Die Schusswaffe in der Behinderten-WG

Kurzgeschichte zum Thema Behinderung

von  Koreapeitsche

Die Behinderten-WG befand sich im fünften Stock eines 14-stöckigen Hochhauses. Sie bot zwei Rollstuhlfahrern ein zu Hause. Draußen am Gebäude war eine Rollstuhlrampe angebracht, und sie mussten mit dem Fahrstuhl bis in den fünften Stock fahren. Wenn der Fahrstuhl mal defekt war, konnten sie die Etage nicht verlassen, oder mussten unten so lange warten, bis der Fahrstuhl wieder repariert war. Einmal wurde sogar einer der beiden Rollstuhlfahrer von zwei Zivildienstleistenden durchs Treppenhaus in den fünften Stock getragen, was damals große Probleme bereitete. In der WG arbeiteten abwechselnd vier Zivildienstleistende, ein zu gemeinnütziger Arbeit verurteilter Straffälliger, dessen Frau, die zweimal in der Woche zum Putzen kam, eine Krankengymnastin und eine Art Sozialarbeiter. Ganz selten kam auch ein Psychologe, der sich mit einem der Rollstuhlfahrer unterhielt, da dieser häufig aggressiv war und bei anderen aneckte. Ferner kam fast jeden Tag der mobile Dienst, um für den einen Rollstuhlfahrer Essen vorbeizubringen. Auch kam hin und wieder der Fahrdienst, wenn einer der Rollstuhlfahrer in die Innenstadt oder in die Betreuungsstätte gefahren werden sollte. Es war also immer etwas los in dieser außergewöhnlichen WG.
Eines Tages fand der Sozialarbeiter Fritz unter dem Bett des Rollstuhlfahrers Kalle eine Pistole. Er nahm sie in die Hand und ging damit durch die WG, fragte, wie diese dorthin komme, fragte, wer diese dort versteckt habe. Der Rollstuhlfahrer, in dessen Zimmer die Pistole gefunden wurde, freute sich, denn es war endlich wieder mal etwas los im Bergenring, wie die WG von allen genannt wurde. Jetzt wurden alle in Frage kommenden Zivildienstleistenden befragt, ob sie die Pistole dort versteckt hätten. Doch niemand wollte es gewesen sein. Auch der junge Mann, der seine gerichtliche Auflage an Arbeitsstunden dort ableisten sollte, wusch seine Hände in Unschuld. Doch die Zivildienststelle wollte den Vorgang geklärt wissen. Deshalb wurde eine sogenannte Familienbesprechung einberufen, an der alle Beteiligten teilnahmen. Diese wurde geleitet vom Dienststellenleiter, der für alle 48 Zivildienstleistenden der Behindertenbetreuungsstätte, zu der diese Behinderten-WG als Außenstelle gehörte, verantwortlich war. Der Vorfall wurde im Detail erörtert. Das alles war wirklich filmreif. Alle freuten sich, dass endlich wieder neuer Gesprächsstoff vorhanden war. Ein jeder mutmaßte, wer die in ein Tuch gewickelte Pistole dort versteckt haben könnte. Auch der Rollstuhlfahrer Kalle musste wieder und wieder lachen. Vom Dienststellenleiter dazu befragt, sagte er:
      „Ich kann mir denken, wer die Waffe dort versteckt hat.“

Er wollte jedoch den Namen der von ihm verdächtigten Person nicht nennen. So saßen sie alle eine gute Stunde zusammen, stellten weitere Mutmaßungen darüber an, wer das gewesen sein könnte und weshalb die Pistole gerade in einer Rollstuhlfahrer-WG versteckt worden ist. Sie überlegten, ob die Polizei eingeschaltet werden sollte. Doch ein Verantwortlicher konnte nicht gefunden werden. Derweil wurde bei dieser außerordentlichen Sitzung eine Kanne Kaffee nach der anderen getrunken, es gab sogar auch etwas Kuchen. Zigarettenrauch stand in Schwaden in der Eßecke. Die meisten waren gut drauf, nur die Zivis schauten etwas bekümmert, da sie sich doch auf den Pazifismus eingeschworen hatten und jetzt auf einmal verdächtigt wurden, eine Schusswaffe an ihrem Zivildienstarbeitsplatz versteckt zu haben und insgeheim einen fiesen Plan für deren Verwendung ausgeheckt zu haben. Die Schusswaffe lag derweil natürlich nicht auf dem Tisch. Der Sozialarbeiter hatte sie zwischenzeitlich an sich genommen. Es wurde entschieden, die Pistole bei der nächsten Polizeidienststelle abzugeben. Das übernahm auch der Sozialarbeiter. Er machte der Polizeidienststelle klar, dass diese nicht zu ermitteln brauche, da die Zivildienststelle schon intern ermittelt habe und der Täter nicht aufzufinden war. Die Polizei war sehr verwundert über dieses Ereignis, gab sich jedoch mit der Schusswaffe zufrieden und machte nur einen kurzen Aktenvermerk, dass der Besitzer unbekannt sei.
Doch dieses Ereignis bewirkte in der WG, dass alle sich glänzend verstanden, und dass alle mit viel mehr Freude an die Arbeit gingen, denn diese WG war jetzt etwas ganz besonderes. In der Folgezeit war wirkliche Solidarität zwischen Behinderten und Nichtbehinderten zu spüren.
Derweil ging die Geschichte herum wie ein Lauffeuer. Alle Beteiligten fühlten sich wie Geheimnisträger, wenn jemand von Außerhalb endlich die Wahrheit wissen wollte. Die Sache wurde noch lange diskutiert, ebenso wie die Frage, ob Zivildienstleistende etwas mit Waffen zu tun haben dürfen.
Auch Jahre später sprach man noch darüber. Jedem neu einzuarbeitenden Zivildienstleistenden wurde früher oder später die Geschichte von der Schusswaffe in der Behinderten-WG erzählt. Bis auf den heutigen Tag konnte der Vorfall  immer noch nicht eindeutig aufgeklärt werden.


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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (13.01.22, 13:16)
Eine Geschichte voller Unsympathen, besonders der Rollstuhlfahrer "Kalle".

Kommentar geändert am 13.01.2022 um 13:16 Uhr

 Koreapeitsche meinte dazu am 14.01.22 um 13:10:
Während des Zivildienstes ist halt nicht alles Friede, Freude Eierkuchen.
Es erschien mir wichtig, das mal zu Papier zu bringen. Ist doch aber eine lustige Anekdote und eine tolle Erinnerung.
Ich musste zu der Zeit sogar 20 mon. Zivildienst ableisten, während die Dienstdauer nach der Wiedervereinigung schrittweise wieder runtergesetzt wurde.
("In Gorbatchev we trust!")
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