Das Flugblatt

Skizze

von  Jedermann

Dieser Text gehört zum Projekt    Corona-Texte
Dieser Text ist Teil der Serie  Die Pandemie des Absurden

Warum habe ich den Postkasten geöffnet? Heute ist doch Sonntag! Aber, es kann doch sein, dass ein Nachbar einen Irrläufer in seinem Postkasten fand, einen wichtigen Brief, eine Mitteilung die mich erreichen sollte, die an mich adressiert war. Das wäre doch möglich, oder? Und nun hat er ihn netterweise dem richtigen Adressaten zukommen lassen.

Ich schließe den Postkasten auf, öffne die Tür und sehe, darin liegt tatsächlich etwas. Aber es ist kein Brief, keine Werbung, darin liegt ein DIN A5 Blatt, weiß und eine Seite ist beschrieben. Ich erkenne Buchstaben. Ich nehme den Zettel heraus und lese.

Ich schaue mich vorsichtig um. Hat mich jemand gesehen. War nicht vorhin im Hochparterre der Türspion besetzt. Da guckt doch immer einer, die bekommen doch immer mit, wenn sich was im Hausflur bewegt. Dann wissen die, dass ich unten am Postkasten war. Aber sie können ja nicht wissen was ich dort herausgenommen habe. Ich überlege! Am besten, ich werde den Zettel vernichten. Ja, ich werde ihn unauffällig falten in die Hosentasche stecken und oben vernichten. Aber was, wenn auch in allen anderen Postkästen solch ein Zettel liegt? Warum sollte der Einwerfer sein Flugblatt nur bei mir eingesteckt haben? Ich luge durch die Schlitze der Postkästen. Wenn jetzt bloß keiner kommt. Ich muss mich beeilen, aber ich höre ja, wenn die Haustür oder eine Wohnungstür geöffnet wird. Die Schlitze sind zu schmal und es ist zu dunkel, ich kann nicht erkennen ob Flugblätter darin stecken oder nicht. Schade, dass ich keine Taschenlampe dabei habe. Sollte ich vielleicht eine Taschenlampe von oben holen? Ich weiß nicht, das kann gefährlich sein. Dann wundern die sich, warum ich solange an den Postkästen verweile. Das ist auffällig, zumal, wenn darin auch die Flugblätter stecken. Dann glauben die vielleicht, ich hätte diese eingeworfen.

Ich stecke das Flugblatt in die Tasche und gehe in meine Wohnung zurück. Ich setze mich an den Küchentisch und lege das Flugblatt vor mich hin. Ich lese es noch einmal. Das ist ja schlimm. Was soll ich nur tun? Wenn ich es vernichte, dann kann ich ganz schnell selber in Verdacht geraten. Es kann ja sein, das ein Nachbar – wenn er auch so ein Flugblatt in seinem Postkasten findet – diese staatsfeindliche Hetze zur Anzeige bringt. Und dann wird man die Bewohner befragen. Was soll ich dann antworten? Ich habe das Flugblatt vernichtet ohne es zur Anzeige zu bringen! Vielleicht sagt man mir dann, dass ich mich damit strafbar mache und ich hätte es zur Anzeige bringen müssen. Aber ich will doch keinen Ärger. Ich habe doch immer alle Gesetze und Verordnungen eingehalten. Und, wenn Sie mich fragen, natürlich habe ich Vertrauen in unsere Regierung. Das ist doch selbstverständlich. Wo kämen wir denn da hin, wenn noch mehr solcherart Elemente feige Flugblätter einwerfen würden. Das muss doch verfolgt und bestraft werden, oder? Ich finde es auch gut, dass uns unsere Regierung nicht zu sehr beunruhigt. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden erfahren, dass in nahezu jeder Stadt solche Elemente versuchen uns aufzuhetzen und vom klaren Weg abzubringen. Das wäre doch furchtbar, oder?

Ich werde, ich muss es zur Anzeige bringen. Ich werde gleich eine Online-Anzeige machen, da bin ich schneller als irgendein Nachbar. Aber, ob die mir glauben, dass ich Sonntags den Postkasten öffne um einen Irrläufer zu finden? Nicht, dass ich doch noch in Verdacht gerate, das wäre doch peinlich. Und was passiert, wenn die Polizei die Nachbarn befragt und die sagen aus, dass ich mich sehr lange an den Postkästen aufgehalten habe. Vielleicht haben die auch gehört wie die Schlitze klapperten, als ich nachschaute ob in den anderen Postkästen auch solche aufhetzenden Flugblätter steckten! Oder soll ich es doch einfach vernichten. Ich kann ja behaupten, dass ich bei mir nichts im Postkasten gefunden habe, als ich nach einem Irrläufer schaute. Schließlich kann es doch sein, das dem Einwerfer die Flugblätter ausgingen und er keines mehr übrig hatte, so dass mein Postkasten verschont blieb.

Ja ich werde es vernichten, und so tun als ob ich nichts gefunden habe! Aber es ist doch eine ausgemachte Frechheit was da auf dem Flugblatt stand: Die Politiker nähmen uns unsere Grundrechte weg und wir sollten uns wehren.



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Kommentare zu diesem Text


 minimum (13.02.22, 19:51)
Beklemmend gut.

 Jedermann meinte dazu am 13.02.22 um 20:12:
Genau dieses Gefühl wollte ich skizzieren. Ich freue mich, dass es mir gelungen ist. Danke für deine Empfehlung.

 Dieter_Rotmund (14.02.22, 09:24)
Postkasten (österr.) = Briefkasten

 Jedermann antwortete darauf am 14.02.22 um 12:42:
Das meine Vorfahren unter der K. u. k. gelebt haben, lässt sich nun nicht mehr länger verheimlichen. :(

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 14.02.22 um 15:51:
Ja, klingt halt komisch...
Noch komischer: am = auf (aber nicht in diesem Text)

 tueichler (02.04.22, 08:56)
Ziemlich geiler Text, der durch seine Innenanalyse der Spiessbürgelichkeit besticht.
😎

 Jedermann äußerte darauf am 03.04.22 um 22:47:
Danke für deine Empfehlung, es freut mich sehr, dass der Text aus deiner Sicht etwas Substanz hat!
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