Morgenspaziergang

Text zum Thema Alltag

von  Bellis

Es ist angenehm, morgens zum Büro laufen zu können. Man kriegt eine Portion frische Luft ab und kann den schnellen Fußmarsch als Frühsport werten. Und man kann gut Leute beobachten. Viele dieser Leute sehe ich beinahe jeden Tag auf meinem morgendlichen Zwanzig-Minuten-Weg.

Noch im Hausflur treffe ich meinen Nachbarn mit seiner großen Labradorhündin. Begeistert wedelt sie mich ans Geländer und zieht dann ihr Herrchen die Treppe hinunter auf die Straße, um sich dort an den Bordstein zu hocken. Als ich aus der Tür trete, ist mein Nachbar gerade dabei, mit peinlich-dringlicher Stimme seinem Hund zu erklären, dass zwanzig Meter weiter ein schöner Rasenfleck etwas Düngung benötigt. Der Hundedame ist das wurscht.
Auf der Kreuzung vor meinem Haus werde ich von einem Auto geschnitten, das gleich dahinter in eine der raren Parklücken rangiert. Heraus klettert der junge Zahnarzt von gegenüber, der mir zunickt, als wären wir alte Bekannte. Ich lächle zurück, während ich weiter eile.

In der nächsten Straße hat früher meine Freundin gewohnt. Jetzt steht vor ihrem Haus ein an die Laterne angekettetes Fahrrad mit so einem Kindertransporter hinten dran. Gestern war noch ein leuchtend orangefarbener Wimpel daran befestigt, fällt mir auf.
Mir kommt ein junger Mann im schwarzen Buisness-Anzug entgegen. Er trägt braune Schuhe dazu, was nicht nach meinem Geschmack ist. Offenbar gefallen ihm meine hagebuttenroten Schuhe aber auch nicht, denn seinen Augenbrauen heben sich ein wenig, als er mit gesenktem Blick an mir vorbei hastet. Sein Eau de Toilette umwölkt ihn und ich frage mich, ob der Mann keine Zeit mehr für eine Morgendusche hatte.

Während ich die Straße hinunter laufe, ärgere ich mich wie so oft darüber, dass ich meine Kamera zu Hause gelassen habe. Das Kopfsteinpflaster der Straße, die Autos auf den Gehwegen und sogar die Mülltonnen glänzen festlich im Gegenlicht. Die Sonne blinzelt durch die Lindenzweige und lässt das transparente Grün wie Morgennebel schweben.
Ich fange den Blick einer Frau ein, die meiner Sicht nach oben gefolgt war und mich jetzt irritiert anschaut. Ich lächle, doch sie hat sich bereits abgewandt und kramt in ihrer Handtasche. Ihre Brille ist schick, sie würde gut zu meinen Schuhen passen.

Zwei Straßenecken weiter beginnt der Park. Die Eingangstreppe wird gerade von einem Trupp Straßenfeger gekehrt. Besser gesagt, einer kehrt (der Dunkelhäutigste) und die anderen lesen beiläufig Papierchen auf oder schauen mit in den Hosentaschen versenkten Händen dabei zu. Einer wedelt lachend mit einem Zettel und beginnt, davon vorzulesen. „...finde dich voll geil...“, höre ich – der Rest geht im Johlen der anderen unter.
Im Park lausche ich in die Bäume. Aus dem Vogelgezwitscher höre ich Meisen heraus, einen Zilpzalp und einen Finken. Unter dem blühenden Weißdornstrauch bleibe ich stehen und atme tief den kräftigen bitterherben Duft ein. Gern würde ich ein paar Blüten mitnehmen, um später daran schnuppern zu können, doch auf dem untersten Zweig sitzt ein Amselmännchen, ganz versunken in sein Lied. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfchen ist ein paar Schritte auf mich zugekommen und staunt jetzt den Vogel an. „Komm jetzt!“, ruft seine Mutter, und das Mädchen winkt der Amsel und rennt davon.
Ein paar Gymnasiastinnen schlendern schwatzend an mir vorüber. Sie haben ihre Bootlegs an den Taschen mit bunten Pailletten und Perlen verziert und lassen sie, lässig up to date, über die Fersen ihrer Nikes auf den Boden schleifen. Grinsend denke ich an meine immer zu langen Hosen und freue mich, dass ich absichtslos modern bin.

Die Bank unter der Fliederhecke ist bereits besetzt. Der Stadtstreicher hat sein Sommerquartier bezogen. Sein Bart ist gewachsen und reicht ihm fast bis auf seine Brust, schmutzigbrauner Filz, der sich im Sommer von allein ablösen wird, wie die Wolle ungeschorener Schafe. Winters hatte ich ihn oft im beheizten Vorraum der Post gesehen, wo er döste, auf der Treppe hockend, seine Plastiktüten zwischen den Knien eingeklemmt. Jetzt sitzt er reglos auf der Holzbank und starrt auf die Krokusse, die zwischen Zigarettenkippen und Coladosen aus der Erde sprießen. Hinter ihm schiebt der Flieder bereits erste Blütentrauben in den Frühling.

Am Parkausgang haben sich zwei junge Frauen getroffen und plaudern miteinander. Eine von ihnen setzt ihrem Kind, das müde in seinem Sportwagen sitzt, ein gelbes Mützchen auf. Die Asche ihrer Zigarette wippt bedrohlich über dem Köpfchen.
Im Fußgängertunnel entdecke ich ein neues Graffito: ein Comicmännchen stürzt förmlich aus einem explodierenden Stern und streckt mit grimmigem Gesicht seine Finger nach mir aus. Ich bewundere die bunte Plastizität und wünsche kurz, ich könnte auch so etwas malen.

Hinter der Unterführung steht eine junge Familie mit kleinen Zwillingsjungen an der Fußgängerampel. Einer von ihnen heult und weigert sich, über die Straße zu laufen, als die Ampel auf Grün schaltet. Er ist sauer, weil sein Bruder den Knopf der Ampel drücken durfte. Sein Vater zieht ihn behutsam auf die andere Straßenseite und bietet ihm an, dort den Knopf der Ampel zu drücken, weil noch weitere Fußgänger über die Straße wollen. Doch der Kleine tritt bockig nach dem Ampelmast.
Zusammen mit der Familie hat ein alter Mann begonnen, die Straße zu überqueren. Mit winzigen Kaffeebohnenschritten, Zehlänge für Zehlänge, trippelt er in tiefgebeugter Haltung über die Fahrbahn. Er braucht dazu fast viermal so lang wie ich. Ich laufe bis zur nächsten Straßenecke rückwärts, damit ich die Szene länger beobachten kann. Auf der anderen Seite angekommen, bleibt der Alte stehen und kramt in seinem Einkaufsbeutel. Der kleine Junge hat aufgehört zu weinen und sieht neugierig zu.

An der Ecke werde ich registriert. Die Kommune hat einen Campinganhänger aufgestellt, um eine Verkehrszählung durchzuführen. Im Anhänger sitzen sechs Menschen, jeder von ihnen hat die Kreuzung in einer anderen Richtung fest im Blick und tippt in kurzen Abständen auf Knöpfe eines kleinen Geräts. Auch wenn ich neugierig bin, wie das Gerät funktioniert... ich muss eilig weiter.
Ich überquere kurze Zeit später die Einkaufsstraße in der Innenstadt. Die Cafés sind bereits dabei, Tische und Stühle aufzustellen, Fensterscheiben werden geputzt und Lieferwagen bahnen sich im Schneckentempo ihren Weg durch die Passanten, überholt von einem sausenden Fahrradkurier.
Ich schlängele mich quer durch den Mainstream und schlüpfe in die stillen Gassen der Altstadt. Ein kleines Hotel hat eine Leuchtreklame an seiner Fachwerkfassade aufgehängt. „Hier Elke´s deftige Küche!“ läuft gerade über den Monitor, und dann „Hoteleigene Parkplätze!“ und die aktuelle Uhrzeit. Ich erschrecke – nur noch fünf Minuten bis zum Arbeitsbeginn! – und haste weiter.

Die letzten hundert Meter den Berg hinauf bis zum Bürogebäude habe ich einen schönen Blick auf das frisch renovierte, reichlich mit Gold verzierte Amtsgericht. Justitia thront ganz oben auf dem Giebel und sieht nicht, wie ein Mann mit seiner Digitalkamera die glitzernde Fassade fotografiert. Den Balkon des Nachbarhauses mit den Osterglocken und Gänseblümchen im Blumenkasten und den bunten Windmühlen am Geländer – den sieht wiederum der Mann nicht.

Im Foyer meines Büros angekommen, schmettere ich meine Karte in die Stechuhr (7.59 Uhr!) und ein sonniges „Guten Morgen!“ durch den Raum. „Von gut kann keine Rede sein.“, brummt jemand im Fahrstuhl. Offenbar hat hier der Alltag anders begonnen.

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Kommentare zu diesem Text


 mondenkind (26.04.06)
hach.. hätte ich das doch nur heute morgen schon gelesen... ;) was für ein toller start in den tag es sein kann, wenn man die augen offen hlt für die kleinen wunder und geschichten des alltags... toll beschrieben! wahrscheinlich werd ich es morgen früh nochmal lesen.. :) lg, nici

 Bellis meinte dazu am 26.04.06:
Ich freue mich jedes Mal, wenn ich Dich zum Lächeln bringen kann. ;o) Hab´s auch eben erst eingestellt, Nici, Du hast es sozusagen als erste entdeckt. LG, Bellis.
mmazzurro (51)
(27.04.06)
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 Bellis antwortete darauf am 27.04.06:
Da kommste nicht wieder raus, Werner. Wo gibt´s denn sowas - Komplimente wieder relativieren zu wollen? ;o) Danke Dir für die Empfehlung. :o)
mmazzurro (51) schrieb daraufhin am 27.04.06:
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 Bellis äußerte darauf am 27.04.06:
Boah ey! ;o)
mmazzurro (51) ergänzte dazu am 27.04.06:
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