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Kurzgeschichte zum Thema Voyeurismus

von  RainerMScholz

In den Ecken und Nischen sammelten sich Schatten, der Unrat der Zeit, aber die zentrale Fläche der gläsernen Boxen war grell ausgeleuchtet und schlichtweg alles war im Grunde zu jeder Zeit einsehbar, jede Bewegung konnte verfolgt werden, jegliche Rührung der Delinquenten, alle noch so gewöhnlichen, alltäglichen oder absurden Handlungen und Tätigkeiten.
Wie jeden Donnerstagnachmittag war Tim mit seiner Heimgruppe zu Besuch im Juriszooikum. Hier wurden Schwerverbrecher ausgestellt wie früher Löwen, Pinguine und Orang-Utans, als es solche Lebewesen noch gegeben hatte, und bevor man beschlossen hatte, diese Art obszöner Zurschaustellung denen vorzubehalten, die es per Gerichtsbeschluss verdienten, um so auch einen pädagogischen Mehrwert zu kreieren, der der Abschreckung dienen sollte und der soziologischen Forschung.
Tim faszinierte es stets aufs Neue, die Eigenheiten der verschiedenen Objekte genau zu beobachten und im Geiste nachzuskizzieren, die kleinen Feinheiten in den Mimiken, die Bewegungsabläufe, die Manien und die Gestiken, wie bei einer feinen Tuschezeichnung auf weißem Gehirn.
Die Vergewaltiger onanierten viel und exhibitionierten sich regelrecht, manche versuchten das Ejakulat durch die Luftschlitze auf das Publikum zu schleudern, aber das gelang nur selten und zog Strafen nach sich wie Elektroschocks, bei denen sie zuckten und zappelten wie durchgedrehte Gliederpuppen, sehr zur Belustigung der Zuschauer; oder ihre Box wurde kurzzeitig unter Wasser gesetzt, dass man sich vorkam wie in einem Aquarium. Die Mörder saßen meist dumpf in einer Ecke und starrten vor sich hin. Manchmal bekam einer „den Koller“ und rannte frontal gegen die Glasscheibe oder verletzte sich selbst mit Zähnen oder Fingernägeln; das war eine ziemliche Schweinerei auf dem Glas und dem Boden, wirkte aber auch sonderbar pittoresk und, ja, bunt in dem ansonsten mit der Zeit eintönigen Einerlei, dem Grau an Grau der Boxen, der nackten Exponate, der Gewöhnlichkeit ihrer Verrichtungen und Angelegenheiten, von vielleicht kleinen Schrullen und Macken und Psychosen einmal abgesehen.
Tim hielt sich gern alleine, abgesondert von seiner Ausflugsgruppe, bei den Mördern auf, sollten die anderen doch zusammen oder in Paaren über das weitläufige Gelände des Zoos laufen. Besonders ein Verurteilter fand sein Interesse: Hannes Dittrich, mehrfacher Mörder aus Habgier, impulsivem Kontrollverlust und schweren psychosozialen Defiziten, wie seinem Persönlichkeits- und Aburteilungsprofil zu entnehmen war. Tim setzte sich Dittrichs Box gegenüber auf eine Bank, aß eine Bratwurst, trank eine Cola mit Strohhalm und sah dem nackten Verurteilten zu, wie er da saß und auf den Weg vor seiner Box starrte, dann auf seine Fingernägel, sich am Rücken kratzte, in das Urinal urinierte oder einfach auf der kahlen Pritsche lag. Manchmal bekam Dittrich sein Essen durch die Luke, als Tim auch gerade zu Mittag aß. So nahmen sie die Donnerstagsmahlzeit oft gemeinsam ein, immer wenn Tim es einrichten konnte, ohne zuviel Aufmerksamkeit zu erregen, denn es wurde nicht gerne gesehen, dass er sich so oft von der Gruppe absentierte, und seine Betreuer hätten es schon gar nicht gemocht, dass er mit einem Exhibitierten quasi fraternisierte.
Ohnehin versuchte Tim alles, um nicht in seiner Heimgruppe aufzufallen, was ihm nicht schwer  fiel, denn die anderen mieden ihn, auch wenn ihn das von Zeit zu Zeit schmerzte. Aber je mehr er sich bemüht hatte, umso abweisender waren sie geworden, und so ließ er es schließlich ganz bleiben. Letztendlich versuchte er nur noch, sich möglichst klein zu machen, grau und unscheinbar. Er bemühte sich, nicht da zu sein.
Nur hier bei Dittrich, zu diesem Zeitpunkt des Donnerstag, wenn sie zusammen aßen, da gab es so etwas wie eine stille Übereinkunft, den Austausch geheimer Zeichen, stillschweigendes Zutrauen, unmerkliches Nicken und wissende Blicke. Nur hier bei Dittrich schien Tim eine selbständige und anerkannte Existenz zu besitzen.
Als das Juriszooikum eine Praktikantenstelle ausschrieb für das Heim, meldete Tim sich auf der Stelle. Er wurde auch prompt angenommen, außer ihm hatte niemand Interesse gezeigt. Nächste Woche schon sollte es beginnen und Tim war ganz aufgeregt, versuchte aber sich nichts anmerken zu lassen. Er dachte, seine Heimfreunde, wie sie gehalten waren sich zu nennen und voneinander zu denken, würden ihm die Stelle neiden, und was das bedeutete, ausgeschlossen und angefeindet zu werden, das hatte er des nachts in dem großen Schlafsaal schon des öfteren schmerzhaft in Erfahrung bringen dürfen.
Montagmorgen meldete Tim sich an dem bezeichneten Platz bei seinem Einweiser. Der machte ihn mit den Abläufen vertraut, zeigte ihm die Handgriffe, die anzuwenden waren bei Fütterung und Säuberung und ließ Tim dann alleine und in Ruhe arbeiten. Er hatte viel Zeit, unbeaufsichtigt durch die Gänge zu stromern, schaute bei den Vergewaltigern und den Kindsmördern nach dem Rechten, bei den gruseligen Perversen, die ihre Opfer folterten oder bei den Debilen, die nicht so genau wussten, was da eigentlich mit ihnen passierte oder warum. Nur in Dittrichs Abteilung durfte er noch nicht, denn da saßen die, die mit Berechnung oder völlig unvermittelt gemordet hatten. Und Dittrich zählte ja zu beiden Kategorien.
Er machte also sauber, putzte die Scheiben – von außen -, kehrte die Gänge und schob Essenstabletts durch gesicherte Luken. Abends stellte er den Besen in die Kammer, duschte, denn es roch an manchen Gehegen ziemlich streng, zog sich um, und ging zurück ins Heim. Keiner fragte ihn oder wollte etwas von ihm wissen, und er erzählte nichts.
In der folgenden Woche bekam er Gelegenheit bei den Schwerstkriminellen zu arbeiten. Er sah Dittrich jeden Mittag, wenn er das Essen austeilte. Nachdem er alle versorgt hatte, setzte er sich mit einem Pausenbrot Dittrichs Box gegenüber auf einen umgedrehten Putzeimer. Sie beobachteten, ja belauerten sich scheinbar. Bis Dittrich die Hand hob, kurz winkte und seine Hand dann schnell zu einer Strähne führte, um sie sich aus dem Gesicht zu wischen. Kontakt war natürlich strengstens verboten, Gespräche erst recht, alles wurde penibel kameraüberwacht. Aber die Systeme waren so ausbruchssicher konzipiert, dass man zu deren Kontrolle nicht viel Mühe aufwendete. Tim zwinkerte unbeholfen, es sah aus, als hätte er etwas ins Auge bekommen. Tatsächlich musste er jetzt mit dem Handballen das Auge drücken und reiben, da es juckte. Als er wieder klar sehen konnte, blickte er in Dittrichs Gesicht, das sich jetzt ganz nah an der Scheibe befand, es schien zu lächeln. Tim erschrak, krachte von dem Putzeimer auf dem er saß und ließ seine Mahlzeit zu Boden fallen. Dann lachte er. Beide senkten sogleich den Blick. Der Kontakt war viel zu offensichtlich. Tim beendete seine kurze Pause und verließ den Raum, in dem er sich eigentlich gar nicht so lange hätte aufhalten dürfen.
Tim begann einen Plan zu fassen.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (21.12.19)
Diese Art einer erwachenden Liebe übersteigt vermutlich das Fassungsvermögen der Zoobesucher und noch mehr die des vollzeitbeschäftigten Personals.
Da bleibt mir nur, "Glück auf!" zu wünschen.

Absolut spannend uns sprachlich brillant erzählt.

Des Lobes volle Weihnachtsgrüße
der8.
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