Der erfinderische Uhrmacher

Skizze zum Thema Schuld

von  Muuuzi

Der alte Mann sitzt auf einer Bank. Nachdenklich und stumm füttert er die Enten. Er schenkt ihnen kaum Beachtung. Sein weißer Schnurbart glänzt in der Sonne. Traurig starrt er ins Leere. Ab und zu seufzt er und versinkt wieder in seine Bewegungslosigkeit.
„Ach…!“
Sekunden spielen miteinander. Minuten tanzen. Stunden vergehen.
Die treibende Kraft der Zeit versinkt im endlosen Schlaf.
Der Morgen wird zu Mittag. Der Mittag wird zum Abend.
Der Frühling weicht dem Sommer. Dieser kämpft mit dem Herbst, ehe der Winter die Welt mit Schnee zudeckt. Bedeckt. Verdeckt.
„Was hast du, alter Mann?“
Er blickt auf.
Eine Ente watschelt über das Eis, welches sich zart auf den See gelegt hat. Wie ein Schleier bedeckt es die schreienden Wellen.
„Ich…Wer?“
„Ich habe es gesagt!“
„Wer, wer bist du?“
Der Mann blickt auf das kleine Geschöpf neben sich.
„Aber…!“
„Warum bist du so traurig, alter Mann? Warum tust du nichts anderes, als vor dich hin zu starren?“
„Ich… Mir ist nicht danach. Das ist alles! Und jetzt geh weg. Enten können nicht reden. Lass mich allein!“, der Mann kehrt ihr trotzig den Rücken zu.
„Wie kann dir denn nicht nach Freude sein?“, versucht es die Ente erneut.
„Trauer kann man nicht abstellen und sie in Freude verwandeln!“
„Aber man kann versuchen, das Beste daraus zu machen und die Trauer zu heilen!“
„Das geht nicht mehr. Es ist… es ist alles zu spät!“
„Es ist niemals zu spät!“
„Doch…!“, der Mann flüstert, ehe er verstummt und den Tränen nahe ist.
„Was ist passiert?“
„Das kann ich dir nicht sagen!“
„Dann musst du es verschweigen und mit dir rumschleppen!“
„Ja, das mache ich!“
Die Ente geht. Einsam watschelt sie davon.
„Was habe ich nur gemacht?“, fragt er sich abermals. Wie oft hat er sich die Frage schon gestellt. „Uhren haben mich immer interessiert. Ich hätte Uhrmacher werden sollen!“
Ewige Zeit verstreicht erneut, ehe er sich den Gedanken bewusst macht, dass in diesem Beruf alles von der Zeit abhängt.
„Ich hätte den Menschen Zeit schenken können, stattdessen habe ich sie ihnen genommen!“
Die Ente kommt zurück. Sie blickt ihn lange an, ehe sie ein Geschenk aus ihrem Gefieder zieht.
„Hier, ich will dir helfen!“
„Was? Was ist das?“, fragt der Mann überrascht.
„Es gehört dir. Ich will, dass du daran Freude hast.
Der Mann nimmt das Geschenk und betrachtet es.
Der Mann hält die Uhr lange in seiner Hand. Er betrachtet die Zeiger, die vergoldet auf dem Zifferblatt thronen.
„Woher hast du sie?“
„Ich habe sie gefunden! Viele Menschen werfen ihre Zeit einfach weg.“
„Welche Menschen tun das? Die ist doch sehr wertvoll. Echtes Gold!“
„Menschen wie du. Du wirfst dein Leben auch weg, obwohl es wertvoll und sehr kostbar ist! Es ist deine Zeit, die sich dann verliert!“
„Hmmm…“
Der Mann schaut nach einiger Zeit auf den See. Die Ferne des Horizonts erinnert ihn an eine alte Zeit. Leise verschwindet die Sonne über den Bogen der Welt und taucht in ein dunkles blau ein. Wie eine Kulisse erfindet sich der Himmel in den verschiedensten Farben.
„Ach, wie schön es damals war. Die Zeit in Ulm…“, er bricht ab.
„Danke für das Geschenk!“
„Bitte, gern geschehen!“
„Doch es ist zu spät!“,
„Warum?“
„Ich… Ich war am Bau einer Bombe beteiligt, die der Wissenschaft dienen sollte. Sie… sie bewirkte das Gegenteil. Niemand profitierte. Nur die gierigen Männer, die sie für furchtbare Kriege einsetzten.“
„Wolltest du, dass dies passiert?“
„Nein. Niemals!“, antwortete der Mann barsch.
„Wo ist dann das Problem?“
„Wo das Problem ist? Verstehst du denn nicht… dass… dass es ohne mich niemals zu dieser Zerstörung gekommen wäre?“
„Woher weißt du das?“
„Naja, ich hab sie erfunden!“, der Mann versank in einer unglaublichen Traurigkeit. Seine starren Augen verwandelten sich in ein tränennasses Meer.
„Das ist kein Grund. Womöglich wäre ein anderer Mann gekommen und hätte noch eine viel schlimmere Bombe gebaut. Womöglich hätte er sich gefreut und weiterhin angestrengt gearbeitet!“
„Ja aber…!“
„Du zeigst doch Reue? Du wolltest es nicht!“
„Nein!... Ich meine, ja ich zeige Reue. Ich… Ich habe aufgehört zu leben. Mein Tag besteht nur noch aus Folterungen, wenn meine Gedanken anfangen zu denken. Ich bin kaputt. Ich bin zerstört. Vollkommen ruiniert.“
„Nein.“
„Nein? Was meinst du damit?“
„Dein Gewissen ist rein. Du trägst keine Schuld. Du konntest nur die Konsequenzen nicht einschätzen.“
„Ich verstehe nicht…“
„Wenn ein Mensch böse ist, dann sind die anderen nicht Schuld daran. Sie sind nur die Mittel zum Zweck, verstehst du? Es lag nicht in deiner Macht, es zu verhindern. Wenn ein großer Mann solche Absichten hat, dann hätte ihn niemand aufhalten können. Nicht so. Ein anderer Mann wäre zu seinem Spielzeug geworden. Ein anderer Mann würde jetzt an deiner Stelle sitzen und weinen, wenn er ein ebenso reines Gewissen gehabt hätte wie du.“
Der Mann schluckte, ehe er sich schnäuzte.
„Warum weißt du das?“
„Das ist nicht wichtig. Ich weiß es einfach.“
„Könnt ich doch  nur die Zeit zurückdrehen…“
„Was würdest du machen?“
„Uhrmacher werden!“
„Vielleicht hättest du einem bösen Mann geholfen, mehr Zeit zu bekommen, indem du ihm eine Uhr gibst! Wäre das besser gewesen?“
„Nein…!“, er vergräbt sein Gesicht in den alten, faltigen Händen.
„Du bist ein sehr intelligenter Mann, doch glaube mir, du kannst Zeiten nicht rückgängig machen. Niemand kann das. Nicht einmal die Vergangenheit!“
„Was soll ich nur tun? Ich kann nicht mehr. Die Schuld verfolgt mich!“
„Dann blicke ihr ins Gesicht, sage ihr, dass du sie nicht willst. Sage ihr, dass du sie nicht verdienst, da dein Wille das nicht wollte. Weil deine Gedanken nicht daran dachten. Weil deine Meinung das nicht meinte. Eine gute Tat kann sich nicht verwandeln. Die Schuld kann ihr nur ein schwarzes Tuch anziehen, damit das Gute schlecht aussieht. Schicke die Schuld fort, denn sie belastet dich unnötig. Sie richtet dich umsonst zugrunde. Und das weiß sie auch. Das tut sie gerne. Das ist ihr Ziel. Sie spielt gerne mit den Menschen. Immer, wenn sie an sie glauben und sie bestärken zu bleiben, bleibt sie. Egal, ob verdienter- oder unverdienter Lohn.“
„Ente, woher weißt du das?“
„Ich kenne das Leben… denn ich habe es erschaffen!“
Sie lächelte, drehte sich um und flog in den Himmel.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (21.06.11)
So ein interessanter gut erzählter Text sollte Beachtung finden.
Aber Muuuzi
"Ich… Ich war am Bau einer Bombe beteiligt, die der Wissenschaft dienen sollte."
Eine Bombe wirtd niemals gebaut, um nur der Wissenschaft zu dienen. Das können nur sehr naive Romantiker denken.
Liebe Grüße
Ekki

 RomanTikker meinte dazu am 20.09.11:
He! ;o) Romanti(k)ker

 RomanTikker (21.09.11)
Die Ente ist arschcool. Musste ein paarmal lachen, bei ihren schnatteratattrigen Einwürfen. Ist gar nicht so einfach, einem Menschen in solch einer Stimmung die richtigen Worte an den Kopf zu schmeißen - eine Kunst der alten Meister aus Zen- und Sufi-Traditionen. Provokation ohne zu verletzten - ein putziges aus-der-Reserve-locken.
Ja, der alte Mann irrt. Trauer kann zur Freude werden. Ich glaube, gerade emotionale Extreme sind je zwei Punkte auf ein und derselben Skala. Wer das erkennt, nicht nur theoretisch, kann eine gelassene Heiterkeit erlangen, die direkt aus dem Jetzt entspringt, statt in Vergangenheit und Zukunft zu hängen, wie der alte Mann.
Die Ente hat's raus, auch wenn ich ihr nicht abkaufe, Urheberin der Schöpfung zu sein - reicht ja, dass sie die Uhrheberin des dasigen Teichs ist.
Ein schöner Text, gebe Herrn Mittelberg Recht. Er ist mehr als eine bloße Wiedergabe des Dürrenmatt'schen Gedankens über die unumstößliche Realisation von einmal gedachten Gedanken. und ganz besonders freut mich, dass die Ente nicht an Zeit glaubt. Ich nämlich auch nicht. Es geht immer weiter, aber ich habe aufgehört zu zählen, wohin.
Roman, 00:12 Uhr.
(Kommentar korrigiert am 21.09.2011)

 Muuuzi antwortete darauf am 21.09.11:
Was sind denn Dürrenmatts Gedanken? (in diesem Fall)

Danke für die ausdrucksvollen worte.

 RomanTikker schrieb daraufhin am 21.09.11:
Wenn ich mich recht erinnere, dann war einer von Dürrenmatts Tenoren in den Physikern der, dass ein Gedanke, der einmal Gedacht wurde, auch umgesetzt wird, egal von wem. Wie die Ente also schon sagt: Wenn der alte Mann die Bombe nicht gebaut hätte, hätte es ein anderer getan. in diesem Zusammenhang habe ich mal ein interessantes Interview mit einem dicken Fisch aus der Werbeindustrie gehört, der so ähnlich argumentiert hat. Er meinte, er könne wenigstens Einfluss darauf nehmen, wie genau die fiesen Ideen umgesetzt werden, mit denen er die Massen verführt ... ;o)

 Muuuzi äußerte darauf am 21.09.11:
muhahahaaa. ja das sind die bösen der welt.

Ich mag Dürrenmatt. Die physiker hab ich allerdings noch nicht gelesen.
Kennst du Oppenheimer?

 RomanTikker ergänzte dazu am 21.09.11:
Nicht persönlich. Aber habe über ihn gelesen. Manhattan Projekt ... die Bombe - letztlich hat Dürrenmatt diese Art von Geschichte auch in den Physikern verarbeitet. Einstein war ja zB. in einer moralisch ähnlichen Situation. Ich glaube, diese Leute waren weder verklärte Romantiker, noch klatblütige Killer. Sie waren sich der Tragweite ihres Handelns einfach nicht bewusst und haben den falschen Leuten in die Hände gespielt. Denen mit dem Geld und den Hintergedanken. ?
(Antwort korrigiert am 21.09.2011)

 Muuuzi meinte dazu am 21.09.11:
ja, alle nutzen die guten aus, damit sie das böse erreichen. oder so.

 RomanTikker meinte dazu am 21.09.11:
Wobei "die Guten" eigentlich in der Überzahl, sind oder? Sie/wir wissen es nur nicht. Oder haben Angst vor den mammonösen Goliaths und verschließen die Sinne (-> Zuckerwattenverpackung). _So_ gesehen hatten die Beatles Recht mit "All you need is Love". Aber auch hier kam das Geld aus einschlägigen Quellen (Tavistock Institut). Bla. Stoff für ein Buch. ;o)

 Muuuzi meinte dazu am 21.09.11:
Ein zitat:
"Unsere Generation wird nicht so sehr die Untaten
böser Menschen zu beklagen haben,
als vielmehr das erschreckende Schweigen der Guten"
(Martin Luther King)
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