Der aggressive Rollstuhlfahrer

Kurzgeschichte zum Thema Behinderung

von  Koreapeitsche



Der Rolli-Fahrer war schon seit gut 10 Jahren an den Rollstuhl gefesselt. Das Ereignis, das bewirkte, dass er in den Rollstuhl kam, war ein Motorradunfall am Vortag seines 18. Geburtstages. Natürlich besaß er da noch gar keinen Führerschein. Er stand unter starkem Alkoholeinfluss und fuhr eine gestohlene Maschine. Als direkte Folge des Unfalls blieb sein rechtes Bein steif, er hatte ein zertrümmertes Becken und einen Schädelbruch. Zunächst ging sein Sprachvermögen verloren, und er musste mit Hilfe einer Logopädin das Sprechen wiedererlernen. Die Kopfverletzung löste bei dem jungen Mann langfristig eine Broca-Aphasie aus. Der Rollstuhlfahrer Ulle konnte sich deshalb nur schwer verständlich machen, war häufig wegen irgendwelcher Missverständnisse sehr aggressiv, weil die Gesprächspartner ihm einfach nicht folgen konnten. Für sein steifes rechtes Bein war eine gerade nach vorne ausgerichtete Schiene an seinem Rollstuhl angebracht. Aufgrund dieser Metallschiene war es für ihn deutlich schwieriger mit dem Rolli zu manövrieren, als wäre es ein herkömmlicher Rollstuhl gewesen.
Er wohnte hier in dieser geräumigen 3-Zimmer-Wohnung zusammen mit einem zweiten Rollifahrer in einer Rollstuhlfahrer-WG. So konnte sich ein einziger Zivi Zeit und Kosten sparend um zwei Rollstuhlfahrer kümmern und zu Essenszeiten für beide den Tisch decken, für beide abdecken und aufräumen, abwaschen und Wäsche waschen. Das dritte Zimmer war ein Schlafraum für die Zivis, die Nachtwache hatten. Darin befand sich auch ein Schreibtisch, um Notizen in einem WG-Logbuch vorzunehmen sowie ein kleines Bücherregal.
Beide Rollstuhlfahrer konnten die Zivis gut auf Trab halten, auch wenn der zweite Rollstuhlfahrer aufgrund seine Behinderung deutlich mehr Pflege benötigte.
Der aggressive Rollstuhlfahrer verkrümelte sich meistens in sein Zimmer, wo er Radio hörte, Elefantenbier trank und ab dem späten Nachmittag fern sah. Hin und wieder gab es Streit in der WG, manchmal zwischen den Rollstuhlfahrern untereinander, manchmal zwischen einem der Behinderten und einem der Zivis. Doch eines Tages schepperte es so richtig. Diesmal gab es wieder Ärger mit Ulle, dem jüngeren der beiden Rollstuhlfahrer, der seinen Zivi attackierte. Er hatte wieder zu viel Alkohol getrunken, und eine Belanglosigkeit reichte, um alles zum Eskalieren zu bringen. Ulle fand etwas nicht auf Anhieb im Kühlschrank. Ihm fehlte ein Heidelbeerjoghurt. Zunächst gab es ein gepfeffertes Wortgefecht mit Schuldzuweisungen.
      „Wo ist mein Jighurt? Hast Du meinen Joghurt gegessen?“
      „Was ist denn los? fehlt Dir eine Joghurt?“
      „Das war mein letzter Joghurt. Du hast ihn genommen.“
Plötzlich attackierte Ulle den anwesenden Zivi und verwendete dabei die Schiene an seinem Rolli regelrecht als Waffe oder Lanze, mit der er wieder und wieder auf den armen Zivi lospreschte und ihn rammte. Der Zivi ließ sich von seinem aufgebrachten Schützling immer weiter an die Wand des Wohnungsflurs drängen, die sich gegenüber der Essecke befand. Doch an dieser Wand befand sich auch die Garderobe, die extra in einer Höhe angebracht war, um den Rollifahrern zu ermöglichen, aus dem Rollstuhl heraus problemlos eine Jacke daran aufhängen zu konnen. Der Zivildienstleistende krachte jedenfalls rücklings gegen die Garderobe, sodass sich einer der spitzen Haken durchs T-Shirt in seinen Rücken bohrte. Der Zivi schrie vor Schmerzen laut auf. Doch der aggressive Rollstuhlfahrer ließ nicht locker, fuhr wieder und wieder mit der Schiene voraus wie ein Ritter mit einer Lanze auf ihn los um ihn zu rammen. Der Attackierte konnte sich nicht aus dieser bedrohlichen Situation befreien. Die scharfkantige Schiene traf den Zivi am Knie und am oberen Schienbein. Wieder schrie der Zivi in Panik, er solle ihn in Ruhe lassen.   
      „Was soll das, willst Du mir das Knie kaputt machen?“
      „Du Schwein! … Du Schwein!“
Schlussendlich hatte der Zivi die Schnauze voll, beugte sich vor, griff mit beiden Händen die am Rollstuhl befestigte Metallschiene, auf der das rechte Bein des Rollstuhkfahrers lag.
      „So, ich mache das nur ungerne! Mir bleibt aber keine andere Wahl!“
Da riss der Zivi die Schiene hoch, sodass Ulle mit dem Rollstuhl hintenüber kippte und auf den Boden purzelte. Ulle fand sich plötzlich in einer Situation wieder, aus der er sich weder selbst befreien konnte, noch den Zivi weiter angreifen konnte. Er lag und hockte halb auf dem Boden der Essecke, fing jetzt fürchterlich an zu brüllen und zu fluchen und nannte den Zivi erneut ein Schwein. Der Zivi stand einen kurzen Augenblick vor Ulle und dem umgeworfenen Rollstuhl. Er bekam einen kleinen Schock, als er realisierte, was da gerade vorgafallen war. Doch noch war die Situation nicht geklärt. Der Zivi musste sich kurz sammeln, stellte den Rollstuhl wieder gerade hin, ging einmal um Ulle herum, griff ihm von hinten unter die Arme und musste all seine Kraft einsetzen, um ihn vom Boden hochzuheben und wieder in den Rollstuhl zu setzten. Der Zivi redete währenddessen zwar vorwurfsvoll, aber trotzdem beruhigend auf den Rollstuhlfahrer ein, versuchte dadurch allerdings nicht nur Ulle sondern gleichermaßen auch sich selbst zu beruhigen.
      „So, jetzt hebe ich Dich wieder hoch und setze Dich in den Rollstuhl.“
      „Was soll das?“
Der Zivildienstleistende verdeutlichte seinem Schützling, dass er gar keine andere Wahl gehabt hätte, da er sich sonst am Rücken und am Knien und am Schienbein noch weitere Schrammen und Verletzungen zugezogen hätte.
       „Ulle, das tut uns beiden nicht gut, wenn wir uns so zanken.“
       „Du hast damit angefangen.“
     „Was soll ich den machen. Das kann jetzt ganz schwerwiegende Folgen für mich haben!“
Sobald Ulle wieder im Rollstuhl saß, fuhr er irgendetwas brabbelnd und fluchend auf direktem Weg in sein Zimmer und ließ sich für den restlichen Tag nicht mehr blicken. Der Zivi schwitzte derweil vor Angst Wasser und Blut. Erst jetzt bemerkte er, dass er eine Wunde am Rücken hatte, die zum Glück nur leicht blutete.
Jetzt kam der andere Rollstuhlfahrer aus seinem Zimmer.
      „Oh je, hier hat es gescheppert.“
Jetzt bekam er langsam aber sicher Angst vor den Konsequenzen seines überharten Zupackens, da er als Zivi doch das Wohlergehen seiner Schützlinge zu garantieren hatte. Außerdem hatte  sowohl der zweite dort wohnende Rollstuhlfahrer von der Sache Wind bekommen, und auch der ablösende Zivi würde sicher von dem Vorfall erfahren.
Der Zivi fing in der Folgezeit aus Kummer an zu trinken, fuhr jeden Abend nach der Zivildienstschicht noch in die Diskothek. Er saß dort am Tresen und vertrank seinen Zivildienstsold und verließ die Disko meistens erst nach Betriebsschluss, um mit dem Nachtbus nach Hause zu fahren. Seine Freunde hatten Angst, dass er sich etwas antun könnte.
Bereits nach kurzer Zeit wusste die Zivildienststelle von der Geschichte, es sprach sich ziemlich schnell herum, was genau vorgefallen war. Es kam schließlich zu einer Aussprache mit dem Leiter der Zivildienststelle. Daran nahmen der aggressive Rollstuhlfahrer, der angegriffene Zivi, der Sozialarbeiter, der mit den Zuständen in der Behinderten-WG vertraut war,und der Dienststellenleiter teil.
      „Was hat sich denn da genau zugetragen?“
      „Das war Notwehr. Ulle hat versucht, mich mit der Metallschiene zu rammen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn an der Schiene zu packen und ihn hinten über zu kippen.“
      „Aber war das nicht ein bisschen zu gefährlich?“
      „Ich habe das ja ganz vorsichtig gemacht, nur damit er endlich mit dem Rammen aufhört.“
      „Ja, das ist aber bekannt, dass der Ulle manchmal sehr schroff reagiert und die Zivis bedroht.“
      „Ja, dann werde ich die Sache mal auf sich beruhen lassen. Ich möchte aber, dass ihr euch die Hand gebt, und dass Du Dich etschuldigst. Ulle hat Dich zwar angegriffen, aber immerhin hast Du ihn als Reaktion aus dem Rollstuhl gekippt. Und das sollte nicht passieren.“
      „Okay, ich werde ihm die Hand geben und mich bei ihm entschuldigen.“
Und der Zivi war sich inzwischen auch gar nicht mehr sicher, ob er dem Rollifahrer nicht doch den Joghurt weggegessen hatte, denn auch die Zivis hatten manchmal eigene Lebensmittel im Kühlschrank liegen.
Der Leiter der Zivildienststelle setzte alles daran, das gestörte Verhältnis wieder in Ordnung zu bringen. Deshalb versuchte er den Zivi zum Bleiben zu bewegen, da die Fluktuation an diesem Einsatzort ohnehin sehr hoch war. Den erneuten Verlust eines Mitarbeiters konnte sich die Einrichtung nicht leisten.
      „Ulle, es tut mir leid, dass ich Dich aus dem Rollstuhl geworfen habe.“
Sagte der Zivi und reichte dem Rollstuhlfahrer die Hand. Dieser erwiderte den Handschlag, sagte okay und lachte sogar kurz. Danach fuhr er wieder in sein Zimmer und hörte Radio. Der Zivi begann ab dem Vorfall die verbleibenden Tage als Zivi zu zählen, sparte sich den restlichen Urlaub auf, um ihn an das Ende des Zivildienstes zu legen. So konnte er schon nach 19 statt nach 20 Monaten den Dienst  quittieren und bekäme für die restlichen 4 Wochen noch den Zivildienstsold ausgezahlt und danach die Abfindung, die jedem Zivi zustand. Er schaffte die letzten tage noch, nicht zuletzt, da der Sozialarbeiter sich häufiger in der WG blicken ließ und auf alle schlichtend und beruhigend einwirkte. Die Kommunikation zwischen dem Rollifahrer und dem Zivi war durch diesen Konflikt zwar zunächst noch belastet. Doch der Zivi konzentrierte sich auf das Nötigste im Haushalt und ließ sich nicht mehr auf Streitgespräche ein. Wenn es galt, mit dem aggressiven Rollifahrer zu reden, wurde nur über das Wichtigste gesprochen, kurz und präzise. Die Sache war schließlich heilsam. Am Ende konnten beide sogar wieder gemeinsam lachen. Es entstand so etwas wie Respekt und Anerkennung zwischen den beiden jungen Männern. Nach dem Ende seiner Zivildienstzeit wurde sogar eine kleine Freundschaft daraus. Sie unterhielten sich freundschaftlich, wenn sie sich in der Stadt trafen. Als Ex-Zivi traf er sich mit seinen ehemaligen Schützling noch ein paar Mal, um gemeinsam einen Kaffee zu trinken und sich über ihre gemeinsame Zeit zu unterhalten. Sie gingen also beide langfristig gestärkt aus diesem Konflikt heraus.


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