Wo bist du, Mensch?

Drama zum Thema Gut und Böse

von  tulpenrot

Wo bist du, Mensch?
Ein dramatischer Versuch


Der Prolog. Dem Anschein nach ein normaler Ort. Unser Ort.

Man ist es gewohnt, dass hier nichts Böses geschieht.
Die Männer lieben ihre Frauen, die Frauen ihre Männer, die Eltern ihre Kinder, die Kinder ihre Eltern. Wie sollte es auch anders sein? Sie grüßen ihre Nachbarn, bezahlen ihre Rechnungen. Die Gehwege sind reingefegt, die Scheunentore abends geschlossen. Die Blumen werden gegossen, die Tiere versorgt. Und wenn nachts Schnee gefallen wäre, hätte man ihn frühmorgens weggeräumt und aufgetürmt. Ein kleines Paradies. Man ist es gewohnt, dass hier nichts Böses geschieht.
Am Freitag denkt jeder daran die Fenster zu putzen und samstags wird Kuchen gebacken. Sonntags zieht man den dunklen Anzug an, im grauen Kleid geht man zur Kirche. Das Leben ist geordnet, die Menschen sind rechtschaffen. Man hält etwas auf sich.
Man ist es gewohnt, dass nichts Böses geschieht in diesem Ort. Hier bestimmt nicht.


Das Drama. Bei Licht besehen: kein Garten Eden

Hier bin ich. Eure Schlange.
Man will eine Kriminalgeschichte schreiben? Über mich? Aber wieso eigentlich? Bin ich eine Verbrecherin? Meinen Sie etwa, ich sei durch und durch schlecht? Wo sind die Beweisstücke meiner Untat? Ich lebe friedlich in meiner ureigenen Umgebung. Mitten unter den Menschen. Dahin gehöre ich. Es ist schön hier, wie Sie sehen. Wir haben einen Garten und keine Sorgen. Von allem ist reichlich da. Welches Motiv sollte ich für ein Verbrechen haben? Und überhaupt, was habe ich getan?

Die Schlange war das klügste Tier, das Gott gemacht hatte. „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft nicht von den Bäumen essen?“, fragte sie. Eva sagte: „Nur von dem Baum in der Mitte des Gartens hat Gott gesagt: Esst nicht davon, berührt die Früchte nicht, sonst müsst ihr sterben.“ „Ihr werdet bestimmt nicht sterben. Aber wenn ihr esst, werdet ihr wie Gott alles wissen und euer Leben selbst in die Hand nehmen können“, meinte die Schlange. Die Früchte waren verlockend und Eva nahm sie und aß. Sie gab ihrem Mann davon und er aß ebenso.

Ich bin doch keine Übeltäterin, das können Sie mir glauben. Am Tatort werden Sie keinen einzigen Fingerabdruck von mir entdecken. Wer hat etwas gesehen?

Zu der Schlange sprach Gott: „Verflucht sollst du sein wegen dieser deiner Tat. Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. Und Feindschaft soll herrschen zwischen deinen Nachkommen und ihren Nachkommen.“

Eine Tat? Ich habe doch nur laut und zu Ende gedacht. Seit wann ist das ein Verbrechen? Was andere daraus machen, geht mich nichts an. Ich habe nichts getan! Diese Anklage werde ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich weiß mich zu wehren. Verstanden? Sie werden noch von mir hören! Hören Sie auf, mich zu verfolgen. Es nützt nichts. Im Gegenteil! Rache habe ich geschworen, ewige Feindschaft meinen Anklägern. Seit Menschengedenken! Ich werde zuschlagen. Mir entgeht niemand.

Hier bin ich. Eure Eva.
Was habe ich Schlimmes getan? Welche Schuld trifft mich? Ist  mein Verhalten nicht typisch menschlich? Je länger ich darüber nachdenke, desto ärgerlicher und haltloser finde ich Gottes Beschuldigungen. Ja, ich habe von den Früchten genommen – nicht einfach so, sondern mit vollem Bewusstsein. Aber deswegen bin ich doch keine kriminelle Täterin! Nein, ich bin doch nur Opfer einer böswilligen Verführung! Ein anderer hat mein Verlangen geschürt. Ich konnte nur nicht widerstehen. Macht mich das zu einer Verbrecherin, die eine Todesstrafe verdient hat?
Mein Verführer hat es klug eingefädelt, und ich bin darauf hereingefallen. Ein richtiges Tier war er, ein gerissenes obendrein. Alles hat er in Frage gestellt. Ich kannte mich gar nicht mehr aus und wusste nicht mehr, wer Recht hatte: Gott oder dieses verführerische Wesen? Ich fand es mutig, als es wagte, an Gottes Autorität zu rütteln. Sind Gottes Worte wirklich so ernst gemeint? Diese Frage finde ich völlig berechtigt.
Überdurchschnittliche Erkenntnisse verhieß die Schlange uns, nämlich genauso wie Gott zu wissen, was gut und was böse ist. Das versprach sie uns. Großartig! Verlockend! Jedes Problem würden wir selbstständig meistern können. Das ist doch etwas Schönes, Besonderes – oder? Wir würden sein wie Gott. Dann bliebe er nicht so rätselhaft und wir könnten auch ihn durchschauen. Wer weiß, was er uns alles vorenthält? Und warum soll ich jetzt sterben, wie Gott es angedroht hat, ausgerechnet ich und nicht die Schlange? Das kann doch nicht Gottes Ernst sein! Wenn das Ganze schon so gefährlich sein sollte, warum lässt Gott dann diesen Verführer am Leben?  Gott, schau mich nicht so durchdringend an. Das fühlt sich an, als sei ich völlig nackt und ungeschützt. Das mag ich nicht. Geh weg. Dein Blick gefällt mir nicht. Du bist für mich sowieso gestorben.

Hier bin ich. Euer Adam.
Meine Sache war es noch nie, sich Sorgen zu machen. Warum auch? Mein Leben verläuft gleichmäßig ohne große Konflikte. Die ganze Welt gehört mir, wie ein großzügiger Garten sozusagen, der mir alles gibt, was ich brauche. Man kann sich direkt daran gewöhnen, sein Leben zu genießen – endlos! Meine Frau ist klug. Ohne Frage. Sie hat gute Argumente. Warum sollte ich nicht auf sie hören?

Gott brachte den Menschen in den Garten Eden. Er übertrug ihm die Aufgabe, den Garten zu pflegen und zu schützen. Und Gott machte dem Menschen eine Frau.

Ich habe mein kleines Paradies. Die übrige Welt? Die interessiert mich nicht. Was soll außerdem schon Unrechtes passieren? Am besten, jeder geht seiner Wege, bloß sich nicht einmischen in anderer Leute Angelegenheiten. Das bringt nur Verdruss und Unannehmlichkeiten. Gott? Ach, der ...
Klug ist meine Frau. Und ich will ihr in nichts nachstehen. Was ist schon dabei, zu wissen, was gut und was schlecht ist? Schließlich bin ich erwachsen und kann selber entscheiden, wie ich leben will. Naja, ich überschreite ein bisschen meine Kompetenz in Gottes Augen. Aber deswegen gleich sterben müssen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Zu wissen, was gut und böse ist, kann doch nicht tödlich sein.

Da gingen ihnen die Augen auf und sie merkten, dass sie nackt waren. Und sie versteckten sich vor Gott.

Doch manchmal gibt es Tage, an denen ich mich schlecht fühle. Eva geht es nicht anders. Dann kommen unsere Fehler und Schwächen, derentwegen wir uns furchtbar schämen, offen zutage. Wir schämen uns vor uns selber, vor einander und auch komischerweise vor Gott. Am liebsten wollen wir niemandem begegnen. Am liebsten halten wir uns jetzt unauffindbar für jeden, irgendwo versteckt. Womit sollen wir auch unsere Kümmerlichkeit und unser Unvermögen bedecken? Wenn wir es doch nur wegradieren könnten! Es geht aber nicht so ganz. Irgendetwas ist anders geworden in unseren Beziehungen. Als ob etwas abgestorben ist zwischen uns, tot. Das war früher nicht so.

Hier bin ich. Euer Gott.

„Wo seid ihr?“ fragte Gott. „Habt ihr gegen mein Verbot gehandelt und von dem Baum gegessen?“

Euer Blick ist nicht mehr frei und unbekümmert. Wer hat euch gesagt, dass ihr euch schämen müsst? Ich habe euch angeschaut, als ich euch erschuf, und alles war gut. Doch du, Mensch Adam, hast an dich genommen, was dir nicht zusteht. Und du, Eva, bist zu weit gegangen, als du auf den Verführer hörtest. Warum traut ihr der Schlange, mir gegenüber aber seid ihr misstrauisch geworden, als ob ich euch nicht alles geben, sondern euch etwas vorenthalten wollte? Leben habt ihr bekommen, vertrauensvolle Beziehungen habe ich euch gegeben. Doch ihr habt den Vertrauensbruch, den Tod gewählt.

Und zu dem Menschen sprach er: „Mit Mühsal wirst du dich ernähren, Dornen und Disteln werden wachsen. Und ihr werdet es nicht leicht haben im Umgang mit einander.“

So führt euer Weg nun hinaus aus meinem Garten in eine unwirtliche Welt. Nichts mehr wird jetzt selbstverständlich für euch sein. Unbequem wird es werden, wenn ihr entscheiden müsst, was Recht und Unrecht, was gut und was böse ist. Eure Zweifel werden wie Dornen sein, eure Entscheidungen werden euch viele Mühen kosten, eure Beziehungen werden immer wieder in Unterdrückung ausarten und eine Last sein. Dennoch will ich euch nicht in der Kälte eurer unheilen Welt allein lassen, will sie erträglich machen durch meine Liebe. Sie soll euch umgeben wie ein Mantel.

Und Gott der Herr machte für den Menschen und seine Frau Kleider aus Fellen.

Der Epilog. Mit Dunkelheit im Rücken: Unser Leben

Schon längst haben die Sträucher in den Vorgärten ihre schwarzen Schatten auf die Hauswände gelegt. Der Ort schläft einen stillen Schlaf. Vielleicht aber verschweigt er nur, was er nicht wahrhaben will? Vielleicht verbirgt er heimlich hinter dunkel verhüllten Fenstern, was nicht sein darf? Hinter wie vielen Türen wurde verriegelt, was unheilvoll mit dem Herzen gefühlt, mit Lippen gesprochen und mit den Händen getan wurde? Und ganz sicher haust noch spät manch trotziger Gedanke in den Stuben.

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Kommentare zu diesem Text


 franky (02.03.13)
Hi liebe Angelika,

Interessant wie du deine Gedanken durch Gut und Böse führst, die Bibel genauer unter die Lupe nimmst. Den Mut, Tabus zu hinterfragen.
War gerne bei dir zu Gast.

L-G Franky

 tulpenrot meinte dazu am 02.03.13:
Lieber Frnaky,
das lese ich gerne, dass du gerne hier warst.
Vielen Dank, auch für dein Sternchen.

Es ist für mich immer eine Herausforderung, in einem solchen Forum solche Texte zu posten. Sie sind ja nicht ganz einfach - wenn sie aber hier stehen, bin ich eher geneigt, an ihnen weiter zu arbeiten, als wenn sie in meinem PC im Ordner vor sich hinschlummern.

LG
Angelika

 AZU20 (03.03.13)
Interessante Gedanken zum Thema Gut und Böse. LG

 tulpenrot antwortete darauf am 05.03.13:
Finde ich auch
LG und Danke!
Angelika

 Ganna (07.03.13)
...und der Mensch/Leser bleibt mit einer dunklen Ungewissheit zurück...oder ist es gar Gewissheit?

LG Ganna

 tulpenrot schrieb daraufhin am 07.03.13:
Hallo Ganna,
dass du dir so einen schweren Text am frühen Morgen zugemutet hast, ehrt dich.
Danke für deine Worte und deine Empfehlung.

Ja, das wollte ich, dass der Leser sich ein eigenes Bild (von sich?) macht. Aber kann man auch das HOffnunsgvolle herauslesen? Der Text ist hoffentlcih nciht nur dunkel...
LG
tulpenrot

 Ganna äußerte darauf am 07.03.13:
...tatsächlich lässt mich der "trotzige Gedanke" im letzten Satz mit Hoffnung zurück...wie ich überhaupt finde, dass der gesame Text durch seinen Epilog stark wird...

....ich finde ihn sehr gelungen, hab' ihn nun am Nachmittag noch einmal gelesen...

LG Ganna

 tulpenrot ergänzte dazu am 07.03.13:
Das finde ich natürlich schön. Danke und liebe Grüße
Jonathan (59)
(15.03.13)
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 tulpenrot meinte dazu am 15.03.13:
ja, an dem Text bin ich schuld. Gefällt er dir etwa nicht?
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