Warum ich (noch) keinen Mut zum Suizid habe (04.04.2024)

Essay

von  Hamlet


Inhaltsverzeichnis


1. Nur im Wachstum gibt es Sinn

2. Problematisierung: Doch nicht jedes Wachstum scheint uns sinnvoll

3. Die Frage nach der Willensfreiheit

4. Innerer Wertewandel versus Wertetreue

5. Hierarchisierung und Konkretisierung der Werte

6. Der Wille zum Rausch

7. Metaphysische Bedenken

8. Hinweise auf einen metaphysischen Psychosomatismus

9. Selbstmord im Affekt

10. Schluss


Als ich neulich wieder mit Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) in Berührung gekommen bin und dem hoffnungslosen Helden im Gespräch mit dem vernünftigen Albert folgte, habe ich mir auch wieder die Frage nach dem Suizid gestellt. Nun versuche ich mein gegenwärtiges Ergebnis zu formulieren, warum ich (noch) nicht den Mut hätte, mir das Leben zu nehmen.


1. Nur im Wachstum gibt es Sinn

Zunächst ergibt sich der Anlass zu diesem letzten Schritt nur, falls ich nach reiflicher Prüfung schlussfolgern muss, dass mein Leben keinen Sinn mehr hat, insofern es keine Hoffnung mehr auf Wachstum gibt. (Vgl. meinen Essay „Nur im Wachstum gibt es Sinn“) In meinem Essay untersuche ich die drei herkömmlichen Bereiche, worin wir zunächst wachsen, bis wir über dem Zenit wieder abbauen: Körper, Intellekt/Geist und Seele/Herz/Spiritualität. Obwohl jeder Bereich mit den andern verknüpft ist, geht es um die jeweils leitende Instanz in einem bestimmten Lebensabschnitt. Generell sollte das Wachstum von der langsam abnehmenden Welle über den Zenit des Körperlichen mit der noch nicht ganz aufgestiegenen geistigen (intellektuellen) Welle bis zu ihrem Zenit und zuletzt auf der Welle des Herzens (oder der Seele) ihren letzten Aufstieg versuchen. Zwar wird sich von vielen zeitlebens bemüht, alle drei Bereiche zu nähren. Doch werden im Allgemeinen immer die Bereiche bevorzugt, wo im jeweiligen Alter noch am meisten Wachstum in Erscheinung treten kann, sodass ich z. B. mit zwanzig Jahren fünfmal wöchentlich Sport getrieben hatte, während ich mich mit meinen 43 Jahren mit zwei gymnastischen Einheiten pro Woche instand zuhalten versuche, wogegen ich dafür mehr lese und schreibe. Wenn aber auch die Welle des Intellekts abzusinken beginnt, bedarf es der letzten Welle, der dem Altern einzig würdigen, nämlich des Herzens (Seele/Spiritualität), deren Wachstum mit mehr Humor, Großzügigkeit, Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Gleichmut gegenüber Unvermeidbarkeiten einhergehen sollte.

In gesunder Tradition eröffnen sich diese drei Wellen automatisch. Wir erinnern uns, dass viele noch gesunde Großeltern liebenswürdiger zu ihren Enkeln gewesen sind, als sie es früher zu ihren Kindern waren. Denn sie haben im langsamen, aber stetigen Absinken ihrer vorherigen Wellen (Körper, Intellekt) ihr Überleben mit dem Aufschwung ihrer letzten Welle gesichert (Seele/Herz/Spiritualität). Freilich mussten diese herzlichen Großeltern ihre letzte Welle in jüngeren Jahren vorbereitet haben, insofern sie vielem entsagten, um Kinder aufzuziehen, die wiederum welche bekommen haben. Hätten diese Großeltern hier versagt, böte sich ihnen kaum die Gelegenheit, durch einen bereichernden zwischenmenschlichen Kontakt zu ihren Enkeln auf ihrer dritten Lebenswelle aufzusteigen, also zu wachsen, wozu letztlich alles liebevolle Verschenken sowie die Übertragung der Werte gehört, bevor der Tod ihnen alles entreißt. Obwohl der Weg über die Enkel ein natürlicher und traditioneller ist, scheint das seelische Wachstum auch ohne Kinder und Enkel möglich, wenngleich es schwieriger ist, die eigenen Schätze zu übertragen. Während Geld immer von jedem angenommen wird, bleibt es zweifelhaft, wie vereinsamte Rentner ihre Liebesgaben vermitteln sollten, wenn vom Haustier abgesehen wird. Neben den auf Enkel angewiesenen Rentner gibt es nicht nur Prominente, die ihre Gaben möglichst der ganzen Menschheit zukommen lassen, sondern auch einsame Schriftsteller und Mystiker, die sich viel unabhängiger auf der seelischen Ebene entwickeln.

Ich komme zu dem Ausgangspunkt zurück, dass es ohne Wachstum keinen Lebenssinn gibt. Ich entgegne dem Hedonisten, dass ohne Wachstum auch keine Lust gedeiht. Denn wenn der körperliche Verfall mit vielen Krankheiten und chronischen Schmerzen einhergeht, gibt es wenig Lust. Und wenn der Intellekt abstumpft, sodass man im Gespräch mit Büchern und Freunden selbst im leichten Rausch nicht mehr durch die Geisteswelten fliegen kann, gibt es wenig Lust. Und wenn nichts Gesundes, Schönes (am besten an eine jüngere Generation) übertragen werden kann, sodass keine Bindung, Dankbarkeit, Liebe und Mitfreude entstehen, gibt es wenig Lust.

Wer nirgends mehr wächst, der stagniert, bevor er verfällt. Schon die Stagnation führt schnell zur Langeweile, bis sie unerträglich wird und suizidal stimmt. Da man als Sportler seinen höchsten Genuss in neuen Bestleistungen lebt, frustriert es, trotz täglicher Schwerstarbeit bestenfalls nur noch seine Form zu halten. Da man als Intellektueller durch neue Erkenntnissen begeistert wird, frustriert es, nur noch das immer Gleiche wiederzukäuen. Da man als Rentner im Überwinden von Hartherzigkeit, durch das Verschenken und durch zunehmende Integrität seelisch noch wächst, frustriert es, anstatt die zwischenmenschliche Mauer bröckeln zu sehen, sie dicker und dunkler zu finden. Weil also auf allen drei Ebenen nur das Wachstum beglückt, frustriert schon die Stagnation, während der Verfall unerträglich wird – wenn es nicht wenigstens auf der letzten Welle (Seele/Herz/Spiritualität) noch Wachstum gibt. Ich komme zum Schluss, dass Glück nicht ohne die Begriffe Sinn und Lust zu fassen ist, welche wiederum nicht ohne das Wachstum auf den drei Wellen auskommen. Falls also Sinn und Lust hoffnungslos verloren sind, stellt sich die Frage nach dem Freitod, zumal auch die Mitwelt nur noch belastet würde.


2. Problematisierung: Doch nicht jedes Wachstum scheint uns sinnvoll.

Problematisch wird das Wachstum in den drei Bereichen, insofern es eine Idealvorstellung beschreibt, die nur im besten Fall, in bester Tradition so vonstatten geht. Denn obwohl ich im intellektuellen Bereich investieren und wachsen kann, sobald ich schon über dem körperlichen Zenit bin, habe ich wenig Freiheit über die Richtung, die mich interessiert, da sie von meinen mir nicht immer bewussten Werten bestimmt wird. Denn es konstruiert doch nicht primär der Intellekt meine Werte, sondern meine Werte konstruieren meinen Intellekt. Hier bin ich also kein Kantianer, sondern folge Schopenhauers und Nietzsches Intuitionen. Ich könnte zum Beispiel mit meinen Werten im Körperlichen (erster Bereich) hängen bleiben und mit zunehmender intellektueller Kraft (zweiter Bereich) nur die vitalen und ästhetischen Werte (aus dem ersten Bereich) preisen. Das geht mit einem Jugendwahn einher, in dem das Alter kaum noch die Aura von Charakter, Weisheit und Frieden hat, sondern einen Zerfall bedeutet, aus dem heraus sehnsüchtig auf eine vielleicht nicht gut gelebte Jugend reflektiert wird.

Wer dagegen solche körperlichen, vitalen, ästhetischen Werte aus dem ersten Bereich durch Erfahrung entzaubert, wird ernsthaft zu den moralischen Werten hinüberwachsen können wie etwa Gerechtigkeit, sich Einsetzen für andere usw. Wer schon vielen geilen Sex, verbrecherische Mutproben, die Vereinigung mit dem Schönen, wechselseitige Liebe erlebt und bestanden hat, wird sich befreit fühlen, um entweder etwas anderes zu versuchen oder dieselben Werte beibehaltend zu sublimieren (worauf ich weiter unten eingehe). Wer das Verbotene gewagt und bestanden hat, wird es sich aus Freiheit in einer gerechten Ordnung wieder gemütlich machen können. Nur weil die Züge abgefahren sind, heißt es nicht, dass man diese Attraktionen nicht hätte bereisen wollen. Klar, es gibt Alte Knaben vor- und nach der Erfahrung, nur dass die Alten Knaben vor der Erfahrung nicht gelebt haben, was ihren Werten entspricht. So wie sich Werte durch eine lange, oft unbewusste Geschichte entwickeln – und nicht durch intellektuelle Konstruktionen oder Gehorsamspflicht – so werden diese Werte vor allem durch Erfahrung entzaubert. Und nur die Entzauberung erschöpft die Anhaftung, um offen für Neues, vielleicht sogar Moralisches zu werden.

Dass beide hängen bleiben können, ist auch klar: Doch während der Alte Knabe nach der Erfahrung sich allenfalls treu bleiben kann wie Mozarts Don Juan, der vor dem Herrn des Todes nicht kapituliert und nicht von seinen ästhetischen Werten zu moralischen Werten konvertiert; hat sich der Alte Knabe vor der Erfahrung nicht einmal selber gefunden – und wenn er nicht bei sich ist, kann er auch nicht frei von etwas werden. Wer also seine wahren Werte nicht kennt oder sie verleugnet oder sie nicht leben konnte, bleibt solange an ihnen hängen, bis er sie entzaubert. Wenn es sich allerdings primär um körperliche Werte handelt, während der Körper schon schwächelt, zwingt ihn ein Schicksal zu etwas, was er nicht will, woraus in der Regel Ressentiments entstehen, welche nicht nur innerlich unzufrieden und krank machen, sondern nach außen hin verhässlichen.

Bezüglich der drei Wellen des idealen Wachstums erscheint mir also das intellektuelle Wachstum kein Garant für Zufriedenheit zu sein, es kann vielmehr zur Erkenntnis der Hoffnungslosigkeit führen – falls jemand noch zu den Orten seiner unausgelebten Werte fahren wollte, obwohl die Züge abgefahren sind. Folglich kann trotz oder sogar durch das intellektuelle Wachstum der Mut zum Suizid zunehmen.


3. Die Frage nach der Willensfreiheit

Die den Suizidalen beschäftigende Frage lautet nun, ob er aufrichtig zu anderen, seinem Lebensalter gemäßen Werten kommen kann, weil er seinen Zenit längst schon in der zweiten Welle (Intellekt/Geist) hat. Kann er etwas anderes wollen, als er will, nur weil er erkennt, dass das wirklich Gewollte schlecht oder sogar unmöglich scheint?

In Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) wird der von den Leidenschaften getriebene Werther dem vernünftigen Albert gegenübergestellt. Philosophisch lässt sich das auf Schopenhauer und Kant beziehen. Während nach Kant die Vernunft den Willen beherrschen sollte, beherrscht nach Schopenhauer immer der (durch Leidenschaften bestimmte) Wille die Vernunft. Nach Kant sind wir frei, wenn es uns gelingt, nach einem vernunftbestimmten Willen zu handeln. Nach Schopenhauer kann von Willensfreiheit keine Rede sein, wenngleich er im Rahmen einer großen Unfreiheit eine kleine Handlungsfreiheit, nämlich in der besten Wahl der Mittel, übriglässt.

Gewiss ist die aufklärerische bürgerliche Philosophie (Kant) erfolgreich gewesen, was die kulturell-technische Entwicklung anbelangt. Gewiss kann man sich zusammenreißen, seinen Trieb wie seine wahren Werte unterdrücken und sich durch Arbeit ablenken. Dann lebt man entweder in Verlogenheit oder in einem zukunftsorientierten Sinnhorizont. Die Verlogenheit ist schlimm, weil die echte zwischenmenschliche Begegnung unmöglich wird. Wenn zum bösen Spiel eine gute Miene gemacht wird, werden die wahren Verhältnisse verschleiert. Obwohl die Verlogenheit in der Politischen Korrektheit gutgemeint ist, schadet sie besonders jenen, die das Leben zum Großteil als Erkenntnisprozess, als eine durch Erfahrung gehende Wahrheitssuche begreifen. Wer die wahren ästhetischen Werte verdreht, mag humane Interessen haben, dass zum Beispiel keiner mehr diskriminiert werde. Doch das führt uns durch Labyrinthe, aus denen wir verspätet und erschöpft herauskommen, um dann zu sehen, was jeder intuitiv schon wusste, bevor die Gegenkultur versucht hatte, unseren wahren Geschmack zu verdrehen. Es zeigt sich, dass die meisten Menschen, wenn sie unverlogen und ohne Neid urteilen, ähnliche ästhetische Wertmaßstäbe haben: Das Schöne ist nicht relativ, sondern eine harmonische Proportion und ein besonderes Charisma, welches ein göttliches Leben symbolisiert.

Ursprünglich symbolisiert das (sichtbare) Schöne das (unsichtbare) Gute, welches die Bestform einer Eigentümlichkeit verkörpert, die eine gewisse Funktion hat. „Das Schöne ist der sinnliche Schein des Guten“, hat Hegel formuliert. Ein Messer ist dann gut, wenn es scharf schneidet. Und je besser der Zweck (scharfes Schneiden) durch die Form maximiert wird, umso schöner erscheint uns der Gegenstand. Während das Schönheits- und Gütekriterium der Zweckmäßigkeit auf Artefakte leicht anzuwenden ist, bringt die Übertragung auf den Menschen Probleme auf, da seine Bestimmung keineswegs so eindeutig ist, wie es die Aufklärer wollten, nach denen die Eigentümlichkeit des Menschen die Vernunft ist.

Wenngleich ich, wie die meisten, zustimme, hat diese Richtung zur einseitigen Verkrüppelung geführt, insofern ein Kultus der körperlichen Vernachlässigung entstand, wobei wir an körperlich schwache und kränkliche Gelehrte, an dekadente Überfeinerungen, Neurosen usw. denken. Während der christliche und der kantische Dualismus die Sinnlichkeit gegen die Vernunft ausspielen, wird des Menschen Eigentümlichkeit in einer erhabenen Buddhastatue schöner verkörpert, da die Vernunft mit hoher Stirn auf einer löwenhaften Sinnlichkeit thront. Erst hier ist der Mensch schön, weil er nicht krankt, sondern körperlich blühend weit über das Tier hinaus gehen kann. Ich fasse zur Verlogenheit zusammen, dass sie durch die Unkenntnis oder Verdrängung der eigentlichen Werte geschieht, weil man sich unter Ideale hat zwingen lassen, die keineswegs die eigenen gewesen sind. Nichts ist diskriminierender als die Wahrheit. Wer aber gar nicht mehr diskriminieren will, lebt in absoluter Verlogenheit. –

Zweitens sagte ich bezüglich der Vernunftherrschaft (am Ende des nach oben gezählten dritten Absatzes, Z. 4f.), dass neben der Verlogenheit ein zukunftsorientierter Sinnhorizont zur Unterdrückung der wahren Antriebe und Werte führen kann. Das ist wenigstens schon viel aufrichtiger, weniger verwirrend und schädlich als die Verlogenheit. Hier zeigt sich ein bürgerlich-asketischer Weg, protestantisch und kantianisch, wo das hedonistische und ästhetische Leben dem moralischen untergeordnet werden. Die protestantische oder kantische Moral ist ja immer zukunftsorientiert, während Hedonisten und Ästheten ihr Glück primär in der Gegenwart suchen. Falls diese Moral nicht wenigstens heimlich jenseitsorientiert ist, ist sie zumindest gesellschaftsutopisch. Im besten Fall werden die ästhetischen Werte wie Lust, Schönheit, Rausch sublimiert, um dort zu wachsen, wo man unter seinen Konditionen noch am besten wachsen kann.

Außerdem wächst durch die Arbeit nicht nur das Geld, sondern auch das gesellschaftliche Ansehen. Wer außerdem keine große Gesundheit hat, ist selbst als Millionär nur weniger Sinnes-Lüste fähig, sodass die vermeintliche Entsagung gar keiner Überwindung bedarf. Und wer eine schöne Person niemals intim oder nur durch viel Geld berühren darf, bleibt oftmals im Minderwertigkeitsgefühl stecken, wenn er ihr nicht den Rücken zuwendet. Und wer zu geizig ist, im regelmäßigen Rausch seine Ersparnisse zu verschwenden, dem fällt es leichter, für die Gesellschaft oder für ein besseres Jenseits zu arbeiten und zu sparen. Wer aber nach reiflicher Überlegung weder etwas mit dem Christentum noch mit Kants Vernunftherrschaft anfangen kann oder will, dem entschwindet der Sinn und die Lust, zeitlebens etwas zu versuchen, was man eigentlich nie gewollt hat.

Das stärkste Argument eines Ästheten könnte sogar im Verlust der Schönheit bestehen, falls man sich in seiner Verlogenheit mit falschem Lächeln verstellt oder falls man im bürgerlich-asketischen zukunftsorientierten Sinnhorizont mit verkrampft-leidender Mine durch sein arbeitsames Leben schwitzt. Die Verstellung wird nur geduldet, wenn sie in absehbarer Zeit zur harmonischen Natur wird. Lasst uns dabei an einen Tänzer denken, der sich zunächst verkrampft, um Grundschritte zu lernen. Dabei muss er seinen natürlichen Rhythmus aufgeben, wobei er viel schlechter aussieht, als wenn er sich nach zwei bis drei Drinks in einem Tanzclub zum Besten gibt. Lasst uns auch an einen prekären vollblütigen Jugendlichen denken, der Kung-Fu lernen will. Bis er aber mit dieser Kampfkunst besser ist, als er es von vornherein als Schulhof-Schläger war, muss er mit Monaten, vielleicht Jahren rechnen, weil er alles intuitive Können aufgeben muss, um eine völlig neue, komplizierte Einstellung zu erlangen. Verständlicherweise bevorzugen solche Typen das Boxen, Kickboxen oder MMA (Mixed Martial Arts), da hier am wirksamsten auf den realistischen Straßenkampf abgerichtet wird. Dagegen fühlen sich oftmals die Schwächeren und Intellektuelleren vom Kung-Fu oder Aikido angezogen, wo sie kurzfristig wenig zu verlieren fürchten, da sie sowieso noch nichts aufgebaut hatten, während sie auf langfristigen Gewinn hoffen dürfen. Wenn also nicht wenigstens die Tanz- und Kampfkunstlehrer ein effektives und glanzvolles Ergebnis verkörpern, gibt es keinen Grund, eine Kunst zu lernen, für die sich der Anfänger zunächst verstellen und von sich selbst lösen muss.

Ebenso wird jede Schönheit unterdrückt, wenn wir tun, was wir nicht wollen. Denn die vitalen Gegenkräfte blockieren jedes freie Spiel, als würden die Rollen eines schweren Drehstuhls versagen, sodass seine Beförderung in einen anderen Raum beschwerlich wird. Schönheit entsteht nur im Einverständnis des vitalen Willens. Schönheit gibt es nur in einer Tugendethik (Vgl. Aristoteles’ Nikomachische Ethik), wo Wille und Gewohnheit aus etwas noch Holprigem eine glänzende zweite Natur machen, was wie beim Sport zuerst gewollt und dann eintrainiert wird. Wo aber der Wille fehlt oder nur durch eine auf die Gesellschaft bezogene Vernunft beherrscht wird, entsteht keine Schönheit. Traurigerweise scheint das sogar der Normalfall zu sein, wovon jedenfalls die unzähligen psychosomatisch vergrauten Leute zeugen, die ich täglich im öffentlichen Straßenverkehr sehe und wozu ich mich auch manchmal zählen muss.

Letztlich wählt sich jeder die Philosophie, die zu den eigenen Erfahrungen am besten passt. Mir scheint, dass ich nichts wollen kann, was ich nicht will. Und ich will die positiven ästhetischen Superlative selbst noch dann, wenn ich sie nicht mehr verwirklichen kann. Statt sich also mit einem trostlosen bürgerlichen Schein-Leben zu bescheiden, könnte der Suizid eine Lösung werden, falls sich meine wahren ästhetischen Werte weder verwirklichen noch überwinden kann.


4. Innerer Wertewandel versus Wertetreue

Folgendes Dilemma hat es immer gegeben: Wer sich als untreu gegenüber seinen Werten zeigt, gilt als unbeständig im Charakter, als unzuverlässig, ja sogar als Verräter; doch wer sich um jeden Preis treu bleibt, beweist, dass er sich nicht entwickelt, nicht mehr wächst, hängengeblieben sein könnte.

Es halte mein Leser an dieser Stelle selber inne, um zu reflektieren, welchen Wertewandel oder ob er überhaupt einen Wertewandel durchgemacht habe. – Denn Werte sind ja so allgemein wie etwa Geld, Gerechtigkeit, Schönheit und Rausch, dass sich ganz verschiedene Konkreta darunter fassen lassen. Es könnte also jemand immer nur seine Mittel wechseln, um dieselben Werte zu verwirklichen. Obwohl jemand Geld liebt, schwärmt er zunächst nur von Aktien, bis er diese verwirft, um nur noch von Immobilien zu sprechen. Obwohl jemand nach Gerechtigkeit strebt, fordert er nicht, dass ein Hollywoodstar nach seinem Leistungsaufwand bezahlt werde, insofern er die Gerechtigkeit proportional versteht. Dabei gönnt er seinem Superstar eine zweistellige Millionensumme für einen großen Film, da nur dieses Genie eine so erschütternde Wirkung auf die Zuschauer habe. Obwohl jemand die Schönheit liebt, scheint er das Interesse daran verloren zu haben, sich in die Nähe von Models zu begeben, weil er hier auf Entfernung gehalten wird oder er deren Fassade entzaubert hat, sodass er nun besondere Landschaften aufsucht und sich der Kunst widmet. Obwohl jemand den Rausch will, weil er nur darin seinen Willen angenehm befriedet oder aber in vollster Vitalität ermächtigt fühlt; favorisiert er immer andere Drogen, bis er sie aufgibt, falls nur noch die Nebenwirkungen dominieren und er erfährt, dass die Gesundheit die notwendige Bedingung des Rausches ist. Ein Mensch mit diesen vier Werten (Geld, Gerechtigkeit, Schönheit, Rausch) ist also seinen Werten treu geblieben, wenngleich er seine Strategien verändern musste, um sie auszuleben.

Dazu kommt, je allgemeiner ich meine Werte bestimme, desto mehr widersprüchliche konkrete Handlungen lassen sich subsumieren; und je enger die Werte gefasst werden, umso mehr scheint es, dass ich ihnen im Laufe des Lebens durch meine Handlungen untreu werde. Manche Religionen treiben es so weit, dass eigentlich alle das Gleiche zu wollen scheinen. Wenn der Buddhismus betont, dass alle Glück und kein Leiden wollen und dass wir alle gleich darin sind, sterben zu müssen, dann soll einerseits Humanität erweckt werden, welche auf Universalität beruht. Andererseits sind die Werte der Gleichheit, des Glücksstrebens, der Leidvermeidung so allgemein, dass viele widersprüchliche Zwischenziele ausgeklammert werden, welche aber für den individuellen Praxisfortschritt von größter Bedeutung sind. Mit zu weit gefassten Werten kann nicht gearbeitet werden, da man über seine konkreten Probleme stolpert. Tatsächlich ist es schwierig, mit dem Tunnelblick richtig zu arbeiten. Wer als Autofahrer zu nah vor die Straße schaut, baut schnell einen Unfall; ebenso jener, der seinen Tunnelblick bis zum Horizont streckt; wogegen der Erfolg in einer ständigen Abstimmung liegt. Die buddhistischen Werte würden also leer bleiben, wenn sie nicht mit den konkreten, individuellen, aufrichtigen Werten kommunizieren. Ebenso ist es mit den platonischen Grundwerten, die im Idealfall einen Zusammenhang bilden: das Wahre (Ontologie, Epistemologie), das Gute (Ethik), das Schöne (Ästhetik). Nur wenige würden bestreiten, dass sie diese platonische Trinität erstreben. Aber nur in letzter Abstraktion werden die Menschen gleich, also nur in der Ausklammerung aller Unterschiede. Nur aus der Weltall-Perspektive ist die Erde eine harmonische Kugel.

Außerdem erfordert es eine intellektuelle Anstrengung, dergestalt zu abstrahieren, dass wir alle gleich zu sein scheinen, woraus im Idealfall mehr Humanität entsteht. Eine pädagogische Frage lautet, ob sich die aus der wiederholten intellektuellen Anstrengung gebildete Humanität in den eigenen Charakter prägt, sodass wir auch noch bessere Menschen sind, sobald wir durch Müdigkeit oder Krankheit nicht mehr auf der Höhe des Geistes sind. Eigentlich stellt sich mir die Frage nach dem Erfolg der Sublimierung, ob z. B. auch die abstrakte Beschäftigung mit der Schönheit ernsthaft und dauerhaft dergestalt befriedigen kann, wie es die Umarmung mit der konkreten Schönheit tut, wobei auch das Angenehme stärker beteiligt ist, z. B. in der Liebesumarmung mit einem heißersehnten, schönen Partner. Denn die Schönheit ist zunächst sinnlich und zeigt uns eine Freude an der konkreten sinnlichen Natur.

Wer die Schönheit liebt, muss sie (auch nach Platons Stufenweg) zuerst im Sinnlichen genießen, ihr Prinzip verstehen, mit welchem zuallererst die kulturelle Schönheit genossen und produziert werden kann. Ich fasse zusammen, dass die Sublimierung eine Abstraktion ist, welche umso besser zu gelingen scheint, je mehr konkrete sinnliche Erfahrungen gemacht worden sind. Das Prinzip des Schönen wird induktiv gewonnen, bis es auf Gegenstände übertragen werden kann, die jedem erreichbar sind. Während z. B. das Super-Model seinen sinnlichen Selbstgenuss auf intimster Ebene nur mit den wenigsten Auserwählten teilt, stehen die Welt der organischen Blumen sowie der anorganischen Skulpturen jedem offen. Der wahre Ästhet scheint seinem übergeordneten Wert der Schönheit treu zu bleiben, wenngleich er die Mittel des Genusses anpassen, sublimieren, abstrahieren muss, um als solcher nicht zu sterben. Die Wahl der Mittel wird natürlich vom jeweiligen Zenit der oben ausgeführten drei Lebens-Bereichen bestimmt: Körper, Intellekt/Geist, Seele/Herz/Spiritualität. Mir gilt also, dass der Suizid in Frage kommt, sobald ich unfähig sein sollte, zum Wert der Schönheit eine konkrete Basis zu schaffen, von der ich zunehmend zur Sublimierung und Abstraktion fähig werde. Dazu gehört, dass sich widersprüchliche Werte nicht blockieren dürfen.


5. Hierarchisierung und Konkretisierung der Werte

Nun komme ich zu dem Problem von widersprüchlichen Werten, wodurch sich unsere Entwicklung blockieren kann. Wer es auf sehr viel Geld abgesehen hat, kann sich leicht durch die Gerechtigkeit stören. Wer dem Rausch frönt, verliert seine Schönheit, welche nicht ohne Gesundheit blühen kann. Wer zu viele widersprüchliche Werte hat, verzweifelt sehr schnell, falls er sie nicht in eine Rangfolge bringt, um einem niederen Wert für einen höheren zu entsagen. Neben der qualitativen Auswahl gilt quantitativ: Wer nicht vielen Dingen entsagt, erreicht nichts. Das ist die Härte des Lebens.

Da alle Werte von vornherein etwas Gutes sind, wollen wir alle für uns beanspruchen. Wenn wir sie aber nicht hierarchisieren, wird kaum einer verwirklicht. Anstatt zu blockieren, muss ein Wert dem anderen zuarbeiten. Sich über die wahren Werte bewusst zu werden, ist also von höchster Bedeutung, um sie vernünftig zu ordnen. Hier ist die Vernunft bedeutsam, wenngleich sie dem Willen, von dem die Werte kommen, untertan zu sein scheint. Auch hier macht der verhasste Begriff der Entsagung Sinn – hier im eigenen Verständnis der Werte, und nicht weil es ein Gott will, nicht weil es die Gesellschaft will, sondern weil ich es will.

Obwohl ich körperlich über meinem Zenit bin, kann ich mich intellektuell noch entwickeln. Ich setze hier zum Versuch einmal die Schönheit als meinen höchsten Wert, weil sie alle anderen Werte zu integrieren scheint. Es scheint mir sogar keinen Wert zu geben, der nicht wenigstens indirekt auf die Schönheit zielt. Während die Gesundheit nur ihre Basis ist, bedarf es der Stärke, um sie abzusichern. Ferner bedarf es der Gerechtigkeit, ohne welche sie von potentiellen Neidern keine Zustimmung erhält. Neben der Disziplin, sich körperlich, intellektuell und seelisch zu bilden, verhilft auch zuzeiten der Rausch zur Schönheit, insofern er eine überschüssige Vitalität verleiht, aus der heraus alles spielerisch sprüht: Gespräche, Tanz, Erotik.

Wie George Bataille schreibt, werden durch die Arbeit Verdienste angesammelt, während sie im Rausch verschwendet werden. Während wir aber aus Not und Knechtschaft arbeiten müssen, vergöttlichen wir uns, wenn wir feiern (oder lieben). Von einem Hoch bis zum Tief ist die Amplitude der Vitalität höher als im vernünftigen Mittelmaß. Das bürgerliche Mittelmaß dient der langfristigen Selbsterhaltung, während man sich im rauschhaften Fest verausgabt, um einmal über der Not und Mittelmäßigkeit zu stehen, als gäbe es kein Morgen. Gewiss müssen der Kater und bei zu häufiger Wiederholung die langfristigen Nebenwirkungen in Kauf genommen werden. Weil zuviel Rausch der Gesundheit schadet, wird die Schönheit angegriffen, welche durch gelegentlichen Rausch gesteigert worden ist.

Nur im wenigstens leichten Rausch kann ich die Verdienste meiner Arbeit zum Besten geben. Der leichte Rausch (basierend auf einer stabilen Gesundheit) steigert die Anwesenheit, die das Schöne stets ausstrahlt. Als ihr Inneres gehört wohl zur Schönheit die Liebe. Insofern Liebe eine freiwillige und lustvolle Verbindung ist (Vgl. meine Rede über die Schönheit), ist Schönheit die adäquate Form, worin die Liebe gedeiht. Denn Schönheit ist mathematisch betrachtet eine harmonische Form, in welcher sich jedes Teil am wohlsten fühlt, insofern es von keinem anderen Muster unterdrückt wird, während es selber keines unterdrückt. Ich wiederhole: „Die Schönheit ist der sinnliche Schein des Guten.“ (Hegel)

Wie kann ich nun in meinem Lebensabschnitt der Schönheit zuspielen, falls sie wirklich mein höchster Wert ist und ich verstanden habe, dass sie sich durch entgegengesetzte Werte oder durch das Übermaß eines bestimmten Wertes – besonders des Rausches – selber gefährdet?


6. Der Wille zum Rausch

Wenn ich so aufrichtig wie möglich mein Leben betrachte, habe ich immer einen Willen zum Rausch erlebt – immer als Nachhilfe zum befriedenden (früher Haschisch) oder steigernden Leben (Alkohol). Auf meine prekäre frühkindliche Situation sowie meine mangelnden und schlechten Vorbilder gehe ich hier nicht weiter ein, als nur zu erwähnen, dass ich mich als abgehängter Kiffer durch den Großteil meiner Pubertät geschleppt hatte, bis ich verspätet nachzustarten versuchte. Gewiss habe ich durch zu viel Rausch die längerfristige Verwirklichung meines Schönheits-Wertes gehemmt und z. T. blockiert, was sich gesundheitlich in einer Erkältungsanfälligkeit und in einem leicht chronisch gastritischen Magen gezeigt hat. Da seit meinem siebzehnten Lebensjahr alle Exzesse auf Wochenenden gezwungen worden sind, habe ich mir ansonsten eine Basis erhalten.

Im Folgenden zitiere ich aus meinem Abschlussbericht meiner Mallorca-Reise eine Passage zu den vier Arten des göttlichen Rausches (Vgl. meine Anthologie „Bekenntnisse eines Zaungastes“, Februar 2024). Diese vier Stichpunkte habe ich aus Platons „Phaidros“, wo sie nicht ausgeführt, sondern nur genannt werden. In Julius Evolas „Metaphysik des Sexus“ werden diese vier Arten des göttlichen Rausches noch durch Mars, also den Gott des Krieges, ergänzt. Mein Bericht:

Ich werde meine Alkoholverhalten neu überdenken und innerhalb der vier Arten der göttlichen Begeisterung (Rausches) den dionysischen minimieren, damit ich die anderen drei erhöhen kann. Die Vier Arten lassen sich zurückführen auf:

Eros: Gott der Liebe: Es scheint ihn bei Weitem nicht jeder zu besitzen, obwohl zumindest jeder davon geträumt hat. Wer erfährt schon wechselseitig die Liebe auf den ersten Blick, wobei man wie auf einer Droge schwebt und die Sexualität sich automatisch entfaltet und zwar ohne, dass sich die Liebenden durch Alkohol stimulieren müssten?

Dionysos: Gott des Weines und Rausches: Ist fast jedem möglich, wenn er sich betrinkt, birgt jedoch die Gefahr des Alkoholismus. Freilich wird aber nicht jeder gleich stark vitalisiert durch den Alkohol. Auch unterscheidet sich die Wirkung: Manche werden nur müde. Andere werden aggressiv. Fernere liebesbedürftig usw. Gefährlich ist der Alkohol besonders für jene, die eine kurzfristige Steigerung der Vitalität und erotischen Anziehungskraft erleben, so wie es bei mir der Fall ist, bis jedoch meistens die Kehrtwende eintritt.

Die Musen: Die Schutzgöttinnen der Künste: Die poetische Stimmung gehört dazu, der ich auch manchmal teilhaftig bin. Ansonsten kann auch der Kunstgenuss begeistern, vor allem in der Musik, die einen erhebenden Rausch gewährt, eine Öffnung bringt.

Apoll (Gott der Musik, aber nach Platon auch der Prophetie): Hierher gehören das Sehertum, vielleicht das magische Talent und die Religiosität: Sich mit höheren Mächten (seien sie real oder eingebildet) verbinden zu können, sich zu begeistern und aus einer besonderen Energiequelle schöpfen zu können, ist auch nicht jedem gegeben.

Ich erstrebe nun primär den Eros, der mir zurzeit am wenigsten ist, bevor es auch altersmäßig zu spät ist. Auch wenn er nicht lange währen kann, muss ein vollkommener Mensch doch das kennenlernen, was die Menschen am meisten bewegt, was die Ursache für Himmel und Hölle ist, die Ursache für die unzähligen Dramen, nämlich die erotische Liebe. Gerade der Dichter muss alle Wirkungen des Eros leibhaftig kennen. Wie sollte er sonst zum Sprachrohr der Menschheit werden können? Und das Dichtertum strebe auch ich an.

Meine Hoffnung besteht darin, zwischen den vier Arten der Begeisterung hin und herwechseln zu können. Fehlt mir gerade die erotische Erfüllung, kann das eine poetische Stimmung samt literarischem Werk wieder ausgleichen. Fehlt mir beides, sollte ich mich religiös verbinden können, um mein Herz zu öffnen. Am besten ist es, wenn ich den Zugang zu allen Pforten dieses gesteigerten Lebens (Begeisterung) habe. In jedem Fall vermischen sich die vier Arten der göttlichen Begeisterung. Ihr gemeinsamer Nenner ist der Rausch, ein erhöhtes, begeistertes, vergöttlichtes Leben.

Freilich kann kein göttlicher Rausch ewig währen, was auch jeder Künstler weiß, wenn ihn die Inspiration verlässt. Daher lohnen sich die Phasen, in denen der göttliche Rausch ausbleibt, nur als wieder-ansammelnde Arbeit und darüber hinaus als meditative Aufgabe. D. h. vor allem, dass man alle notwendigen Lebensprozesse achtsam vollzieht (wie Tellerabwaschen, Zähneputzen, Arbeit usw.), um sie möglichst perfekt zu machen und Weisheit zu sammeln. In der Meditation wird sich aufgeladen. Im Rausch wird ausgegeben. Ich beende den Aufsatz mit einem Wort aus einer meiner früheren Reden: Es gibt nur zwei Zustände, in denen sich Leben lohnt: den begeisterten (die vier Arten des göttlichen Rausches) und den meditativen (größte Klarheit).

Ich komme zum vorläufigen Schluss, dass mir ein Leben ohne göttlichen Rausch nicht lebenswert scheint. Es wäre höchstens ein Aufschub für einen noch größeren Rausch in einem späteren Leben oder vermeintlichen Jenseits. Einerseits brauche ich also konkrete Erfahrungen bezüglich meines Schönheits-Wertes, um entzaubern zu können, damit ich angesichts der unvermeidlichen Vergänglichkeit beizeiten alles loslassen kann, was ja der Weg der Weisheit, der Erleuchtung ist. Andererseits würden die bloße Entzauberung und mikroskopische Klarheit, ohne Begeisterung, direkt in den Suizid führen, falls mich kein metaphysischer Sinnhorizont davon abhielte.

7. Metaphysische Bedenken

Wenn ich also weder wachsen kann, noch im Bereich der Schönheit schwelgen darf, noch die ästhetischen Werte entzaubern kann, um zu aufrichtig moralischen Werten zu gelangen, dann stellte sich die Frage nach einem möglichst schmerzlosen Tod – falls die nihilistische Betrachtung, dass nach dem Tod nichts sei, meine Gewissheit würde.

Zunächst gibt es nur zwei logische Möglichkeiten. Entweder gibt es nach dem Tod ein kontinuierliches Bewusstsein oder es gibt keines. Während nur der materialistische Nihilismus die Überzeugung vertritt, dass nichts sei, glauben die meisten Religionen und Philosophien, dass etwas sei. Und wenn es ein Fortleben gibt, stellt sich die Frage, ob die Qualität der Wiedergeburt vom Zufall abhängt oder ob es eine Gesetzmäßigkeit gibt, welche als Gott oder Karma bezeichnet wird. Dieses Gesetz lässt sich auf einen metaphysischen Psychosomatismus zurückführen, welcher eine Wechselwirkung zwischen der (unsichtbarer) Psyche und dem (sichtbaren) Körpers beschreibt.

Jedenfalls ist man sich einig, dass moralisch gute Handlungen zur ästhetischen Vervollkommnung führen, dass beispielsweise die (ästhetische) Schönheit eine Folge des (moralisch) Guten sei und die Hässlichkeit eine Folge des Schlechten. Übereinstimmend lassen sich moralisch gute Taten auf Gerechtigkeit und Liebe zurückführen und moralisch verderbte Handlungen auf die Hybris und den Hass. Differenziert wird das psychosomatische Gesetz über Absichten, Durchführung der Taten, Erfolge oder Misserfolge sowie Reue oder Genugtuung. So wie weltliche Richter diese vier Modifikatoren berücksichtigen, wird geglaubt, dass auch Gott bei der Rettung oder Verdammung der Seele darauf achtet. Mit einer Höchststrafe wäre beispielsweise zu rechnen, wenn jemand einen Mord versucht (Durchführung), den er akribisch geplant hat (Absicht), der auch gelingt (Erfolg), und worüber der Täter keinerlei Reue empfindet (Genugtuung). Dementsprechend würde die Strafe geringer ausfallen, falls der Mord nicht geplant, sondern im Affekt vollzogen wird, falls starke Reue entsteht oder falls der Versuch missglückt.

Im Buddhismus wird der Psychosomatismus noch deutlicher, insofern das Gesetz nicht personifiziert, sondern mechanisch ist. Im Buddhismus tun wir aufrichtigerweise alles für uns und nichts für Gott. Jedoch profitieren viele Menschen von einem personifizierten Gott, weil sie im Gebet eine persönliche Beziehung pflegen, wobei sie sich immer beschützt fühlen, insofern sie seinen Geboten folgen. Doch andere Menschen werden in ihrer Verzweiflung luziferisch. Denn obgleich sie Gottes Zorn fürchten, verführt sie der Schritt in die Hybris. Ich zitiere dazu meinen Aphorismus, warum alle mehr oder weniger Gott sein wollen:

Als ich neulich John Miltons Lost Paradise“ las, kam mir der Gedanke, dass wir je nach Entwicklungsgrad im Prinzip alle mehr oder weniger Gott sein wollen. Denn zu langes Verweilen in einem Zustand, mag er selig sein, wird als Stagnation wahrgenommen, während uns unser Leben nur im Wachstum Sinn macht, wenigstens in Form von neuen Gedanken, Erfahrungen und Erkenntnissen. Obwohl alle Engel bis auf Luzifer mit ihrem Dasein zufrieden scheinen, sind sie es nur zeitweise, bis sie selbst an höchster Stelle, an Luzifers Stelle sind, wo die letzte Grenze überschritten werden will. Dieser Mythos macht einen universellen, ganz dramatischen Auf- und Abstieg deutlich, wie er sich auch historisch bei großen Eroberern gezeigt hat. Bis ins Unendliche will der Horizont erweitert werden. Insofern will jeder mehr oder weniger Gott werden. Psychologisch, sozial und weltpolitisch zeigt sich, dass die Hybris in den eigenen Untergang geführt hat. Und wie ich gerade gezeigt habe, werden manche Menschen durch monotheistische Vorstellungen zur Hybris verführt.

Ich behaupte nun, dass solche Menschen vor der Hybris beschützt werden, wenn sie den metaphysischen Psychosomatismus nicht als Gott personifizieren, sondern als mechanisches Gesetz, welches von sich selber nichts weiß. Wenn es nicht personifiziert ist, ergebe ich mich ein für alle Male solch einem Gesetz – welches der Gravitation ähnlich zu wirken scheint: willenlos und vielleicht als eine Emergenz alles Seienden. Denn solch einem Gesetz kann man nicht böse sein. Da das karmische Gesetz willenlos wirkt, hilft kein Klagen, kein Betteln, und keine Trotzreaktion, sodass man die Ursachen und Bedingungen für seine Ziele zu erkennen und anzusammeln versucht, wenn man nicht verrückt ist.

Dagegen erscheint der unerforschliche Wille Gottes spätestens auf Luzifers Stufe ungerecht, insofern es eine unauflösliche Trennung zwischen seinem und Gottes Willen gäbe. Jeder würde mir zustimmen, dass es schrecklicher ist, von einem fremden Willen verletzt zu werden als von einem willenlosen Naturgesetz. Während wir klagend Rache wollten, falls ein anderer Wille unseren Geliebten tötete, ergäben wir uns still-trauernd in das Schicksal, falls dieselbe Person Opfer eines Erdbebens wäre. Würde ich an einen personifizierten Gott glauben, verführte mich früher oder später die Hybris, da es scheint, dass ich dem Unerforschlichen, wenn er mir nicht zu helfen scheint, wenigstens indirekt über seine Schöpfung schaden könnte. Die Verführung zum Teufel ist groß, insofern Gott als unerforschlicher Tyrann erscheint. Während nämlich ein Tyrann Gnade und Wunder walten lassen könnte, ist das unter einem logisch-mechanischen Karma-Gesetz unmöglich. So werden unter der Vorstellung eines personifizierten Gottes falsche Hoffnungen wahrscheinlicher, welche unter dem mechanischen Psychosomatismus nicht entstehen sollten.

Gleichwohl kommt es vor, dass jemand wie ich, der an Karma glaubt, gegenüber seiner gesundheitlichen Konstitution ignorant ist. Zwar mag er einsehen, dass ihn zu viel Alkohol kränklicher und krank macht, ohne jedoch sein Verhalten zu ändern. Da er sich immer wieder mit ähnlich Handelnden vergleicht, die offensichtlich nicht gleich erkranken, und ihm der Arzt ein gesundes Blutbild attestiert hat, wird ihm sein Immunsystem ein psychosomatisches Mysterium, von dem er wähnt, dass es neben möglichst gesunder Ernährung und Sport durch Willenskraft gestärkt werde. Mein (scheinbarer) Wille zur Gesundheit erzeugt die Furcht vorm Gegenteil, nämlich die Furcht vor Krankheit. Und während die Furcht ihr Objekt (Krankheit) magnetisch anzuziehen scheint, bin ich mir darüber bewusst, dass ich die Gesundheit will. Ich bleibe mir aber ein Mysterium, insofern es unbewusste Gegenkräfte zu geben scheint – vielleicht sogar einen unbewussten Willen zur Krankheit.1

Das Gesetz von Karma ist letztlich genauso mysteriös wie Gottes unerforschlicher Ratschluss, nur dass der Leidende keinen dafür verantwortlichen Willen findet, den er notfalls mit dem Teufel bekämpfen könnte, insofern er sich sowieso verloren fühlt – .

Es ist bekannt, dass keine Religion den Selbstmord erlaubt hat. Was im Monotheismus mit höllischen Strafen abgewiesen wird, erklären die dharmischen Religionen mit der Kontinuität des Bewusstseins. Da die karmischen Zusammenhänge nicht gewaltsam zerrissen werden könnten, gilt der Suizid als töricht, wobei die Gefahr des Abstiegs betont wird, insofern eine noch beschwerlichere Wiedergeburt erduldet werden müsste. Ich bekenne, dass mich dieser mir plausible metaphysische Psychosomatismus immer wieder vom Freitod abgehalten hat.


8. Hinweise auf einen metaphysischen Psychosomatismus

Zunächst staune ich darüber, dass ich geboren wurde. Nicht alles, was möglich ist, ist auch wirklich. Aber was wirklich geworden ist, ist immer möglich. Warum sollte es also nicht möglich sein, dass ich schon einmal geboren war oder noch einmal wiedergeboren werde? Es wäre jedenfalls nicht wundersamer als die Tatsache, dass ich geboren wurde.

Aber warum glaube ich daran, dass moralisch gute Handlungen zur ästhetischen Vervollkommnung führen, warum an diese psychosomatische Gerechtigkeit? Ist es nur ein Wunschdenken? Oder ist dieser Glaube pragmatisch bestimmt, um sinnvoll leben zu können: um Neid zu vermeiden, um die gesellschaftliche Ordnung zu garantieren, um individuelle Aufstiegshoffnungen zu bewahren?

Die Vorstellung von Zufall scheint mir unerträglich zu sein, weil es keinen Schlüssel zum planenden Aufstieg, also keine Vernunft gäbe. Und warum sollte es für das uns existentiell Allerwichtigste kein Gesetz geben, während es doch sonst überall Gesetzmäßigkeiten gibt? Wir wären in einer großen willkürlichen Mischtrommel gefangen, ohne Weisheit, die zum Aufstieg oder zum Ausstieg führen könnte. Es wäre das Schlimmste für den Hoffenden, obgleich es das Beste für den Massenmörder – und den Selbstmörder – wäre.

Dagegen läuft mein Glaube an Karma auf einen teleologischen Beweis hinaus. Dabei scheint es in den Holarchien keinen Zufall zu geben. Alles physisch Bekannte gehorcht den vier Grundkräften (Gravitation, elektromagnetische Kraft, starke Kernkraft, schwache Kernkraft), während alles Psychologische der Liebe und dem Hass zu gehorchen scheint. Die Gemeinsamkeit besteht in der Anziehung und der Abstoßung. Es ist gut möglich, dass durch die Liebe auf der seelischen Ebene so gewachsen wird, wie durch die Gravitation auf der materiellen. Besonders die Chemie veranschaulicht, wie durch das freiwillige Zusammenkommen bestimmter Atome etwas Neues entsteht, das mehr als die Summe seiner Teile ist. Wenn sich ein Wasserstoff-Atom mit zwei Sauerstoff-Atomen verbindet, entsteht im Wasser ein völlig neuer Stoff. Keiner scheint genau zu wissen, warum das passiert, nur dass es passiert. Diese Emergenz bleibt ein Wunder.

Gleiches gilt für gesellschaftliche Gruppen, die mehr sind als die Summe ihrer Mitglieder, wobei sich besondere Gruppendynamiken bilden. Gleiches gilt für den durch Sprache entwickelten Intellekt, der von der Buchstaben-Ebene über die Ebenen des schon sinnhaften Wortes, über den Satz, Text, Kontext, Kontext des Kontexts usw. wächst. In „Eros, Kosmos, Logos“ versucht Ken Wilber das Prinzip des holarchischen Wachstums auf allen Ebenen zu demonstrieren. Während Wachstum durch gelungene Integration gelingt, entstehen Hemmungen, wo etwas nicht integriert werden kann. Und am schwierigsten ist es, Widersprüche zu integrieren, z. B. auch widersprüchliche Werte wie die Schönheit und den dionysischen Rausch.

Statt langsamer Übergänge scheint es im Wachstum wie bei der chemischen Reaktion Sprünge zu geben, sobald alle Bedingungen zusammenkommen, wobei entweder alles oder noch nichts entsteht. In Zuständen der Ermüdung, Krankheit oder der Verkaterung wird deutlich, dass man intellektuell plötzlich mehrere Stufen zu fallen scheint. An der Lese-Energie zeigt sich mir das am subtilsten, insofern ich statt im Lese-Flow alles zu durchleuchten, lange Sätze nicht mehr fasse, bis mir die Tinte erscheint, also die basalste Buchstabenebene. Sobald ich wiederhergestellt bin, nehme ich diese Ebene der Buchstaben nicht mehr wahr und überspringe je nach Form weitere Ebenen. Beim Wachstum werden die Zutaten einer Ebene integriert, wodurch auf die nächste Ebene gesprungen wird. Es gibt also eindeutig Wachstumsgesetze, die primär auf Integration und Emergenz zurückzuführen sind. Da die Liebe auf psychischer Ebene auch eine Integration ist, scheint sie mir einen Ansatzpunkt für den metaphysischen Psychosomatismus zu liefern – es wird mir plausibel gemacht, dass Hass, der wesentlich eine Trennung ist, zum Abstieg, zur Auflösung führt, während die Liebe durch Integration zum Wachstum, zum Aufstieg führt.

Zum Psychosomatismus gibt es wenigstens Hinweise. Dass Hass verhässlicht, während Liebe verschönert, ist kein bloßes rhetorisches Mittel, sondern fußt auf eines jeden Alltagserfahrung. Dass Stress krankmacht, gilt schon lange als Tatsache, welche die psychosomatische Medizin erforscht. Was wenigstens physisch stimmt, kann widerspruchslos auch metaphysisch gedacht werden, sodass mir der unpersonifizierte Karma-Gedanke plausibler erscheint als der Nihilismus.

Kraft meines Glaubens an den metaphysischen Psychosomatismus habe ich Furcht vor dem Tod – besonders vorm Selbstmord, insofern ich es noch nicht vermocht habe, einen individuellen Wachstumsfortschritt zu verzeichnen. Dazu gehört es besonders, Ängste überwunden zu haben, wozu es wiederum Erfahrungen braucht, und zwar mit den Objekten der Angst. Je weniger ich mich einem Objekt gewachsen fühle, desto furchteinflößender wird es. Der Hund, die Spinne, der Straßenkampf, erotisches Versagen, die Ohnmacht, der Schmerz, die Blamage sind beispielsweise Objekte meiner Furcht gewesen.

Falls ich schon morgen stürbe, bliebe ich in vielen Belangen ein Feigling, insofern meine Ängste nicht überwunden werden konnten. Falls ich andererseits ohne strategisches Wissen versuchte, meine Angst-Objekte durch Annäherung zu entzaubern, droht Gefahr, dass sie sich durch falsches Anpacken noch verstärken, dass die oft nur fiktionale Furcht zur realen Furcht wird, dass eine sich selbsterfüllende Prophezeiung geschieht. Es gilt also, das Leben zu nutzen, um wie ein Krieger den Feldzug zu wagen. Denn beruhigt sterben könnte ich nur, wenn ich beachtliche Siege errungen oder zumindest gut gekämpft hätte. Dagegen wäre es am schwierigsten zu sterben, falls ich schlecht oder gar nicht gegen meine Ängste gekämpft hätte. Und falls es eine Wiedergeburt gibt, wäre es sehr wahrscheinlich, dass der Suizid zwar meine gegenwärtige Erscheinungsform, aber nicht meine Ängste zerreißen würde, vor denen ich früher oder später wieder stände. Der Selbstmord ist also kein Ausweg, falls ich ihn aus Furcht vor meinen Ängsten beginge, obgleich er vielleicht der größte Akt des Mutes gewesen sein könnte, insofern er trotz metaphysischer Ängste (Furcht vor schlechterer Wiedergeburt) begangen worden wäre.

Aber warum sollte ich relativ kleine auf meine Lebenswelt bezogene Ängste scheuen, um der größten metaphysischen Angst vor Abstieg zu trotzen? Vielmehr sollte diese Reflexion zum Suizid meine innerweltlichen Ängste verharmlosen. Die einzige Strategie, Ängste zu minimieren, erscheint mir im Können. Die Kompetenzen müssen nüchtern erlernt werden. Durch den Rausch darf der Mut erst gesteigert werden, wenn man schon nüchtern etwas gut kann – als Doping für den Ausnahmezustand und für das Fest. Ich muss also noch weitere Abstriche bezüglich meines Willens zum Rausch machen, damit ich die gesundheitliche Basis verbessere, auf der ich strategisch meinen Ängsten begegne. Der Selbstmordgedanke sei also immer das Messer an meiner Brust, das mich mutiger ins Leben treibt.


9. Selbstmord im Affekt

Trotz rationaler und metaphysischer Gründe gegen den Selbstmord können sich Affekte bis zum Wahnsinn steigern, aus denen heraus sich der Leidende wie von Dämonen getrieben verhält. Momente des Wahnsinns gehen mit gesteigerter Vitalität einher. Im starken Hass ist die lähmende Verzweiflung kurzzeitig aufgehoben, sodass der Täter viel schlagkräftiger wird, um andere oder sich selbst zu gefährden oder gar zu ermorden. Bilder drängen sich auf, welche den Besessenen in abgekühlter Phase schockieren, Bilder des Amok-Rausches oder Bilder des Sich-vor-die-Bahn-Werfens oder des Vom-Hochhaus-Springens. Aus lähmender Angst wird Tollkühnheit – wie die eines Schweinehundes, der sich festbeißt und tötet, falls er nicht selber kampfunfähig gemacht wird. Literarisch zeigt sich der durch starke Affekte dauerhaft gewordene Wahnsinn in Goethes „Werther“ (1774) sowie in Georg Büchners „Woyzeck“ (1836). In Filmen zeigt er sich in Martin Scorseses „Taxi Driver“ (1976) sowie an Todd Phillips „Joker“ (2019).

Der depressive Charakter neigt zu vulkanischen Wutausbrüchen, insofern er introvertiert ist und viel Frust in sich hineingefressen hat. Wer sich vom Leben zu kurz gekommen fühlt, leiht sich in seiner Verzweiflung die Vitalität vom Teufel, der mit Alkohol, Drogen, starken Affekten und dem Wahnsinn nachhilft. Der Wille zum Leben (Schopenhauer) herrscht jenseits von Gut und Böse (Nietzsche). Er scheint immer das letzte Wort zu haben und sucht sich jedes Mittel, falls er mit der gesellschaftlich akzeptierten Moral nicht mehr auf seine Kosten kommt. Nur noch im Wahnsinn kann der blinde Wille zum Leben an der Grenze zum Tod sein höchstes Ziel finden: gesteigertes, rauschhaftes Leben.

Zweifellos ist sich das hohe Leben in der Liebe und Schönheit erhofft worden – den einzigen Argumenten für das Leben. Doch wenn die erste Wahl hoffnungslos verloren scheint, sucht sich der Leidende den Hass und die Destruktion, falls der wahnsinnige Wille die Vernunft lahmgelegt hat, welche auf die Lebenserhaltung ausgerichtet ist. Glücklicherweise geraten unter den meisten Versagern die allerwenigsten unter solchen vitalisierenden Wahnsinn, vielleicht nur weil ihr Gefäß schon zu mürbe ist, um dort einen Dämonen hausen zu lassen. Der Wahnsinn ist ja ein großes Feuer, das nur zündet, wo es funkt, was bei gänzlich Ausgebrannten zu spät scheint.

Gefährdet sind jene, die noch nicht ausgebrannt sind, und durch ihr Leben beweisen, dass sie sich für ein kurzes hohes Leben schon immer langfristig geschadet haben – jene, die für drei Stunden Rausch über dem Maß drei Tage aufs Spiel gesetzt haben, und jene Wichser, die sich um der Lust nach Lust Willen wundgerieben haben, obwohl sie immer wieder mit ihrer Vitalität weit ins Minus gefallen sind. Der Süchtige ist krank, insofern ihn langfristig nichts befriedigt, was im Rahmen eines gesunden Lebenswandels möglich ist. Wer aber unheilbar krank ist, sollte zum Suizid schreiten, so wie Goethes Werther es tat, bevor er Amok gelaufen wäre. Denn auch unter dem metaphysischen Psychosomatismus wäre der Freitod günstiger, insofern der (Massen-)Mörder mit einer weitaus größeren Verdüsterung, mit einem größeren Abstieg im Kreislauf des Lebens zu rechnen hätte. Allerdings gilt es vorher, immer wieder über Reiner Kunzes Kurz-Gedicht nachzudenken, solange man noch nicht wahnsinnig geworden ist: „Selbstmord / Die letzte aller Türen / Doch nie hat man / an alle schon geklopft.“


10. Schluss

Da ich kein Nihilist sein kann, habe ich Angst vor dem Tod, besonders vorm Selbstmord, und vor diesem besonders im depressiven oder wahnsinnigen Zustand. Weit größer als vor möglichen Schmerzen und der Dissoziation ist die Furcht vor einer noch schlechteren Wiedergeburt, zumal mir schon die Wiederholung einer ähnlichen unerträglich scheint. Jede bessere Wiedergeburt geht mindestens mit einer Zunahme von Gesundheit, Schönheit und Liebe einher – den Zutaten eines imaginierten Götterbereichs, in dem es sich dauerhaft leben ließe.

Falls das unmöglich ist, scheint mir als zweitbeste Lösung die ewige Bewusstseins-Erlöschung. Während der Nihilist im Suizid damit rechnet, meint der ursprüngliche Buddhismus, erst mit der Buddhaschaft dieses Para-Nirwana zu erreichen: der ewigen Befreiung von den Wiedergeburten. Jedoch ist der historische Buddha über das höchste Leben als Prinz hinausgegangen, wobei er der Gesundheit, Schönheit, Liebe usw. teilhaftig war, welche aus den Tugenden und End-Täuschungen seiner früheren Leben gefolgt seien. Nichts mehr wollen kann man nur, wenn das am meisten Gewollte entzaubert worden ist: also der (im Buddhismus) vergängliche Götterbereich oder wenigstens die Privilegien eines Superstars.

Suizid bleibt also nicht ausgeschlossen, falls ich keine Möglichkeit mehr sehe, auf den drei Ebenen (Körper, Intellekt, Herz) zu wachsen. Letztendlich geht Wachstum damit einher, dass ich einerseits etwas geben kann, bevor es der Tod mir entreißt, und andererseits die begehrtesten Dinge durch Erfahrung entzaubere. So entstehen laut buddhistischem Vokabular Verdienst und Weisheit, ohne die es keinen Aufstieg, geschweige denn Ausstieg gebe.

Nach dieser Reflexion ist es meine Pflicht, mich so zu disziplinieren, dass ich etwas Gutes geben kann, und zwar gerne, was auf der ästhetischen Ebene immer mit Schönheit einhergeht. Ich wiederhole: „Die Schönheit ist der sinnliche Schein des Guten.“ (Hegel) Diesen Satz zitiere ich nicht, weil er die einzige Wahrheit formuliert, sondern weil diese Definition am besten zu meinen authentischen Werten passt. Wenn ich nun aber keine Gesundheit habe und nichts meistere, kann ich nichts Schönes, also nichts Gutes geben. Und wie ich oft zitiere, ist die Gesundheit zwar nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. (Vgl. Schopenhauer). Wer zum Beispiel kränklich ist, kann höchstens aus Pflicht (Kant), aber schon physiognomisch gesehen nichts aus überschüssiger, freispielender Vitalität, also nichts Schönes geben.

Da ich nun noch nicht alles versucht habe, um meine gesundheitliche Basis zu optimieren, werde ich eine längere Zeit auf den dionysischen Rausch (Alkohol und jegliche Drogen) verzichten. Falls nach drei Monaten ein gesundheitlicher Überschuss entsteht, ist es nicht ausgeschlossen, den Rausch, die Begeisterung, ohne die ich nicht leben wollte, hauptsächlich auf den anderen drei Wegen zu probieren: Erotik, Kunst, Religion. (Vgl. Kapitel 6, Der Wille zum Rausch). Ich beschließe den Versuch mit dem Refrain aus meiner Elegie „Der Zaungast“ (2022):


So will ich auch länger nicht leben,

wenn das, was das Leben vegöttlicht,

wenn Schönheit und Liebe mich fliehn.




1Woher der unbewusste Wille zur Krankheit kommt, ist eine Frage für die tiefenpsychologische Analyse. Vermutlich ist er die Folge oder die Ursache (oder auch zirkulär beides zugleich) der Verzweiflung. Die Verzweiflung ähnelt einem Tauziehen zweier etwa gleichstarker Mannschaften, die sich verkrampft und schwitzend auf der Stelle halten, während es immer nur ein paar Schritte in die eine und dann in die andere Richtung geht. Wenn ich diese Metapher übertrage, scheinen sich die zur Tat schreitende Hoffnung und die bremsende Furcht zu blockieren. Während sich die Hoffnung auf die Dolce Vita bezieht, nämlich auf Gesundheit, Schönheit und Liebe; könnte sich die Furcht auf frühkindliche Erfahrungen beziehen, nämlich auf Ohnmachtsgefühle und Traumata, welche sich so eingeprägt haben, dass immer wieder der Mut zum Leben boykottiert wird. Obwohl mein bewusster Wille nach den Superlativen des Lebens strebt, stemmen sich (unbewusste) leidvolle Erfahrungen gegen das Leben, insofern das frühst-erfahrene Leben als chaotisch und wahnhaft erinnert oder gedeutet wird – vielleicht durch ein pathologisch-hysterisches Verhalten der Eltern, durch welches das Urvertrauen des Säugling immer wieder vernichtet wurde. – Literarisch zeigt sich der unbewusste Wille zur Krankheit beispielsweise in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, wo sich Hans Castorp von zwei Urlaubswochen ausgehend schrittweise verlängernd (erst durch den Arzt, schließlich selber bestimmend) sieben Jahre vom normalen Leben zurückzieht. Der unbewusste Wille zur Krankheit kann ein Phänomen der Dekadenz sein, nämlich ein erkrankter oder ermüdeter Wille zum Leben. Während der Krankheit erhalten die streitenden Kräfte eine Auszeit, worin der Verzweifelte vom Zugzwang des Lebens befreit wird, sodass es heißt: „Ich würde ja gerne, wenn ich gesund wäre …“. Die Krankheit schafft eine legitime Ausrede, nicht Leben und sich für sein Nicht-Leben nicht rechtfertigen zu müssen. Freilich weiß ich nichts, muss mir aber das psychosomatische Phänomen des (erkrankten) Willens auf den Körper deuten. Vorher sollten alle chemisch indizierten Krankheitsaspekte ausgeschlossen werden, sodass zunächst für eine längere Zeit auf Ungesundes und alle Rauschgifte verzichtet wird.




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Kommentare zu diesem Text


 Augustus (07.04.24, 12:22)
Ein gute Zusammenfassung deiner Philosophie.  
Bzgl Wachstum wäre es vllt ratsam es zu spezifizieren. Seelischer Wachstum, geistiger Wachstum zb. 
Denn Wachstum allein der Körpergröße nach ist kein Anzeichen für den Sinn.
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