Reisen im Elfenbeinballon (7) - Tityos

Lyrischer Prosatext

von  autoralexanderschwarz

Der Elfenbeinballon ist wie von selbst in den Sturzflug übergegangen:
Immer schneller geht es nun hinab.
Alles ist verschwommen,
Alles rast vorbei:

Die Geschwindigkeit zieht längst Schlieren über unsere Netzhaut.
Wir sind so schnell, dass wir uns bereits dem Tartaros nähern.

Kurz vor der Hölle aber trifft uns ein verzweifelter Schrei:
Wir zucken zurück. Wir sind irritiert. Wir wundern uns:
Nichts hat es uns je so in die Augen getrieben,
Wir waren ahnungslos:
Wir interessierten uns nie für die Grausamkeiten der Götter.

„Zu wem gehört dieser Schrei?“, fragen wir die Erde, während wir auf sie zu rasen.

Zunächst schweigt die Erde beschämt:

Dann antwortet Gaia mit einem Gedicht:

So blutig-schön gerinnt der Atem,
So schmerz-durchtränkt das Büßerkleid,
Für einen einzigen Moment,
Gedehnt bis in die Ewigkeit.

Die Schnäbel hacken – Tityos –
Und die Erinnerungen schmelzen,
So wehrlos-schwach liegt der Koloss,
Kaum Raum, um sich im Schmerz zu wälzen.

Ein Meer zertrümmert ihm Gedanken,
Umspült das traurige Gerippe,
Längst ist kein Ufer mehr zu sehen,
Nicht mal der Schatten einer Klippe.

So schreit er seinen Schmerz hinaus,
organisch-konzentriertes Leid
In einem einzigen Vokal:
So schreit er für die Ewigkeit.


Erst als Gaia verstummt,
Erreichen uns die Adler.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Der obenstehende Text ist Teil der Textsammlung „Reisen im Elfenbeinballon“, die im Athena-Verlag erschienen ist.  Reisen im Elfenbeinballon

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