Herren

Skizze zum Thema Abgrund

von  Muuuzi

Die Knospen, die von den alten Bäumen im Frühling geboren wurden, lagen nun gemeinsam mit anderen gefallenen Früchten verbraucht und alt in einem bunten Blattbett, dessen Unterfläche sich bereits zu einem geheimnisvollen Saft gebraut hatte, der es verstand, undichte Schuhe nass werden zu lassen.

Im alten, brökelnden Herrenhaus, das unweit der eben beschriebenen Matschlandschaft stand und schon lange von zwei Herren bewohnt wurde, gab es keine Fenster.
Die zwei Herren hatten anstelle ihrer, große Wandspiegel  anfertigen lassen, sodass sie sich gut sahen, wenn sie vorbeigingen oder davorstanden. Alles wirkte dunkler und beengender, auch wenn die Spiegelwelt ihre eigene Definition von Unendlichkeit besitzen mochte, da man zuerst den Raumraum erkannte, der sich durch die Widerspiegelung abzeichnet und schließlich den Raumraumraum erfassen konnte, wenn man so wollte. Die alten Herren liebten dieses Gefühl der beengenden, doch freien Wirklichkeitsbildung.
Die Hausbewohner waren nicht ineinander verliebt und doch mochten sie sich gern. Sie lebten nebeneinander, als wären sie Brüder, die sich im Krieg die Hände halten würden, falls es je dazu kommen müsste.
Wenn die Nachmittagssonne des kühlen Herbsttages die letzten Reste ihres Lichts spendete, merkten sie nichts davon. Wetter und Jahreszeiten interessierte sie nicht, da Unbeständigkeit nicht in ihre Lebensvorstellung passte. Stattdessen standen sie den halben Tag regungslos vor einem der 200 Spiegel und betrachteten sich.
„Ich sehe jedes Mal anders aus!“, meinte der Ältere
„Weil du jedesmal ein anderer bist!“, antwortete der Jüngere jedesmal.

Sie hatten keine Bücher, Uhren, Spiele oder Elektrogeräte, die ihre Zeit messen oder gestalten hätten können. Nach dem Aufwachen standen beide vom großen Doppelbett auf, umarmten sich innig und lange und putzen sich danach sorgfältig die Zähne. Das Früstück servierte der Ältere, während der Jüngere den stehenden Gestank  in den Räumen mit Parfum zu vertreiben versuchte. Nur ein unförmiges Loch im Dach, das vor Jahren entstanden  war, bescherte einen wundersamen und oftmals feine feine Luftzirkulation.

Die Alten hatten danach nicht mehr viel zu tun. Sie mochten den Herbst, auch wenn sie ihn kaum sehen, hören oder schmecken konnten. So sogen sie doch gern die frische und kühle  Luft in ihre verrauchten Lungen, die vom Dachboden herunterströmte und erfreuten sich der Abwechslung, wenn es regnete. Der Winter war ihnen zu kalt und sie konnten es nicht leiden, wenn Schnee auf ihren Socken klebte, der sich am Fußboden des zerrissenen Raumes gesammelt hatte.
Sie waren seltsame Kerle, die beiden. Nach einigen Stunden der Betrachtung in den Spiegelzimmern aßen sie Karotten und Mais zu Mittag. Ab und zu gab es auch Kartoffeln, die ihnen der Nachbar, der nicht weit von ihnen ein Bauernhaus besaß, brachte. Er hatte Mitleid mit den Trotteln, die es nicht wagten, ihren Fuß nach draußen zu setzen. Er schüttele den Kopf, wenn sie ihre Ware entgegennahmen und sich schüchtern verabschiedeten. 
Nachmittags küssten sie sich auf die Wange, erhoben sich vom Tisch, räumten auf und kämmten ihren Puppen, die sie in dunklen Schubladen aufbewahrten, die Haare.
Der Jüngere nannte seine Puppe Daisy. Es handelte sich um eine Schwarze, die täglich roten Lippenstift aufgetragen bekam. Der Kontrast löste in ihm eine eigentümliche Unendlichkeit aus, die er eigens für ihn erschaffen wollte. „Rot und Schwarz ist Dunkelheit. Dunkelheit bin ich, deshalb unendlich! “, sprach er bedrückt vor sich hin, während er der Puppe weiße Strumpfhosen anzog. „Jetzt Licht! Endlich Licht! Licht und Dunkelheit sind alles!“

Der Ältere verstand das Getue des Anderen nicht. Er spielte lieber mit seiner eigenen Puppe, die rosa Backen aufwies. Er fütterte sie mit Kraut und wechselte ihr die Windeln. So spielten die alten Herren den ganzen Nachmittag mit ihnen, bis sie sich erschöpft erhoben und sich für den Schlaf fertig machten.

Niemand wusste was in diesen seltsamen Geschöpfen vor sich ging. Niemand kannte ihr Geheimnis. Nur sie selbst wussten, dass sie die Welt mieden, weil man sie nicht duldete. Sie waren beide Männer, die mit Schrecken feststellen mussten, dass sie anders waren als die anderen Menschen, die sie bereits kennengelernt hatten. Sie waren verurteilte Rechtsbrecher mit geistiger Beeinträchtigung, die in unserer Welt nichts mehr verloren hatten. Dass sie nur spielen wollten, als sie das Mädchen töteten, soll dahingestellt bleiben.
Rechtsbrecher sind schließlich immer alle böse...

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