Erich Fromm: Haben oder Sein

Limerick zum Thema Lebensbetrachtung

von  Terminator

Im Herbst 2003 ließ ich den Lehrer im Leistungskurs Politik eine Seite aus "Haben oder Sein" vorlesen lassen, so tief beeindruckte mich dieses Buch in der Phase der Sinnsuche nach dem Christentum (10.1998 bis 6.2001) und vor dem Buddhismus (ab Frühjahr 2004, seitdem weltanschaulich nie für längere Zeit den Buddhismus verlassen, als Religion seit Ende 2005 nie wieder ernst genommen).


Die Sackgasse der Habgier war mir schon mit 13-15 bewusst, als meine Weltanschauung materialistisch-nihilistisch war. Ich konnte mit dem Haben nie etwas anfangen. Im April 1997, mit 14, fuhr ich Fahrrad zwischen Ehlershausen und Großburgwedel und tagträumte davon, eine bestimmte Art von Persönlichkeit zu sein. Dieser Mann bin ich 20 Jahre später tatsächlich geworden und habe mich seitdem auch nicht mehr wiedererfunden, sondern nur noch verbessert.


Heute führe ich durchaus gern Fahrrad zwischen Cork und Limerick, wenn es sich ohne größere Umstände ergäbe, ohne groß über das gelöste Problem von Haben und Sein nachzudenken. Auf der Weltkarte der Werte nach Ronald Inglehart befindet sich das Haben auf der linken Seite der survival needs, das Sein ist auf der rechten Seite der Selbstverwirklichung. Die Habgier war zuerst, der Wunsch, etwas zu sein, hat, soziologisch betrachtet, Wohlstand und Bildung zur Voraussetzung.


Kein Haben erreicht auf Maslows Bedürfnispyramide die Höhe der Selbstverwirklichung, selbst wenn es das Haben eines Lamborghinis oder einer Yacht ist. Das Glück des Seins ist sogar in bitterer Armut möglich, da denke ich an Diogenes und Epiktet.


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (04.01.22, 09:37)
Wenn ich mich recht erinnere (ist schon eine Weile her), nimmt Hegel mit bedenkenswerten Argumenten für das Haben Stellung. Irgendsoetwas wie erscheinendes Wesen oder das Für-andere-Werden des An-sich-Seins. Jedenfalls hält er es für falsch, das Haben isoliert vom Sein zu sehen. Ein Wohlstandsbürger ist ein Wohlstandsbürger, ein Gelehrter mit einer großen Bibliothek ist ein Gelehrter. Und selbst Diogenes von Sinope ist charakterisiert durch das Haben - im Modus der Negation.
Ja, die Dialektik ...

 Terminator meinte dazu am 04.01.22 um 22:11:
Ich bin ja mit meinen Inglehart-Verweis noch radikaler: erst im Wohlstand hat man die Wahl, eine Entscheidung für das Sein zu treffen. Vorher will man erstmal haben, vor allem was zu essen, ein Dach über dem Kopf usw.

 Jedermann (04.01.22, 21:46)
Besitz und Bildung scheint mir, kann eine Einheit bilden: Im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil ist dieses Thema hervorragend herausgearbeitet; siehe die Kapitel mit der Figur Paul Arnheims (Walther Rathenau war Musils Vorlage).

 Terminator antwortete darauf am 04.01.22 um 22:15:
So wird Fromm oft verkürzt wiedergegenen: Besitz oder Bildung. Aber er macht ja selbst eine Dichotomie auf: Freude oder Vergnügen. Das Haben vergnügt kurz, das Sein ist die Quelle der währenden Freude. Die Verführung, das Nichthaben zu etwas besserem, zum Sein, zu verklären, ist für Habenichtse (for obvious reasons) und Professoren (hohes kulturelles Kapital, aber nur mittleres Einkommen/Vermögen) immer vorhanden.

 EkkehartMittelberg (04.01.22, 22:36)
Die, welche sich für das Haben entschieden haben,  versuchen immer wieder zu erklären, dass es nötig sei, um glücklich zu sein. Einsichten, wie man das Haben auf das Notwendige begrenzen kann, können glücklich machen.

 Terminator schrieb daraufhin am 04.01.22 um 23:05:
Es gilt aber, so Fromms Aussage, in der kapitalistischen Gesellschaft: "Du bist, was du hast". Insofern ist der Kapitalismus ein Existentialismus: wir sind nichts, aber wir können etwas haben (d. h. uns frei für das Haben entscheiden, und uns über das, was wir haben, definieren).
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