du musst dein leben ändern

Kurzgeschichte zum Thema Armut

von  nadir

Dieser Mensch, der durch die Straßen kroch, bot einen jämmerlichen Anblick. Nicht so sehr weil er schäbig gekleidet war, das war er nicht. Er trug eine saubere Jeans, die nicht zu sehr um die dünnen Beine schlackerte und darüber ein Hemd, das von Waschflecken weitestgehend verschont geblieben war. Nein, es war seine Haltung. Der krumme Rücken, auf dem der Rucksack saß in den er die Pfandflaschen verschwinden ließ. Es war der gesenkte Blick, der es nicht wagte irgendetwas für eine längere Zeit zu fokussieren und der langsame Gang, der seinem noch jungem Alter nicht entsprechen wollte, irgendwie verzögert, beinah lahm.

Diesem Menschen also geschah etwas zutiefst unangenehmes, das mit nichts gewöhnlicherem begann, als mit einem Husten.

Als er sich nämlich die Hand vor den Mund hielt, beim Husten, wurde ein großer klumpen Schleim in seine Hand geschleudert. Zu allem Unglück hatte der Mensch gerade nichts dabei um den widerlichen, gelben Brocken von seiner Handfläche zu entfernen und da er dieselbe nicht an seiner Kleidung abwischen wollte, kam er dazu eine alte Frau anzusprechen, die gerade an ihm vorbeiging, ob sie nicht ein Taschentuch habe, mit dem er seine Hand reinigen könne.

Die Angesprochene kramte in ihrer etwas altmodischen Tasche, fand eine Packung Taschentücher und reichte sie ihm. Dann griff sie erneut in ihre Tasche und förderte etwas Kleingeld aus derselben, das sie dem verwundertem Menschen in die Hand drückte. „Sie laufen hier so seltsam herum“ sprach sie nur und ließ ihn stehen.

Nach einer Weile der Verwunderung, krochen plötzlich dunkle Gedanken durch das Gemüt dieses Menschen. Ob er wirklich so schäbig aussähe, fragte er sich. Ob er denn mit einem Bettler verwechselt werden müsse, ob er den Anschein erwecke, so bedürftig zu sein.

Mit solchen Gedanken, die wie schweres Gepäck auf ihm lasteten, kroch er nach Hause, in seine kleine, einfache Wohnung.
Er nahm die noch fast volle Packung Taschentücher aus seiner Hosentasche und platzierte sie mittig von sich auf dem Tisch.

Je länger es diese Taschentücher anstarrte - und er starrte sie lange an, desto sicherer glaubte er, sie verhöhnten ihn. Er hatte den Drang sie wegzuwerfen, als würfe er alle die dunklen Gedanken mit ihnen weg. Es war als riefen sie ihm zu; „du bist ein Nichts, ein Penner.“ Und immer wieder; „du bist ein Nichts.“ „Ein Nichts, ein Nichts.“

Alle seine Zweifel, die er so lange unterdrückt hatte, seine Scham und seine Trauer über die Situation, in der er sich befand, kulminierten in dieser einen Packung Taschentücher. Alle diese Gedanken, die er sich machte, klebten wie Dreck an seinem Körper. Da zog der junge Mensch sich aus und sprang unter die Dusche. Als wollte er all diesen Dreck von sich abwaschen, alle diese Gedanken die an seiner Haut klebten, die ihn einhüllten wie ein speckiger Mantel, ihm die Luft zum atmen nahmen und die ihm als unangenehmer Geruch in der Nase lagen.

„Du bist ein Nichts“ schallte es bis unter die Dusche zu ihm und immer wilder begann er sich zu waschen und zu schrubben. Doch der Lärm, der bis unter die Dusche dröhnte und der von dieser einfachen Packung Taschentücher ausging, ebbte nicht ab. „Du bist ein Nichts“

Als er schließlich aus der Dusche trat, noch immer dreckig von dunklen Gedanken, sich abgetrocknet und eingekleidet hatte, starrte er erneut auf den Tisch auf dem die Tücher lagen. „Sie müssen fort“, sagte er sich. Der Mensch griff sie, ging aus der Wohnung und warf sie fort, weit weg, in das Gebüsch vor dem Haus. Sie sind fort, dachte er, sie sind fort …

Ach, verdammt! Er musste sein Leben ändern.

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Kommentare zu diesem Text

wa Bash (47)
(25.03.21)
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 nadir meinte dazu am 26.03.21:
das kannte ich auch noch nicht. gefällt mir!

 DanceWith1Life (25.03.21)
wenn die interaktion zur herausforderung wird, wer von uns kennt das nicht. die auftauchenden fragen, waren ja nicht zwischen den taschentüchern versteckt.
dass eine geste des wohlwollens diese triggert ist so ungewöhnlich nicht.
und ja, ein text, der gut in die momentane zeit passt.

 nadir antwortete darauf am 26.03.21:
danke dir :)

lg
nadir

 Moja (26.03.21)
Deine Geschichte zog mich sogleich in die Atmosphäre von Knut Hamsuns Roman "Hunger". Was für ein unglücklicher, gepeinigter Mensch, von dem Du erzählst. Und ich war gespannt auf das Ende.

Moja grüßt!
Agnete (66)
(26.03.21)
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