Eine Welt, in der es ein Zurück gibt

Kurzgeschichte zum Thema Visionen/ Vorstellungen

von  Alazán

Der Sommer neigte sich längst dem Ende zu und die letzten grünen Blätter wurden immer mehr zur Seltenheit oder Opfer hungriger Baumbewohner, die den nahenden Winter ebenso verspürten, wie Felicitas in ihrem geheimnisvollen Herzen, als sie aus dem Fenster sah. Ihr Freund musste jeden Moment kommen, je nachdem ob er mit dem Auto oder im Bus fuhr. Felicitas wusste, dass Felix und sie reden mussten und sie wunderte sich wieder und wieder, wieso ihr Herz seit einiger Zeit so anders und mulmig war. Genauer gesagt plagten sie viele Gedanken, die sie sich bisher noch nie mit anderen Menschen zu teilen getraut hatte. Es ging garnicht um Felix, nein, um den ging es nicht. Sie hatte nicht das, was in alten Büchern Herzschmerz gewesen sein musste. Oder doch? Nein, das konnte es nicht sein, dachte die junge Frau und wandte dem Fenster mit der dahinter liegenden Aussenwelt den Rücken zu.
Sie nahm einen Schluck des kalt gewordenen Grünen Tees und hielt das zierliche Porzellan für eine Weile verträumt in ihren ebenso zierlichen beiden Händen. Sie war sehr schlank, so dass man unter ihren jungen aber deutlich erkennbaren, weiblichen Rundungen einige Knochen ausmachen konnte. Ihre Haut war hell und makellos und musste ausserdem sehr weich sein. Ihr Haar umgab das zierliche Gesicht offen und golden von dem eine oder drei Strähnen sich lianenähnlich vom einem Auge zum anderen schwangen oder an der länglich, stubsigen Nase verblieben. Felicitas war wunderschön. Aber woher sollte sie das schon wissen?
Eine schwarze Krähe, die nahe an Felicitas einzigem Fenster vorbeiflatterte und sich schreppend beklagte und krähte, weckte die stille Schönheit aus ihren Tagträumen. Für gewöhnlich träumte Felicitas nicht. War sie krank? Ging das, und an wen musste man sich wenden, wenn der Zeitpunkt der Erkrankung schon so lange her oder gänzlich unbekannt war?
Da klingelte es. Sie ließ die Tasse aus Porzellan aus ihren Händen fallen und sie zerschellte in einige wenige und große Scherben auf dem Boden vor ihren Füßen. Sie schloss kurz die Augen, atmete ein mal tief durch und da klingelte es.
Felicitas stellte die Tasse mit einem restlichen Schlückchen kalten Tees in ihren beiden Händen behutsam auf den Tisch, lächelte schlank und warm und ging zum Flur, die Türe zu öffnen. Felix umarmte sie und genoß die Sekunden, in denen er seine geliebte Freundin so nah wie möglich an sich schmiegen konnte. Nach einem sanften Kuss und einem fast zu zärtlichen Augenblickwechsel gingen beide in Felicitas Zimmer und schlossen die Türe hinter sich zu. Felix war ein netter Mann, recht sportlich gebaut und immer verlässlich. Er hatte schwarzes, kurzes Haar, eine hohe Stirn und graublaue, zuversichtliche und auf eine bescheidene Art und Weise selbstbewusste Augen.
"Ich habe dir etwas mitgebracht, mein Schatz" lächelte er fast und warm, ohne seinen Schatz direkt anzusehen. Aus seiner braunen Lederjacke holte er eine kleine dunkelblaue Schatulle hervor. Felicitas deutete ihm schweigend an, sich zu ihr auf's Bett zu setzen und zog ihre Beine an sich, die sie dann mit ihren Armen umschlang um sich daran festzuhalten. Sie lugte hinter ihren kleinen Knien hinauf zu Felix, der sich still neben sie setzte und ihren Blick sehr mochte, wenn sie so süß hinaufschaute, ohne zu wissen, wie wunderschön sie eigentlich war. Ohne ein Wort rückte sie ihre schmalen Hüften an die von Felix und kuschelte sich an ihn. Er küsste sie auf die Nasenspitze, legte seinen Arm um sie und wiederholte die Geste mit den Lippen auf ihrer weichen Wange:
"Ich liebe dich, meine Felicitas..." flüsterte er behutsam. Sie spürte ihr klagendes Herz. Von innen klopfte jemand vehement dagegen, als wolle dieser jemand hinausgelassen werden. Doch Felix Herz, das hörte sie, da sie direkt auf einem Ohr daran lag, war genau so ruhig wie vorher. Es war normal. Sie war krank, sie hatte Angst. Sie war aufgeregt und hilflos, wenn gleich sie den Mann, in dessen Armen sie lag liebte. Sie sah zu der blauen Schatulle und Felix antwortete auf ihren Blick. Er öffnete sie langsam:
"Mein Schatz, du weißt, ich bin ein Freund von Romantik doch um so wichtiger scheint es mir, dich meine Frage an einem Ort zu stellen, der vielmehr vertraut und alltäglich ist, als an so einem, der von dem Wesentlichen vor lauter Kerzenlicht nur ablenken würde. Unsere Liebe ist überall und vielleicht ist sie sogar ewig, wenn... ". Er machte eine künstlerische Pause. "Willst du meine Frau werden?"

Felicitas war sprachlos. Nicht, dass sie das nicht irgendwann erwartet hätte. Aber was sie dann eigentlich antworten wollte, das hatte sie sich auch noch garnicht so genau übelegt. Sie öffnete ihren schmalen Mund und auf ein mal sprudelte es förmlich aus ihr heraus, wie noch nie:
"Was bedeutet all das? Was wäre, wenn wir für alles verantwortlich wären, was wir sagen und tun würden - Wenn wir einfach ein mal weiterleben würden, ganz egal, was auch Schlimmes passieren mag?" sie erinnerte sich an die Tasse aus Porzellan. Hätte sie sie vermisst, wenn es kein Zurück gegeben hätte?
"Wie wäre ein Leben mit nur einer einzigen Zeit, einer Welt, in der es kein Zurück gibt?".
Nun war Felix derjenige, der kein Wort mehr hervorbringen konnte. Würde sie ihn etwa nicht heiraten wollen? Warum wich sie aus und - wich sie aus? Was wollte sie? Ihre Fragen waren genial und es erschreckte ihn sehr, diese Idee von einer Welt, in der es kein Zurück geben würde
"Und was würde dann werden? Eine Welt voll Leid, Krieg und Schmerz - voller Fehler?" erwiederte er ihr, die dunkelblaue Schatulle mit einem goldenen Verlobungsring noch immer in der Hand. Sie richtete sich auf und sah ihm direkt in die Augen:
"Ja, eine leidende Welt. Aber auch voll Vertrauen, Liebe und Echtheit. Sie wäre realer. Man wäre jedem anderen Menschen nahezu schutzlos ausgeliefert. Es gäbe kein Zurück mehr, mit dem man falsche Worte zurücknehmen könnte - es gäbe kein Zurück mehr für alles, was man tut - man würde aufpassen, nachdenken, sich um den anderen kümmern!" Felicitas Augen wurden größer und von einer Faszination gefesselt, die irgendwo tief aus ihrer Seele gewachsen sein musste und sie sprach weiter:
"Und wenn es einen Menschen auf dieser Welt gibt, dem ich heute so sehr vertrauen würde, dass ich schwören möchte, auf ewig mit ihm zusammen sein zu wollen - ganz ohne die Möglichkeit auf ein Zurück - dann bist das du!"
Felix wurde überwältigt von Gefühlen. Sein gesamtes Weltbild, seine Gefühle und sein ganzes Leben sind mit diesen mächtigen Sätzen völlig auf den Kopf gestellt worden. Eine gefährliche, große Mischung aus Liebe und Angst überkam ihn und er wusste nicht, was in seine Freundin gefahren war. War sie in Wirklichkeit ein Engel mit einer Botschaft geworden? Völlig fassungslos sah er Felicitas an, wie eine Fremde. Seine Hände hielten diesen unheimlichen Gefühlsdruck nicht aus, sodass der goldene Ring aus der blauen Schatulle auf den Boden hinabfiel. Langsam drehte der Ring sich in der Luft mehrmals um sich selbst. Die Zeit blieb fast stehen. Auf welcher Seite würde der Ring landen? Felix schloss die Augen.

Der Sommer neigte sich längst dem Ende zu und die letzten grünen Blätter wurden immer mehr zur Seltenheit oder Opfer hungriger Baumbewohner, die den nahenden Winter ebenso verspürten, wie Felicitas in ihrem geheimnisvollen Herzen, als sie aus dem Fenster sah. Ihr Freund musste jeden Moment kommen, je nachdem ob er mit dem Auto oder im Bus fuhr. Felicitas wusste, dass Felix und sie reden mussten und sie wunderte sich wieder und wieder, wieso ihr Herz seit einiger Zeit so anders und mulmig war.

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Kommentare zu diesem Text


 Martina (04.02.07)
Ja, es gibt solche Sätze, die das ganze Leben aus der Bahn werfen ....Gern gelesen, Tina

 Alazán meinte dazu am 04.02.07:
Ich hoffe die Hauptaussage und Situation wird deutlich genug, z.B. anhand der Tasse die plötzlich wieder heile ist. Es ist eben eine Welt in der es ein Zurück gibt. Und Felix wählt dieses Zurück, weil er seine Felicitas nicht versteht, oder verstehen kann, wie es in einer Welt in der es kein Zurück gibt, wäre - Danke für deinen netten Kommentar
Und vor allem für das Lesen eines so längeren Textes
vlG
Philipp
tagträumerin (16)
(07.02.07)
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 Alazán antwortete darauf am 07.02.07:
Aber so ist es ja schon, wir leben ja schon in einer Welt in der es kein(!) Zurück gibt - Felix und Felicitas in der Geschichte jedoch leben in einer Welt, in der es ein(!) zurück gibt, und sie es rückgänig machen können dass eien Tasse runterfällt, oder dass sie sich mit jemandem gestritten haben. Und gerade die beiden, die das haben was viele hier auf unserer Welt sich wünschen, wollen lieber eine Welt ohne "Zurücks"

vielen Dank für dein fleißiges Lesen, den lieben Kommentar und deine Grüße freu mich auf dich

vlG
Philipp
tagträumerin (16) schrieb daraufhin am 07.02.07:
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 Alazán äußerte darauf am 07.02.07:
Na du Schmunzelbienchen - dann bedanke ich mich nochmal, ja du hast vollkommen Recht - die Kunst ist es, die Augenblicke die man gerne rückgänig machen würde entweder in Zukunft tunlichst zu vermeiden indem man sich vornimmt sich anders zu verhalten oder man hat die nötige Kraft, dazu zu stehen was man getan hat und das beste draus zu machen - denn die Zukunft ist eh nicht aufzuhalten - die Vergangenheit aber nicht einzuholen :-D

Danke fürs erneute Lesen

vlG
Philipp
HomoFaber (31)
(08.02.07)
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 Alazán ergänzte dazu am 08.02.07:
Danke für's fleißige Lesen, ich hoffe es war die Zeit wert - ich befürchte nämlich einen zu ausschweifenden Stil verwendet zu haben und damit die Hauptaussage des Textes an einigen Stellen schlichtweg zu verschleiern oder in den Hintergrund zu stellen. Danke nocheinmal
und
vlGz
Philipp
migaja (22)
(14.02.07)
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 Alazán meinte dazu am 14.02.07:
Aber natürlich kann ich damit etwas anfangen! Danke für den lieben und ausführlichen Kommentar du hast die Geschichte gut verstanden und mich freut, dass dir mein Stil gefällt- ja - zugegeben, es trägt nicht viel zum Sinn der Sache bei aber ich bin kein Ziel-fixierter sondern ein verspielter Kurzgeschichtenschreiber (wenn überhaupt) :-D

Danke auch für den Privaten Kommentar
vlg, man liest sich!
Philipp
migaja (22) meinte dazu am 15.02.07:
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