ANNA 92

Erzählung zum Thema Zeitreise

von  rhebs

Seit 1968 wohnte ich frisch verheiratet in Halle Neustadt. Ich "klächte" im Leuna Werk, Bau15/Hauptwerkstatt als Dreher. Meine Frau arbeitete als Kindergärtnerin im Ersten Wohnkomplex der neu gebauten Stadt. Komisch war dann, Kolleginnen meiner Frau waren alle nicht mit einem Arbeiter verheiratet, sondern mit Typen der Technischen Intelligenz. Einer war Mathedoktor an der Uni in Halle, ein anderer war Bau - Diplomingenieur in der Braunkohle, ein Dr. Krause war Physik Wissenschaftler in einer Analyse Abteilung im Bunawerk.  Meine Frau hatte leider nur mit mir einen simplen Arbeiter am Hals und war im Kreis dieser "Kolleginnen" soziologisch rangordnungsmäßig gesehen ganz unten in der Hackordnung einer entwickelten und real existierenden sozialistischen Gesellschaft!
Irgendwann sagt die dann zu mir "Wenn du deinen sozialen Status nicht änderst und dich weiter entwickelst, tausch ich dich um!"  Problem war, ich hatte nur 8.Klasse mit lauter Vieren auf dem Zeugnis. Da kann man nicht mal fix Ingenieur werden. Zum Glück gab es aber in Halle Neustadt eine Volkshochschule, wo ich dann 1970 landete und wieder prima Lernen lernte.  Nach einem Jahr dort, war aber abzusehen, das Leunawerk delegiert mich nicht zum Fernstudium, wenn ich 1972 mit der 10. Klasse fertig bin. Denn, Dreher waren knapp!
Ich war ein zu guter Facharbeiter, um eine Delegierung zum Studium zu erhalten, welche man damals  einfach systembedingt benötigte. Aber  zwischen den zwei großen Chemie-Kombinaten der DDR gab es ein wenig Konkurrenz. Zu dieser Konkurrenz, dem Buna Werk in Schkopau bin ich nach ordentlicher Kündigungsfrist von 14 Tagen gewechselt und konnte mir dort zu meiner Delegierung zum Studium noch einen coolen Praktikumsjob aussuchen. Ich suchte mir was ganz feines aus:



"Es ist schon eine Latte an Jahren her, wo es noch üblich war, dass man den Personalchefs nicht in den Hintern kriechen musste, um den Job zu bekommen, den man haben wollte. Es war schlichtweg vor vielen Jahren in Mitteldeutschland anders herum. Keine Leute, keine Leute! An einem schönem Montag vor einigen Jahren  gegen 8 Uhr stehe ich in der Kaderabteilung des Chemischen Kombinates in Buna auf der Matte und will einen Job für ein Jahr und ein Delegierungsschreiben zum Maschinenbaustudium. Wahrscheinlich war bei dem netten Personalmitarbeiter tagelang keiner im Büro und ich bekomme erst einmal ein Schwall von Sätze um die Ohren gefegt, welche riesigen Vorteile mein Arbeitsvertrag mit dem Dreißigtausendmannunternehmen in sich bergen könnte. Es gäbe sogar Gratisbadelatschen! Ich erläuterte dem Typ, dass ich eigentlich für meinen erlernten Beruf als Dreher schlichtweg keine Lust mehr habe. "Schichtarbeit, zu langweilig immer die gleichen Teile drehen zu müssen, den lieben ganzen Tag oder auch in der Nacht an der Maschine stehen, zu laut, zu dreckig, zu schlecht bezahlt." Das konnte man damals dem Personalmenschen unbeschadet an den Kopf werfen. Ich äußerte, dass ich vor dem Studium eigentlich noch mal was anderes machen wollte - Hauptsache, ich lerne viel Neues dazu, war mein damaliges Anliegen. "Kein Problem" war die süffisante Antwort und wenige Minuten später sass ich in einem klapprigem Wartburg und wurde zur Arbeitsplatzbesichtigung durch den Betrieb gekarrt. Zuerst ging es zu einer Chemieanlage, wo Reparaturschlosser gelangweilt beim Kartenspiel saßen. Gespräche mit diesen Kollegen ergaben, dass es meistens nach dem Mittagessen irgendwo kracht, und die ganze Blase auf Rohrbrücken und Benzinkrackanlagen mit dem Schweißgerät umher turnen muss. Da es mir ab 5 Meter Höhe schlichtweg schlecht wurde, bat ich um weitere Besichtigungsorte zu ebener Erde. Auch konnte ich kein Doppelkopf. Der nächste Arbeitsort war eine riesige Halle in der kleine grüne Dampflokomotiven herum kutschten. Hier wurden Hochdruckanlagen für die Gummiproduktion montiert. Die Leute dort waren sehr nett. Weniger nett, war eine schwarze Warntafel mit den tödlichen Betriebsunfällen aus Unachtsamkeit. 2 Kollegen waren vom Kran gefallen, einer von einer kleinen grünen Lokomotive überfahren worden und zwei waren in ein großes Loch in der Halle gefallen. "Wenn ich schön aufpasse, würde mir schon nichts passieren" war der Kommentar meines Begleiters. Und weiter ging es zu Arbeitsstätten, die zu laut, zu dreckig oder zu gefährlich waren. Fast nix zu tun gab es in einer Chloranlage, wo fast nur Strafgefangene aus dem Hallenser Knast arbeiteten. Ein Gruppenleiterposten wäre auch bei meiner niedrigen Qualifikation als Facharbeiter drin gewesen. Lernen könne ich aber hier was, da ich von all dem absolut keine Ahnung hätte. Mit einem leichtem Chlorgeruch an der Jacke bin ich da fluchtartig verschwunden. Mittlerweile war es schon gegen 11 Uhr und mein Jobbesorger schleppte mich in eine kleine Baracke im Süden des Werkgeländes. Über der Eingangstüre der leicht vergammelten ehemaligen Militärbaracke hing ein kleines Holzschild "ANNA 92". In ANNA 92 war es dunkel, weil die kleinen Fenster mit wachsfarbenen Gummiplanen abgedunkelt waren. Auf einer Werkbank schliefen zwei Kollegen, ein Kollege sass todmüde in einer Ecke und las eine Fußballzeitung. Interessant, dachte ich und fragte, was man hier macht. Mein Begleiter wusste es nicht genau. "Wir gehen mal zum Meister!" Der sass in einem kleinem Hohlblocksteinkabuff nebenan und fütterte gerade seine Fische. Nach einem kleinen Vortrag über Skalare und Guppys rückte Meister Rühlemann mit seiner Aufgabenstellung heraus. "Wir sind die Aufmacher!" "Wie?  Was? Wer? Warum? Wo macht ihr was auf?" waren meine verdatterten Fragen. "Na alles! Getriebedeckel, Pumpengehäuse, Tresore, Aktenschränke, Bürotüren. Jeder, der seinen Schlüssel im Werk versiebt hat, oder abgebrochen, ruft uns an. Wir kommen dann und machen alles fix wieder auf. Es gibt nichts, was wir nicht aufbekommen. Auch Maschinenteile, wo alles festgerostet ist oder ein wichtiger Bolzen ist abgebrochen ist unser Arbeitsgebiet." Die Probezeit wäre maximal 4 Wochen und 4 Probezeitler wären dieses Jahr schon im Einsatz gewesen. Ich wäre der Fünfte......"man könne es ja mal versuchen"....Montag nächste Woche kannst Du anfangen!" Klar fing ich da an. Aber so gemütlich und gammelig, wie ich erst gedacht hatte, war es nicht. Die Kollegen hatten 16 Stunden am Stück hintereinander durchgearbeitet und hatten es vor lauter Müdigkeit nicht mehr nach Hause geschafft. Nach 4 Wochen war ich im Team und habe in dem Jahr vor dem Studium in Sachen Metallverarbeitung und -Bearbeitung furchtbar viel bei den Kollegen von ANNA 92 gelernt. Auch über 5 Meter in der Höhe herum zu hantieren wurde zum Klacks.  Schade war nur, dass ich in all meinen späteren Bewerbungen und Personalgesprächen mit diesen Erfahrungen mauern musste. Jemand, der mit Links und vierzig Fieber jede Tür und jeden Tresor knacken kann, ist nur bei einem Schlüsseldienst oder bei der Geldschrankknackergilde optimal qualifiziert."


Anmerkung von rhebs:

ANNA 92 war an seltsamen Erlebnissen sehr umfangreich. Das ZDF hat schon mal was davon verfilmt. https://bit.ly/2Km4nqm
Da ging es um eine halb legale Waffenmanufaktur.

Auch die Varianten der Schrank- und Geldschranköffnungsrituale wären erzählenswert. Lockpicking war damals ein Fremdwort, was in der Öffentlichkeit absolut unbekannt war.  Heute gibt es in Berlin jeden 2. und 4. Donnerstag monatlich von 18 bis 21 Uhr aktuell im Seminarraum der C-base stattfindender Lockpickingworkshop.

Aber selber hab ich dort auch mal eine Katastrophe ausgelöst, als nach meiner "Reparatur" sich mehrere Zentner schwere Lüfterpropeller von der Decke einer Holztrocknungsanlage lösten und Palettenwagongs der Deutschen Reichsbahn zu groben Holzschnitzel und Schrott verwandelten.

Das obige Barackenfoto ist per KI mit https://creator.nightcafe.studio/create
erzeugt. Der promt Befehl dazu lautete:

"Old military barracks from a film set with the sign "ANNA 92" above the door. Art black and white realistic press photo, intricate details, dynamic lighting hyper-detailed"

Leider hat das Ki Programm die Fenster mit dem Wachstuch vergessen.
Warum? Ich habe es dem Programm nicht gesagt

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (17.02.23, 10:01)
Nicht schlecht, aber woher rührt deine Abneigung gegenüber Bindestrichen?

P.S.: ab zu sehen ->  abzusehen

 rhebs meinte dazu am 17.02.23 um 23:15:
Danke!
Mein Deutsch ist grenzwertig!
Hab halt nur 8.Klasse!

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 18.02.23 um 09:29:
Nee, der Text ist orthografisch weitaus besser als das, was manche Abiturienten hier abliefern!
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