinaus, die noch in Freiheit sind.
Man könnte weinen und vielleicht auch ein bisschen lachen.
(Antwort korrigiert am 23.02.2014)

 monalisa (23.02.14)
Ja, lieber Ekki, du verstehst es mit deinen Fabeln wirklich meisterhaft, selbst schwierige Phänomene zu verdeutlichen. Hier hast du dir einen ganz schönen 'Brocken' vorgenommen. Ja, es ist schon ziemlich irre, wenn Geiseln für ihre 'Bewacher' Sympathie entwickeln, sich manchmal sogar mit deren erklärten Zielen und Verbrechen arrangieren, sie rechtfertigen und unterstützen, nur weil sie weniger brutal behandelt werden, als sie selbst befürchtet haben.
Deine Fabel lässt keinen Zweifel, dass Füchse immer Füchse bleiben, die Freundlichkeit nur Kalkül ist und einzig auf den Verzehr der Gänschen (also deren Auslöschung) abzielt. Schmunzeln lässt mich an dieser Stelle, dass du so nebenbei auch noch die recht moderne Erkenntnis, dass Fleisch von gut d.h. möglichst stressfrei gehaltenen Tieren viel bekömmlicher ist als von verängstigten, gestressten, einfließen lässt. Du schlauer Fuchs, du! Kleiner scherzhafter Schlenker von mir

Dann wirds aber höchst politisch, wie diese Füchse den Spieß rumdrehen, die Gänseeltern und alles, wofür sie stehen, schlecht machen. Ich finde diesen Passus gerade besonders tiefschürfend. Das lässt mich in Richtung RAF und Umfeld denken und erschaudern. Da wird aus der Geschichte plötzlich bitterster Ernst und es wundert gar nicht mehr, dass die Gänslein Angst bekommen vor den ihnen völlig fremden, uniformierten Maulwurfspolizsten, die in Scharen einfallen, um sie zu befreien.
Die Sache geht aber nicht wirklich gut aus, wie im richtigen Leben halt. Des Erlebte lässt Spuren zurück, verändert bleibend, bricht mit natürlichen Werten, lebensrettenden Ängsten, macht teure Therapien nötig (die Dachse möchten schließlich auch leben) und zieht weite Kreise in der Tiergesellschaft bis hin zum mächtigen Elch, der so mächtig, dann doch nicht ist, alles ungeschehen machen zu können.
Und die Füchse lachen sich ins Fäustchen, drinnen wie draußen, auf Staatskosten verpflegt, von den Gänslein besucht und betreut, die einen. Die anderen draußen im Wald, die in den Gänschen nicht nur einen leicht zu erlangenden Festschmaus, sondern auch willfährige Sympathisanten, die sich wunderbar manipulieren lassen, vorfinden. Die armen Gänseeltern kann man da nur sagen!

Natürlich steckt in deiner Fabel noch viel mehr drin, besonders nett finde ich 'doch auch Füchse sind Menschen ...' und denke mir die Umkehrung 'doch auch Menschen sind Füchse' gleich mit dazu. Das ist doch als Pointe genug, finde ich! ZU offensichtliche Belehrungen mag ich hingegen weniger

Spätestens mit dieser Fabel hast du dich zu einem meiner Lieblingsautoren 'gemausert', lieber Ekki. Das war eigentlich schon längst fällig.

Liebe Grüße,
mona

Liebe Grüße,
mona

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.02.14:
Grazie especiale, Mona. Wenn ich eine Selbstinterpretation meiner Fabel hätte schreiben müssen (wer macht das schon gerne?), hätte ich es so gut nicht gekonnt. Man schreibt ja auch manches intuitiv und ist dann froh, dass es eine Deutung zulässt, die sich in den Kontext fügt.
Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (23.02.14)
Schöne Fabel. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.02.14:
Vielen Dank, Armin
LG
Ekki
(Antwort korrigiert am 23.02.2014)
LancealostDream (49)
(23.02.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.02.14:
Gracias, Lanze. Ich denke noch über Transfermöglichkeiten nach und melde mich, wenn etwas Gescheites dabei herauskommen sollte.
LG
Ekki

 susidie (23.02.14)
Viel wurde hier schon gesagt und beurteilt.
Die Manipulation ist hervorragend dargestellt, wie ich finde. Es geht weit über das Beispiel des Stockholm-Syndroms hinaus. Die Angst des Menschen, alleine zu sein, nicht zugehörig, macht ihn zum Opfer der Hand, die ihn füttert. In jeder Hinsicht. Missbrauchte Kinder lieben ihre Eltern - trotz allem. Der Überlebensdrang ist größer als alle Gedanken nach Gerechtigkeit. Den Emotionen ist keine Grenze gesetzt. Die Verteidigung der Täter, der Füchse, muss bleiben, um sich selbst noch in klarem Licht zu sehen. Ein Phänomen, das tagtäglich zu finden ist. Die Rattenfänger sind unter uns. Be aware.
Eine fantastische Fabel, die man umsetzen kann auf uns und unsere gesamte Mitwelt.
Danke, Ekki. Du hast viel angeregt. Lieben Gruß von Su :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.02.14:
Grazie, Su. Gerade habe ich Lanze geschrieben, dass ich über Transfermöglichkeiten nachdenken will und dann bringst du das beeindruckende Beisiel von missbrauchten Kindern, die ihre Eltern dennoch lieben.
Ja, und ich finde es einleuchtend, dass Menschen, die allein sind, leicht Opfer solcher werden, die sie füttern, wobei du bestimmt das Füttern auch auf ideologische geistige Nahrung beziehst.
Lieben Gruß zurück
Ekki

 irakulani meinte dazu am 25.02.14:
Diesem Kommentar möchte ich mich gern anschließen, lieber Ekki und liebe Su! Die Methoden der Rattenfänger sind ausgefeilt und die Psyche der Opfer ist anfällig. Deshalb werden wir solche Phänomene immer wieder beobachten (hoffentlich nicht erleben) müssen.

L.G. an euch beide.
Ira
Pocahontas (54)
(23.02.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.02.14:
Grazie, Sigi, mir wird durch deinen Kommentar bewusst, dass man das Stockholm-Syndrom ausweiten kann auf Ausnahmesituationen; denn die Gefahr, sich in Ausnahmesituationen an eine dubiose Autorität auzulehnen und dadurch abhängig zu werden , ist sehr groß.
Herzliche Grüße
Ekki
MarieM (55)
(23.02.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.02.14:
Hochinteressant, Marie, wie du die Metapher der Kassiber interpretierst und die Maulwürfe, die, vordergründig betrachtet, ja ehrenwerte Retter der Opfer sind, dies aber ohne Spionage nicht können und damit etwas von den Dunkelmännern annehmen, die sie bekämpfen, sodass die Opfer sie mehr fürchten als die Geiselnehmer.
Vielen Dank und liebe Grüße
Ekki

 ViktorVanHynthersin (24.02.14)
Es freut mich, lieber Ekkehart, wenn ich Dich mit meinem Kommentar zu einem weiteren Text, der Dir sehr gelungen ist, anregen konnte.
Mir fällt gerade noch eine Form der Abhängigkeit ein, die Co-Abhängigkeit (z.B. Co-Alkoholiker).
Herzliche Grüße
Viktor

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.02.14:
Vielen Dank, Viktor. Co-Alkoholiker, das ist ein Motiv zu dem mancher etwas sagen könnte. Ich habe es auf meine Options-Liste gesetzt, werde aber eine angemessene Zeit verstreichen lassen, um zu sehen, ob es dich nicht selbst reizt.
Wenn ja, empfiehlt es sich, das LyrIch deutlich zu pointieren. Es gibt ja immer welche, die gerne schubladisieren.
Herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas (24.02.14)
Wer den Schaden hat...
und somit wurde der Gans das Adjektiv "dumme" verliehen.
Der Volksmund ist gemein!
Herzliche Grüße TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.02.14:
Gracias Tasso, der Volksmund ist nicht so schlau, wie er sich gibt. Aber die von Konrad Lorenz beschriebenen Graugänse sind sehr clever.
Doch in der Fabel spielt die Gans unstrittig die Rolle der Dummen.
Herzliche Grüße
Ekki

 Ganna (27.02.14)
...wie in einem unsichtbaren Netz hängen wir alle fest, werden er- und gezogen und belogen und agieren nach Bedarf, sind wir erst einmal ins Muster eingewoben...artig und brav...

...so könnte man zu den kleinen Gänslein sagen, schade, dass es unter ihnen keinen aufmüpfigen Denker gibt...

LG Ganna

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.03.14:
Grazie Ganna, ja, ein aufmüpfiger Denker hätte den naiven Gänslein gut getan, jedoch den Sinn der Fabel geschönt, denn in der Realität sind die Gänslein als Opfer ja ohne Vordenker.
LG
Ekki
Fabi (50)
(12.01.15)
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