Ecole maternelle

Erzählung

von  minze

Als ich von der Ecole Maternelle zu Richauds nach Hause will, bin ich mir sicher, wie ich gehen muss. Nach vier Tagen, endlich. Ich höre Moby auf dem MP3 Player und bewundere diese Steinmauern und Steinhäuser, die hier wohl schon lange gepflegt werden. Es gibt wenige moderne Häuser, erst, wenn man an den Ortsrand kommt, wie ich irgendwann, da gibt es dann auch einige Schwimmbäder. Bei der Allée, die heraus führt, sind kleine Sträßchen, aber alle, inklusive der Allée, schlängeln und verlieren sich eigentlich in einem lockeren Straßenteppich. Es gibt hier kaum Verkehr. Und obwohl es die Hauptader ins alte, kleine Industriegebiet ist, steht da ein Stop-Schild, typisch. Ich kenne das Land noch nicht Ewigkeiten, aber das fällt mir auf. Und da steht er, mit seinem roten, kleinen Auto und ich gehe langsam, ein bisschen zögernd, denn es verunsichert mich, dass er wartet und wartet. Als ich auf Höhe bin, kurbelt er sein Fenster runter, kein automatisches Runterziehen und zeigt sein Gesicht. Ziemlich dunkler Teint und schwarze, glänzende Haare. Ich bin von der Erscheinung kurz überfordert, versuche meinen MP3 auszustöpseln, er fragt mich was, ich verstehe nichts, mit einem Mal finde ich den Motor auch ziemlich laut und versuche ihm das zu erklären. Er checkt langsam, dass ich keine Französin bin. Er versucht trotzdem seine Frage ou se trouve-t-il le centre-ville ? und ich eine Antwort je suis pas d’ici und scheint erleichtert, dass er mit mir sprechen kann. Er lächelt breit und sagt, dass ich ihm einfach aufgefallen sei und wir uns doch wiedersehen können. Dann findet er was zu schreiben und gibt mir seine Emailadresse. So einfach geht das. Er legt einen Gang ein und fährt los, als wäre er doch zu lange am Stop gestanden. Und ich mache die Musik wieder lauter und bin voll am Schweben. Ich werde mich später ins Bett legen und träumen, entweder mit oder ohne anfassen. Er hat braune Augen.
Patrick hat eine kleine Schallplattensammlung, neben Chansons Klassiker, von denen mir viele ein Begriff sind. Wir hören an einem Abend die Schallplatten, nachdem wir Stadium Arcadium von den Chili Peppers fertig angehört haben. Ich will mir das Album kaufen, wenn ich wieder zu Hause bin. Er raucht nur eine oder zwei Malboro am Tag, auch nur am Abend, wenn er mit der Arbeit und dem Abendessen durch ist. Wenn ich ihm Gesellschaft leisten könnte, würden wir an diesem Abend noch einen Rotwein trinken, aber ich traue mich nicht, auch wenn ich fast 19 bin, irgendwie ist er in dieser Frage doch mehr in der Vaterrolle als in der Rolle eines Freundes. Deswegen sitze ich ohne etwas in der Hand neben ihm und er raucht schweigend, ich bewege die Finger langsam am Gartenstuhl entlang, wir hören Stairway to heaven. Ich kenne es, aber jetzt klingt es sehr eindrücklich, klingt es nach dem ersten richtigen Mal. Ich schaue seine Augenpartie an, sie ist so wild, strahlend und mit den Falten um sie herum hat er Schmiss. Er erzählt ein bisschen von seiner Jugend, für mich findet die Musik einfach nur jetzt statt und er passt so gut hinein wie ich. A propos de ce garçon, fängt er an. Ich glaube, Christine wollte mich nicht ansprechen, aber hat deutlich zu ihm gesprochen. Sie wollen nicht, dass ich Mika treffe. Sie kennen ihn nicht. Tatsächlich schätze ich, dass Patrick viele aus dem Ort kennt, da seine Eltern schon hier geboren sind. Und Christine fühlt sich für mich verantwortlich, als sie das erste Mal bei uns zu Hause waren, da war ich elf Jahre alt. Sie hat so einer Mütterverbundenheit mit meiner. Sie ist klein und auf höfliche Art leise, aber hat ein genaues Auge und klare Worte, wenn sie sich gefragt fühlt. Ich gebe mich sehr diplomatisch und vernünftig, ich sage Patrick, dass ich auch nichts über Mika weiß und ihn verstehe. Ca peut être n’importe qui , aber innerlich bäume ich mich auf, natürlich, und ich überlege, wie ich vorgehen soll. Mit Sarah, sie ist fünfzehn, spreche ich kurz, aber sie ist wirklich diplomatisch und vernünftig und für mich in diesen Fragen wohl doch keine Ansprechpartnerin. Ich hoffe, dass ich mich kurz genug gehalten habe, denn sie steht ihrer Mutter nahe.
Da ich bald von zu Hause ausziehen werde, werde ich jetzt anfangen, eigene Wege einzuschlagen. Ich kann Patricks PC nutzen, auch wenn ich es nicht lange mache, weil wir die Abende gemeinsam verbringen. Sie wissen, dass ich auch nach WGs suchen muss oder auf Antworten meiner Annonce warte. An diesem Abend ist eine Antwort, mit einer Emailadresse, der Vorschlag, sich kurz vorzustellen. Ich wusste nicht, dass es auch Leute gibt, die ebenso eine WG suchen und man sich dann gemeinsam neu einmietet. Der Typ hat eine interessante Altstadtwohnung im Blick. Das klingt fast schon studentisch. Ich schreibe ihm zuerst und verfasse noch eine Mail an Mika. Ich sage ihm gleich, dass wir spazieren gehen müssten und wie lange ich noch da bin, es bleiben mir noch zehn Tage. Wenn er nicht oft seine Mails checkt und viel beschäftigt ist, dann wird das vielleicht nichts. Ich bin danach sogar etwas erschöpft, herzensmäßig, weil ich aufgeregt bin und an meine erste große Liebe denke, die ich hiermit nebenan stelle. Einerseits fühlt es sich lebendig an, aber zugleich pumpt die Leidensfähigkeit Signale in meinen Kopf und ich komme wieder in den Modus, in dem ich das stille Ausbluten der großen, ersten Erfahrungen nachempfinde. Es ist aber deutlich schwächer. Und wenn ich es herunterschlucke, dann bin ich wieder bei einem guten Gefühl.
Bevor ich runtergehe, zum Abendessen, schaue ich nochmal, ob Mika schon etwas geschrieben hat. Der Typ vom Wohnungsmarkt hat. Mit Bildern. Vom Urlaub in Andalusien, ein Esel, ein Kumpel, er schreibt eine Episode davon, er will mich kennenlernen. Und ich soll anrufen. Das wiederum ist üblicher, als seine Urlaubsphotos zu schicken. Sieht aber alternativ aus, cool irgendwie, wahrscheinlich zu alt. Eher doch kein Student, ich bin hin- und hergerissen, ich schreibe eine SMS, dass ich gerade in Frankreich bin und anrufe, wenn ich wieder zu Hause bin. Er schreibt zurück, dass er Frankreich liebt, ich dann, dass ich Praktikum mache. Dann kann es sein, dass du traurig bist?. Ich will eigentlich nochmal schlucken, aber das vorherige Gefühl kommt mit einem sauren Gefühl wieder hoch. Vielleicht nur, weil er so fragt. Ich gehe in die Küche, helfe Christine, den Tisch zu decken.
Am kommenden Tag kommt Mikas Ok für einen Spaziergang, wir verabreden uns am bekannten Stopschild und ich verlasse das Haus für ein bis zwei Stunden und hoffe, Sarah richtet es später aus und ist mir gegenüber loyal. Er ist schon lustig, jetzt gleich den Ortskundigen zu geben und mir alles zu zeigen, ziemlich selbstsicher auch, wie er meine Hand nimmt. Offensichtlich bin ich etwas exotisch, weil er bei vielen Dingen, die ich erzähle, verblüfft nachfragt. Meine Art, mich in seiner Sprache herumzuschlagen bringt ihn, glaube ich, zum Lachen. Ich halte die Zeit ein, es bleibt bei einer schüchternen Geste zur Verabschiedung.
Am letzten Tag des Praktikums habe ich ziemlich Druck. Ich habe den Plan gefasst, dass wir uns in Lyon im Park treffen, weil da wieder Spaziergänge möglich sind. Etwas Anderes fällt mir nicht ein, ich kenne die Stadt nicht. Er studiert da Graphikdesign, Juliette, meine Freundin BWL. Juliette kennen Patrick und Christine. Sie war sogar einmal kurz da, als sie mich abgeholt hat zum Bowling. Juliette kann ich im Park treffen, bevor mein Reisebus kommt. Sie ist sehr belustigt über meine Idee und steht am Tor, als Christine mich nochmal umarmt und durchatmet. Ich denke, sie ist froh, wenn ich wieder bei meiner Mutter angekommen bin. Sie hat ihre Sache gut gemacht. Ich fühlte mich aufgehoben bei ihr. Ich komme wieder, auch ohne meine Eltern. Wegen meiner inneren Aufgebrachtheit kann ich leider nicht auf einen sentimentalen Abschied eingehen. Als Juliette auf ein Café zusteuert, sehe ich ihn dort schon und mir wird sehr wohl dabei. Ich deute auf ihn und sie flüstert mir zu, dass sie mit ihm auf dem gleichen Collège war und auf ihn stand, damals. Ich will gerne kichern, aber halte es zurück, weil es ihr gegenüber auch fies sein könnte. Sie tauschen ein paar Erinnerungen aus, aber er erinnert sich gar nicht so genau und lächelt mir ständig ins Gesicht. Juliette muss weiter, er und ich bezahlen und suchen uns eine Bank. Er nimmt mich so, dass ich halb auf ihm sitze und wir knutschen. Wir knutschen in verschiedenen Stufen, Variationen, wir lecken uns an, wir lecken uns ab, wir stecken uns ineinander. Eine Zunge fordert, eine versteckt, eine flach und atmend, eine verwildert. Wir sind vollkommen im Liebesakt, soweit das geht, auf einer Bank, mit zwei Mündern und ihren losgelassenen Muskeln. Ich löse und bringe Spannung auf, es ist ein ständiges Pumpen, hin und her, zwischen uns, und ich bin froh um den Park und die Spaziergänger, weil ich eigentlich noch mehr will, aber dazu wenig Raum und Zeit ist. Ich muss in 30 Minuten beim Fernbus sein. Als diese Information ausgesprochen ist, wird er hektisch, der Guide muss mich noch durch halb Lyon lotsen und wir haben keine Zeit für Fahrkarten. Wir springen über die Metroklapptüren und hetzen wie die Diebe durch die Tunnel, er zieht an meiner Hand und ich renne ihm hinterher. Innen und außen passt, dieser Strudel an Zeit, an schnellen und lebhaften Eindrücken. Wir schaffen es, er hält mich fest, lässt los, küsst mich, ich krame das Ticket für den Euroliner heraus und winke, auf dem Treppenabsatz. Draußen sieht er aus wie ein Gemälde. Die Klimaanlage ist brutal. Ich sitze da im Kleidchen, was er befummelt hat und schon friert es mich, dabei sehe ich ihn noch da stehen. Der Bus geht in Gang und er schreibt gleich eine SMS. Tu es juste mon BONHEUR. Total laut, diese Großbuchstaben. Sie drängen mich. Wie soll ich das verarbeiten, in den nächsten zehn Stunden.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (03.06.20)
Nun ja, die hastige Erzählweise passt zwar gut zum/r Erzähler(in), aber bitte bedenke, dass der Leser auch mitkommen muss, sonst fällt er hinten runter. Also ich würde das Tempo bis "Ich kenne das Land..." etwas drosseln, danach ist es okay. Einfach aus zwei Sätzen vier machen.
Die beschriebenen Typen finde ich allesamt recht schmierig, wie sie sich da ranwerfen mit ihren tollen Plattensammlungen und Öko-Urlaubsbildern, das ist gut getroffen.

Außerdem: Anderes -> anderes

 minze meinte dazu am 03.06.20:
D.h. du findest das Tempo der Wegbeschreibung zu Anfang schnell? Da finde ich es eher gemächlich.hm. ich bastel gerade an Kapiteln zu einer längeren Geschichte. ist aber noch nicht stringent. Da gibt es dann mehr Bezüge am Ende,die mehr erklären,denke ich. Die Tage muss ich die Kapitel mal aneinanderreihen oder die Texte rausnehmen und später was Komplettes für sich stehen lassen. Danke fürs kommentieren, ich schau mir nochmal das Tempo an.

 minze antwortete darauf am 03.06.20:
D.h. du findest das Tempo der Wegbeschreibung zu Anfang schnell? Da finde ich es eher gemächlich.hm. ich bastel gerade an Kapiteln zu einer längeren Geschichte. ist aber noch nicht stringent. Da gibt es dann mehr Bezüge am Ende,die mehr erklären,denke ich. Die Tage muss ich die Kapitel mal aneinanderreihen oder die Texte rausnehmen und später was Komplettes für sich stehen lassen. Danke fürs kommentieren, ich schau mir nochmal das Tempo an.

 minze schrieb daraufhin am 03.06.20:
D.h. du findest das Tempo der Wegbeschreibung zu Anfang schnell? Da finde ich es eher gemächlich.hm. ich bastel gerade an Kapiteln zu einer längeren Geschichte. ist aber noch nicht stringent. Da gibt es dann mehr Bezüge am Ende,die mehr erklären,denke ich. Die Tage muss ich die Kapitel mal aneinanderreihen oder die Texte rausnehmen und später was Komplettes für sich stehen lassen. Danke fürs kommentieren, ich schau mir nochmal das Tempo an.

 minze äußerte darauf am 03.06.20:
D.h. du findest das Tempo der Wegbeschreibung zu Anfang schnell? Da finde ich es eher gemächlich.hm. ich bastel gerade an Kapiteln zu einer längeren Geschichte. ist aber noch nicht stringent. Da gibt es dann mehr Bezüge am Ende,die mehr erklären,denke ich. Die Tage muss ich die Kapitel mal aneinanderreihen oder die Texte rausnehmen und später was Komplettes für sich stehen lassen. Danke fürs kommentieren, ich schau mir nochmal das Tempo an.

 minze ergänzte dazu am 03.06.20:
D.h. du findest das Tempo der Wegbeschreibung zu Anfang schnell? Da finde ich es eher gemächlich.hm. ich bastel gerade an Kapiteln zu einer längeren Geschichte. ist aber noch nicht stringent. Da gibt es dann mehr Bezüge am Ende,die mehr erklären,denke ich. Die Tage muss ich die Kapitel mal aneinanderreihen oder die Texte rausnehmen und später was Komplettes für sich stehen lassen. Danke fürs kommentieren, ich schau mir nochmal das Tempo an.

 minze meinte dazu am 03.06.20:
D.h. du findest das Tempo der Wegbeschreibung zu Anfang schnell? Da finde ich es eher gemächlich.hm. ich bastel gerade an Kapiteln zu einer längeren Geschichte. ist aber noch nicht stringent. Da gibt es dann mehr Bezüge am Ende,die mehr erklären,denke ich. Die Tage muss ich die Kapitel mal aneinanderreihen oder die Texte rausnehmen und später was Komplettes für sich stehen lassen. Danke fürs kommentieren, ich schau mir nochmal das Tempo an.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 03.06.20:
Jajajaja.
Bitte bedenke, dass Du Deinen Text natürlich kennst, der Leser aber sich den Inhalt nur lesenderweise und dann naturgemäß langsam(er) erarbeiten kann. Deine persönliche Wahrnehmung zum Tempo ist also nicht hilfreich.

 minze meinte dazu am 03.06.20:
Meine Wahrnehmung vom Text mit allem,was ihn ausmacht ist maßgeblich.ich bin schließlich die Autorin. Aber die Außenwahrnehmung ist unersetzlich und kann meine schärfen ;)

 Feliks Gershon Bokser meinte dazu am 04.06.20:
der leser kommt mit- rotmunds kommentare sind überflüssig

 minze meinte dazu am 04.06.20:
Danke für dein Feedback.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 05.06.20:
Entschuldigung, ich vergaß, von Bokser die Erlaubnis für meinen Kommentar einzuholen.

 Dieter_Rotmund (06.06.20)
Meine Wahrnehmung vom Text mit allem,was ihn ausmacht ist maßgeblich.ich bin schließlich die Autorin. Aber die Außenwahrnehmung ist unersetzlich und kann meine schärfen.

Ich halte diese Einstellung für schädlich. Dieses "Ich Gott, du nix", was hier viele selbsternannte "Künstler" auf kV pflegen, bedeutet den Tod jeder literarischen Qualität.
Vielmehr ist der Autor Dienstleister des Lesers!
finnegans.cake (39) meinte dazu am 06.06.20:
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