Über die Anwesenheit (Mo, 19.02.2024)

Essay

von  Hamlet

Charme und jede Art von Charisma kommen nicht ohne eine hohe (extravertierte) Vitalität aus. Das gewisse Etwas in einem Hollywood-Star zeigt sich neben architektonischen Qualitäten (z. B. Stärke, Schönheit) in der intensiven Bühnen- oder Kamerapräsenz. Es heißt vom Superstars, dass sein Gegenspieler ebenbürtig sein sollte, damit er nicht alle überstrahle. Und der hellste Stern im Universum ist uns der mächtigste und anziehendste. Da er so hell ist, profitieren die sonst dunklen und orientierungslosen Planeten von ihm, sodass von einem Wertunterschied gesprochen werden kann, insofern ein (lebloser) Planet weniger Wert ist als die alle Planeten zentrierende Sonne. Wie an dieser Metapher klar wird, können Werte immer nur funktional auf ein System bezogen werden. Auch vermeintlich absolute moralische Werte beziehen sich auf einen religiösen Sinnhorizont. Ein Wertkriterium ist die Ersetzbarkeit, die bei einem Superstar kaum gegeben ist, ohne die durch ihn geschaffene Kultur zu zerstören, während der einzelne Fan ersetzbarer ist.

Wer die ursprünglichen und zeitlosen Werte innerhalb der menschlichen Lebenswelt umdrehen will, kann sagen, dass letztlich nur die moralische Ebene zähle, auf der wir unabhängig von unseren mitgegebenen Voraussetzungen zunächst alle gleich seien und dass der schwache Gutmensch besser als der durchs Leben tanzende und prassende Star sei, wenn er die Gebote seines Gottes befolge. Der Einwand ist bekannt, dass sich ein Gutmensch nur als moralisch gut beweist, falls er die Freiheit zum Übertritt hat. Sonst könnte immer gesagt werden, dass ihm die Trauben zu sauer seien, statt dass sie ihm eigentlich zu hoch hängen.

Jedoch geht es einer politisch korrekten Gesellschaft um Frieden, damit weiter gelebt und gearbeitet werden kann und keiner auf die Idee kommt, sich umzubringen oder Amok zu laufen, falls sich der Leidende wie ein lebloser kleiner Planet gegen eine Sonne minderwertig fühlt. Wohl also auch um der Zufriedenheit willen hat (nach Nietzsche) das Christentum die antiken Vortrefflichkeits-Werte umgedreht.

Am idealen Superstar kann also das Prinzip gezeigt werden, warum etwas mehr ersehnt und geliebt wird. Es genügt uns, aus der einzigartigen Bühnen-Präsens den Begriff der Präsens oder Anwesenheit zu analysieren. Schon in jeder Schulklasse wird der Unterschied gefühlt. Dabei geht es nicht primär um den Unterschied zwischen introvertiert und extravertiert. Während ein Hans-guck-in-die-Luft durch Abwesenheit keine Andockstelle für das von allen ersehnte Leben bietet, so stört der soziopathische Zappelphilipp sogar das Leben, insofern er die konstruktive Vitalität seiner Mitschüler schon im Ansatz zerstört. Wird Hans für die anderen als ein Nichts geduldet, der wenigstens nicht stört, sondern höchstens gemobbt wird, so wird Philipp als Bedrohung gefürchtet und gehasst. Es muss festgestellt werden, dass beide abwesend sind und dem konstruktiven Leben nicht zur Verfügung stehen, ja auch Philipp nicht, da er nicht zuhören kann, wodurch sich kein konstruktives Leben in Kommunikation steigern kann.

Zweifelslos ist es die starke Anwesenheit, welche eine Person attraktiver macht. Vom Superstar abgesehen, zieht eine wohlgeratene Jugend die Blicke auf sich und glückliche Babys wirken durch ihre reine Aufmerksamkeit wie ein Magnet, zumal sie noch keine schlechten Erfahrungen widerspiegeln. Darüber hinaus ist alles erotisch anziehend, was eine erhöhte Anwesenheit ausstrahlt, worunter meistens eine tadellose Gesundheit vermutet wird, insofern Krankheiten die Anwesenheit zerfressen oder auf die entzündete Stelle nach innen zwingen. Zwar ist Gesundheit nicht alles, doch ohne sie ist alles nichts. (Vgl. Schopenhauer) Letztlich verführt uns sterbliche Wesen immer ein gesteigertes Leben als Antithese unserer größten Furcht und Ohnmacht. Wenn in unserer Vorstellung ein Gott unsterblich sei, so vergöttern wir jene Menschen, deren Lebensintensität enorm ist. Gerne lassen wir uns auch blenden, indem wir so tun, als ob ihr Bühnenauftritt ihre neunzigprozentige Normalform, statt dass sie ihre zehnprozentige Bestform sei, welche durch technische Mittel noch weit übertrieben wird.

Obwohl der Markt voll von Vitalitäts-Ratgebern darüber ist, wie wir unsere Anwesenheit steigern, bleiben doch die davon auf natürliche Weise Vollen ein Mysterium, das mit keiner Technik erreicht wird, falls das Potential fehlt. Dennoch müssen wir Kleinen und Erkrankten beginnen, an unserer Anwesenheit zu arbeiten, insofern wir unseren Mitmenschen wertvoller werden wollen.



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