Erste Hilfe

Skizze

von  Jedermann

Es ist bereits furchtbar spät, die Uhr zeigt Zwei. Der Morgen des nächsten Tages kündigt sich an. Wenn es nach mir gegangen wäre, läge ich bereits im Bett im wohligen Tiefschlaf. Der Irish Pub leert sich langsam. Die tönende Lautstärke verebbt, sodass einzelne Gesprächsfetzen an mein Ohr dringen. Ein letztes Bier wollen die Jungs noch trinken, na gut, das muss ich aushalten und trinke stattdessen aus meinem Bierglas Leitungswasser. Endlich sind wir bereit zum Aufbruch und verlassen den Irish Pub. Im Freien verfliegt die Müdigkeit ein wenig. Um diese Zeit fahren die öffentlichen Verkehrsmittel allenfalls im Stundentakt. Aber die Wege in dieser Stadt sind gerade noch fußläufig zu bewältigen. Kleine Gruppen eilen oder schlendern in verschiedene Richtungen, vielleicht nach Hause, in die nächste Bar oder in den nächsten Club. Wir laufen am Alten Rathaus vorbei, vor uns führen die Treppen zur Straßenbahn hinab. Vor den Stufen zur Straßenbahnstation steht ein Pärchen und schaut hinunter. Schnell erfassen wir, dort liegt jemand auf dem Treppenpodest, wahrscheinlich ein Betrunkener oder ein Obdachloser. Der Mann sei gestürzt, sagen sie. Ich eile die Treppe hinab, hocke mich neben den Gestürzten und spreche ihn an. Er antwortet mit gepresster Stimme. Ich erkenne sofort, er hat große Schmerzen. Wir bitten das Pärchen einen Notruf abzusetzen. Erst jetzt bemerke ich Blutspritzer um mich herum. Ich bitte den Gestürzten sich ein wenig auf die Seite zu drehen und nehme seine Hand vom Kopf. An der Schläfe klafft eine mehrere Zentimeter lange und tiefe Wunde. Sie beginnt zu bluten, wieder zu bluten, nachdem was rundherum an Blut zu sehen ist. Ich frage das Pärchen nach Tempotaschentüchern. Sie werfen mir ein Päckchen zu und ich presse mehrere Taschentücher auf die Wunde, die weiterhin mäßig blutet. Der Gestürzte zeigt leichte Panik als ich ihn frage wie das passiert sei. Er will sich bewegen, aufstehen und erklären. Ich kann ihn beruhigen und er bleibt liegen. Ich wiederhole immer wieder, dass der Rettungswagen gleich da sein wird. Und, ich beschäftige ihn, lenke ihn ab, durch Fragen und kleine Aktivitäten. Ich frage, ob er seine Hände und Beine spürt. Er soll seine Beine leicht bewegen. Ich frage wo er Schmerzen hat und ob er weitere Wunden spürt. Immer wieder sage ich ihm, dass der Rettungswagen gleich eintreffen wird, dass alles gut werden wird und lasse beruhigend eine Hand leicht auf seiner Schulter liegen. Die Wunde blutet. Ich presse die Taschentücher etwas stärker auf die Wunde. Nach ca. 20 Minuten trifft die Hilfe ein, der Rettungswagen hält seitlich des Eingangs und ein Sanitäter kommt zu uns. Er fragt den Gestürzten ob er Alkohol getrunken habe. Der antwortet etwas schüchtern unsicher: „Ein bisschen.“ Vielleicht war diese erste Frage des Rettungssanitäters der Uhrzeit und dem Äußeren des Gestürzten geschuldet. Der trug die sofort klassifizierende Freizeitkleidung vom Discounter. Ich habe während unseres Gesprächs keine übermäßige Betrunkenheit an ihm feststellen können. Wir beide dürften so in etwa den gleichen Alkoholpegel erreicht haben, nicht betrunken aber auch nicht mehr klar. Erst als ich den Rettungssanitäter auf die Kopfwunde und den Blutverlust aufmerksam mache, schaut er genauer hin und später wird der Mann auf eine Liege gelegt. Wir gingen, nachdem ich mir meine blutverschmierten Hände am Rettungswagen säubern und desinfizieren konnte.

Am Morgen regnete es leicht. Ich fuhr bereits mittags zurück nach Berlin, da bekam ich auf WhatsApp von den Jungs ein Bild zugesandt, auf dem ich zunächst nichts erkennen konnte. Erst auf Nachfrage erkannte ich den Ort. Das Foto zeigte eine Treppenstufe mit Flecken einer eingetrockneten bräunlichen Flüssigkeit und aufgeweichten bräunlichen Zellstoffresten. Die blutgetränkten Tempotaschentücher waren liegengeblieben und weichten im leichten Regen auf. Sicher waren bereits hunderte Menschen die Treppe zur Straßenbahn auf und ab geeilt. Der eine oder andere trat dabei sehr wahrscheinlich in das getrocknete Blut.

Ob der Mann nur eine leichte Verletzung davongetragen hat, oder ob der Schädelknochen und das Gehirn geschädigt wurden, werde ich nicht erfahren.



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Kommentare zu diesem Text


 Quoth (01.11.22, 18:15)
Der barmherzige Samariter am Werk. Guter, realistischer Text. Aber in welcher Beziehung steht der Icherzähler zu den "Jungs"? Ist er ihr Trainer? Und was machen sie, während er sich um den Gestürzten oder Überfallenen kümmert? So viel Realismus macht Appetit auf noch mehr! Gruß Quoth

Kommentar geändert am 01.11.2022 um 18:15 Uhr

 Jedermann meinte dazu am 03.11.22 um 10:01:
Habe mir die Geschichte vom barmherzigen Samariter angeschaut. Denn, im ersten Moment empfand ich diese Bezeichnung als unpassend! Schließlich handelte es sich um eine Erste Hilfe Leistung.
Ich weiß nicht wie viele Menschen vorbeigegangen sind. Das Pärchen wirkte zumindest sehr unentschlossen.
Ich versuche mich in dieser Skizze in der Reduktion auf das Wesentliche. Jedermann

 Quoth antwortete darauf am 03.11.22 um 13:50:
Der barmherzige Samariter ist sprichwörtlich für einen Helfer in der (körperlichen) Not, und der warst Du ja nun wirklich.
Taina (39)
(03.11.22, 14:03)
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