Karlsruhe

Erzählung

von  minze

Die Wochen nach dem Abi atme, schlafe, esse, lebe ich darauf hin. Jede Tagesaktivität verstreicht bewusst zu einem Ziel hin: Ausziehen. In eine große Stadt, für mich auf jeden Fall, keine Weltstadt, eine Stunde Autofahrt weg von den Eltern. Weg von den Dingen, die wegen ausgesetztem Widerwillen direkt in mein Herz geschleust werden. Weiter nährt sich dieser wabernde Bodensatz aus Bedrängnis. Immerhin konnte ich mich in der Zeit des Lernens gut absetzen und etwas zur Ruhe kommen. Und ich konnte alle fluchtartigen Notizen in den Büchlein als Art Luftschacht meiner Herzkammern aktivieren.

Dass ich mich aufmachen werde, fühlt sich großartig an, ich beginne mit meinem neuen Leben, als ich nach einer Parkplatz-Abifeier betrunken in der Badewanne liege und Fertigpizza esse, die nicht wirklich fertig ist und denke nur so platte Sachen wie „Leider geil“ oder so – aber das Gefühl, das geht viel weiter, das reicht bis nach Karlsruhe und da wird sich dieser Gedanke „Leider geil“ ausbreiten, sich so weit und hell machen, dass alle Schächte aufreißen und in mir das bunte Leben einzieht, ja. In diesem Badewannenmoment höre ich kaum mehr meinen fluchenden Vater, der nach Hause kommt und auf dem AB Anweisungen meiner Mutter hört, der mich ruft, weil er denkt, ich hätte schon die Blumen gegossen oder könnte. Schon jetzt geht es mich so viel weniger an, jeden Tag geht es mich weniger an.
Als ich in mein WG Zimmer nach Karlsruhe ziehe, sorgt eine Art Holzteppich dafür, dass es wohnlich ist. Die ganze Wohnung ist weiß gefliest. Eine Frauen-WG mit einer gemeinschaftlichen Küche, die aber ohne Sitzgelegenheit ist. Nicole, die bei L'Oreal arbeitet, hat das größte Zimmer mit Balkon und bietet mir an, ich kann da auch durchgehen, wenn ich mal raus will. Die Küche hat nur eine Mini-Kaffeemaschine, ich muss auch schnell feststellen, dass es mehr nicht braucht, weil die zwei Male, die ich durch den Flur rufe, ob jemand Kaffee mittrinkt, nur einmal eine erschrockene Antwort aus Steffis Zimmer kommt: „Warum?“. Ich halte mich selten auf dem Balkon auf, und wenn, dann komme ich nicht umhin, etwas Nicoles Zimmer zu inspizieren, die halbleere Roséflasche von Penny neben ihrem Bett, die französischen und amerikanischen DVDs und all die Pröbchen von L'Oreal. Auf dem Balkon habe ich vor allem anfangs Kaffee getrunken. Ich bin aber neben dem Schichtdienst meines FSJ hauptsächlich in meinem Zimmer, zum Schlafen und Schreiben. Oder ich bin in der Stadt unterwegs. Ich gehe erstmals in Plattenläden, entdecke die Improsessions im Radio Oriente und allein wegen des geilen Namens gehe ich ins Carambolage, Billard spielen. Einmal mit Schulfreundinnen, die auch mal was in einer großen Stadt machen wollen. Da passiert dann was Schmeichelhaftes, ein technischer Student will meine Handynummer und ich gebe sie gerne her, weil sein Kumpel Masud so süß ist. Er ist Perser, als ich einmal bei ihm bin, erklärt er mir, wie Perser Reis kochen und ich denke, ich würde mich gut in seine Familie einfinden. Aber in der kurzen Zeit, in der wir uns treffen, bleibt der Einzige, der mich toll findet, Julian, und ich lasse mich darauf nicht ein.

Im Wohnheim fühle ich mich erwachsen. Auch wenn ich meist wenige Minuten zu spät komme, ich wohne einfach zu nahe bei der Arbeit. Ich denke kurzzeitig, dass ich nie wieder richtig arbeiten werde, wie ich das hier mache, weil ich schon weiß, dass ich Lehrerin werde. Später wird sich das noch zeigen. Ich esse richtig viel, in der WG gibt es eine Art Pasta-Schale, die ich zu dem Zweck entdecke. Meist das Gleiche: Spaghetti mit Zucchini- Tomatensauce, mit einer Scheibe Gouda. Wochenlang, alleine und zufrieden. Der Schichtdienst und die Kraft, die ich aufbringe und verbrauche, um die schwerbehinderten Kinder und Jugendlichen zu pflegen, zeigen mir, was ich alles kann. Und wie ausgeleert und frei mein Kopf nach Arbeiten ist. Bei Spätdienst schlafe ich den ganzen Morgen. Und auch sonst liege ich oft nur da und fühle in meinen Armen und Beinen, dass ich hier gebraucht werde und total im Saft stehe.
Eines Tages werde ich zurückgeworfen in eine seltsame Episode meines letzten Praktikums in Frankreich. Ein paar Wochen vor dem Abi war ich dort in einer Ecole Maternelle, ich wohnte bei Freunden meiner Eltern und suchte im Internet nach WGs. Eine praktikable, nüchterne Möglichkeit hatte sich ja schnell ergeben. Kurz zuvor meldete sich dieser Mann, schickte Bilder von sich und eine Mail mit umständlicher Message: dass er offene Menschen und Herzen suche oder so, um dann eine gemeinsame Wohngemeinschaft zu gestalten. Alles Weitere zeige sich, sagte er. Und ich schrieb also noch zwei, drei Mal zurück, nahm gleich die Möglichkeit des Handykontaktes wahr. Aber dann meldete sich Nicole und ich verwarf den Kontakt zu ihm, verabschiedete mich höflich und hörte nichts mehr. An dem Tag ruft er mich an. Ich habe keine Ahnung, wer es ist und um was es geht. Ich kenne diese Stimme nicht. Er will einfach nur quatschen und fragt, wie es mir jetzt geht. An dem Junitag vor vier Monaten hatte er mal in einer SMS geschrieben, dass er spüre, ich sei traurig. Das war damals genau so. Irgendwas in mir fühlte sich berührt, damals.
Ich antworte ihm auf jeden Fall, dass ich nicht weiß, wer er ist und bestehe darauf, dass er sich verwählt hat. Und er reagiert total angefasst und sagt: „Na dann, fröhliche Weihnachten!“ Im Oktober. Er legt laut auf. Ich liege in meinem Bett und alles dreht sich. Ich hatte Frühdienst und bin erst von meinem Mittagsschlaf aufgewacht. Ich habe den Eindruck, das Leben zieht mich in seinen Sog. Bin erschrocken, denke, ich habe jemandem Unrecht getan. Gleichzeitig klingt es unbeholfen und lustig, dass er „Fröhliche Weihnachten“ sagt. Und unvermittelt gebe ich diesem Sog nach und rufe zurück. Er klingt ganz weich und versöhnlich am Telefon. Wir telefonieren Stunden, keine Ahnung, wie viele.
Ich schlafe wenig in der darauffolgenden Nacht, wir telefonieren noch einmal. Am nächsten Morgen gehe ich arbeiten und muss im Wohnheim mit den Kindern frühstücken, trinke ein paar Senseo-Kaffee mehr. Ich bin aufgedreht, weil ich weiß, dass ich ihn am Nachmittag wieder anrufen werde. Heute bade ich Daniel. Er ist das süßeste Kind auf der Wohngruppe, vier Jahre alt, Downie und so leicht, dass man ihn gut ohne Lifter tragen kann. Es ist nur stressig, ihn mit der Spezialcreme einzucremen, weil er so zappelig ist. Er lacht, wenn man sich über ihn ärgert und ich lache mit. Damals trage ich noch nicht dauernd das Handy mit mir herum, wie ich das später machen würde. Aber mein Kopf ist trotzdem beim Display, weil ich checken möchte, wann ich genau telefoniert habe, ob vielleicht eine Nachricht da ist und so weiter. Daniel ist endlich eingecremt, aber ich habe das kleine Mulltuch für die Magensonde vergessen. Und ich muss mit Christel zur Musiktherapie, sofort. Als ich Daniels Bettgitter hochmache, vergesse ich die wesentlichen Handgriffe. Daniel umdrehen, Hände festhalten mit links, mit rechts Gitter entsichern und hoch. Seine Hand wird eingeklemmt. Sein Nagel bricht ab. Er blutet und brüllt. Die verantwortliche Heilerziehungspflegerin kommt sofort. Seine Bezugs-HEP. Sie ist die Neue im Dienst und die Engagierteste. Sie ist eigentlich in meiner Gegenschicht, aber eingesprungen, sowieso nicht so begeistert. Und sie schaut mich mit dem Blick an, der einerseits verständnisvoll sein will „Das kann passieren, das ist nicht deine Schuld.“ Aber auf der anderen Seite ist eben auch dieses „Mann, die FSJ!“ in ihrem Gesicht. Ich will und will ihn nicht erstversorgen, aber die Frage stellt sich auch gar nicht mehr, weil Anne mir klare Anweisungen gibt und ich einfach das Material suche und bereitstelle. Ich finde fast alles sofort und funktioniere gut. Ich möchte innerlich kotzen, aber gleichzeitig spüre ich eine große Reife, weil ich das Würgen zurückhalte und wir beide schnell und ruhig Daniel versorgen. Er pennt gleich ein und wirkt später zufrieden im Schlaf. Aber ich habe einen Schutzbefohlenen verletzt. Genau in diesem Wortlaut denke ich diesen Satz, immer wieder.
Als ich später nach Hause fahre, trinke ich einen Kaffee, nochmal auf Nicoles Balkon und rufe ihn an, um die Geschichte von Daniel zu erzählen.

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Kommentare zu diesem Text

Konkret (54)
(29.05.20)
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 minze meinte dazu am 29.05.20:
Ne ich meinte wirklich einen Teppich, der aus feinen Holzlatten gemacht ist. Er liegt ja auf Fliesen. Ist das vorstellbar? Er sieht aus wie Parkett quasi. Danke fürs Kompliment!

 Dieter_Rotmund (29.05.20)
FSJ bei der AWO oder bei der Lebenshilfe?
Das Radio Oriente gibt es nicht mehr. Im Carambolage war ich schon viele Jahre nicht. Loreal gibt es in Karlsruhe nicht, die heissen "L'Oreal". Hast Du eigentlich was gegen Bindestriche? "Billiard" ist der hässliche Bruder von "Medaillie".

 minze antwortete darauf am 29.05.20:
Ja schade, für eine Improsession würde ich nochmal anreisen.Danke für die Hinweise!

 minze schrieb daraufhin am 29.05.20:
Hm Bindestriche.Mal nachdenken,ob es den Lesefluss verbessert. Wo das FSJ ist,spielt für den Text keine Rolle :)

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 30.05.20:
Die Erzählerin wohnt eine Stunde von Karlsruhe entfernt? Ich würde tippen, sie kommt von der Bergstraße oder aus der Offenburger Gegend, nach Pfalz klingt sie nicht. Schwäbin? Ja, Schwäbin wird sie sein, Ludwigsburg. Oder aus irgendeinem vergessenen schwäbischen Tal, stimmt's?
Die Senseo-Kaffeemaschinen gibt es erst seit 2001, das Oriente schloss 2014. Also spielt das in den späten Nullern, würde ich sagen, vorher machten Zivis diesen FSJ-Job.
Wir hatten bei uns im Verein auch einen FSJler, für den war es aber bei weitem nicht so anstrengend!
Gerne gelesen, ich mag Geschichten mit Lokalbezug, das trauen sich hier auch die wenigsten.

Antwort geändert am 30.05.2020 um 08:58 Uhr

 minze ergänzte dazu am 30.05.20:
Gut kombiniert.folge der Spur des Begriffes "stalpen" ;) ...ansonsten:ja,macht Freude über ein Gefühl bzw Episode zu schreiben,die mit dieser Stadt verknüpft sind und ich denke,ich könnte/sollte den Lokalbezug noch deutlicher machen. Auch die Erfahrungen aus dem FSJ sind nur angerissen.
Dankeschön.
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