Im Arbeitsfall [Gedankensatz].

Tagebuch

von  Elén

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• Ich befürchte, in keiner Lehre gibt es so viele Thesen wie in der Lehre der Psychologie; ein wilder Wucher aus Mutmaßungen, ein unentwegter Zirkusakt aus Interpretationen, eine empirische Wissenschaft oder die größte Anarchie der Experten; Spezialisten, die allesamt eine aus bunten Theorien zurechtgebastelte Überzeugung mit sich herumschleppen und schon keine Idee mehr davon haben, dass die Evolution stets den Zweiflern und Skeptikern zu verdanken ist. Man müsste so manchen wirklich vor dieser Untugend schützen.


• Manchmal denke ich, es sollte im Gesamten weniger geredet werden. Wenn ich so dasitze und den Diskurs, der eigentlich kein Diskurs ist, sondern allzu laute Geschäftigkeit im Wort, wenn ich dieses Abhandeln von Unaufmerksamkeiten und Oberflächlichkeiten mitverfolge, dann fällt mir dazu wirklich nichts mehr ein; weil, was soll einem einfallen, wo diese vermeintliche Kundschaft hier noch nicht einmal die Möglichkeit einer Atempause bei seinem Gegenüber in der Funktion des Beraters und Sachverständigen nutzen konnte, um seine Lage vorzubringen.


• Wenn man die Quantenphysik hernimmt und sich vorstellt, dass für jede Zelle, für jedes Atom, für jedes Photon, zu jeder Zeit, an jedem Ort jede denkbare Möglichkeit von allen Möglichkeiten besteht, so ist das einerseits faszinierend, andererseits beklemmend, - weil es entsetzlich ist, wie verstockt und wie hochmütig man immer aufs Neue nur die Idee seiner zwei Patentrezepte erschöpft und sich auch noch etwas drauf einbildet.


• Ich bin mir unsicher darüber, ob der Mensch sein Handeln bzw. sein symptomatisches bzw. sein psychosomatisches Handeln unbedingt willkürlich beeinflussen kann. Zugegeben, ich denke, ab einem gewissen Schweregrad einer Beeinträchtigung kann er das nicht mehr und, wenn er das nicht mehr kann, so stellt sich dahingehend die Frage, ob es pädagogisch wertvoll ist, ein Verhalten oder ein Symptom, das vom Betroffenen nicht rational steuerbar ist, zu sanktionieren. - Einem Patienten, der sich ein Bein bricht und über akute oder chronische Schmerzen klagt, klopft man schließlich auch nicht auf die Finger, weil er herrgottnochmal seine Symptomatik schon wieder nicht im Griff hat.


• Irgendwie ist das ein bisschen bezeichnend. - Das Pferd soll das Bein anheben, damit ihm der Huf ausgekratzt werden kann. Das junge Pferd jedoch hat diese Lektion noch nicht gelernt, es hebt den Huf nichtsdestotrotz zögerlich und vertraulich an und, nun lässt der Akteur mit aller Kraft die Fessel nicht mehr los. Das Tier wird über seiner Unsicherheit hektisch, verliert die Balance und lässt sich bei seiner Angst und Hilflosigkeit als ganzes krachend zu Boden fallen. - Eben. Das macht den Unterschied aus: zu wissen wohin, aber nicht zu wissen, wie vermitteln. Ein bisschen bezeichnend. Und ein bisschen entsetzlich.


• Ich habe in meinem Leben viel Zeit damit zugebracht, Tiere und Menschen zu beobachten, Dinge zu betrachten. Menschen erzählen so viel über sich selbst, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Sie erzählen Geschichten über sich, indem sie von A nach B gehen, sie erzählen Geschichten, indem sie Werkzeuge benutzen, Türen öffnen und schließen, indem sie Tiere füttern, sich Schuhbänder knoten, Butter aufs Brot schmieren, sich Wasser ins Glas leeren; und es ist schön, zu sehen, wenn man sehen kann.


• Einem kleinen Kind kannst du dreihundert mal erklären oder beschreiben was Schnee ist; es wird, solange es Schnee nicht angefasst, nicht auf der Haut gefühlt hat, wird es sich nur eine vage Vorstellung, gemessen an seinen Erfahrungen, davon machen, was Schnee in etwa sein könnte, so lange, solang einer es nicht an die Hand nimmt, um mit ihm hinaus zu gehen. - Bei verschwindend wenigen Ausnahmen sind Menschen keine Physiker oder Analytiker, die mittlere Masse ist emotional. - Was Shakespeare bewiesen hat wie kein anderer.


• Ich musste heute spontan in der Küche einspringen und ich war damit beauftragt unter anderem die Suppe zu kochen. Broccolicremesuppe. Ich liebe Salz und demzufolge habe ich diese Suppe nach meinem Geschmack gewürzt. - Am Mittagstisch, als wir zu sechst an dem Tisch saßen, hat der Chef, während er seine Suppe löffelte, sein Tofu, den Salat aß, sich zwanzig Minuten lang theatralisch und lärmend über die Ungenießbarkeit der Suppe ausgelassen. Vier Leute haben sich weggesetzt an einen anderen Tisch und der Chef hat weitergequengelt. - Man nennt das Ersatzthema. Ich habe nichts gesagt, er ist schließlich Psychotherapeut und muss das wissen.


• Diese Therapieeinrichtung stellt einen Mitarbeiter an, der ist ein Muh, eine richtig alteingesessene Dumpfbacke, ein Zeck. Und ich habe zu meiner Kollegin gesagt, dass meine Meinung von ihrem Kollegen, weil mein Kollege ist er schon lange nicht mehr, meine Meinung von ihm ist, dass er ein richtiger Depp ist. Er erfasst nichts, er vergisst das meiste, er meint es permanent gut und detoniert mit jedem Handgriff das Konzept, ohne, dass er seine destruktive Art auch nur für einen Augenblick begreift. Also, hoffnungslos. Und, meine Kollegin hat gesagt: ja. - Entweder beweist sie Charakter oder Resignation.   


• Auch die Interpretation ist eine Form oder Möglichkeit der Begegnung. Jedoch anzumerken ist: Wer interpretiert, sagt immer noch am meisten über sich selbst aus. -  Herzlichen Dank.





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Kommentare zu diesem Text

Caterina (46)
(19.07.08)
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 Elén meinte dazu am 22.07.08:
Es ist meine Empfindung: bei ihrem Herumtasten ist die Psychotherapie ein wenig überheblich geworden in den letzten Jahren. Die Zeit der Aufklärung hat ihr viel Raum gegeben, was dazu führte, den Raum mit Kompetenzen zu bekleiden, die nur sehr bescheiden Vorhanden sind. Es ist schwierig, weil die meisten Geschichten noch immer "Try and Errorgeschichen" sind und das zum Leidwesen vieler hoffnungsloser Menschen, die die Hoffnung in Leuten suchen, die angeben, von dem etwas zu verstehen, das sie selbst nicht verstehen und keine Lösung finden. Viele Therapeuten geben vor eine Lösung zu haben, - sie passt eben oftmals nicht auf die Unbekannte X und die Rechnung geht nicht auf. - Mh, ..

Dank fürs Lesen.

lg

 beneelim antwortete darauf am 24.07.08:
wenn ich die Psychotherapie als monolithischen Apparat mit Heilungszwang auffassen würde, dann müsste ich wohl zustimmen, ginge es um den "mangelhaften Erfolg".... doch gsd gibt es hier einen klaren Unterschied zur westlichen Schulmedizin, die Erfolg nicht als etwas individuell Deutbares zulässt und mit "Heilung" gleichsetzt. Die Jahre meiner psychotherapeutischen Begleitung verbuche ich als "Erfolg", keinesfalls aber als "Heilung". Himmel, was wollte ich denn noch, wäre ich heil? LG P
Caterina (46) schrieb daraufhin am 24.07.08:
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 beneelim äußerte darauf am 25.07.08:
hm... Studien sind immer eine zweischneidige Sache, im speziellen auch jene von Grawe, die mehr einer Werbedurchschaltung für Verhaltenstherapie gleicht. Zumeist sind sie nur ein Arbeitsauftrag für eine konkurrierende Gruppe, die sich sogleich um eine Gegenstudie bemüht, die Ergebnisse relativieren oder widerlegen will. Dass sich die Verhaltenstherapie nach standardisierten Kriterien so gut evaluieren lässt, liegt vornehmlich an ihrer Arbeitsauffassung und ihrem eher mechanistischem Menschenbild, dass sich verhältnismäßig leichter in Zahlen übersetzen lässt....
Die Situation in Deutschland kenne ich nicht so gut, dort ist Psychotherapie sowohl bezüglich ihrer Ausbildung als auch in ihrer Praxis anderen gesetzlichen Rahmenbedingungen unterworfen. Aber dies-, wie jenseits der Donau gibt es freilich genug Leute, die "herummurksen". Ich weiß von Fällen, wo Personen aufgetragen wurde, im Rahmen einer "Verhaltensintervention" die Wohnung des Therapeuten zu putzen, andere, die sich auf einen feinen Urlaub einladen ließen oder sich mit ihrem Patienten gemeinsam ein Haus gelauft haben etc....
Die Frage ist: welche Alternative ist angezeigt? Dass PT wirkt, ist durch vielfache Studien belegt (ja, man kommt wohl nicht ohne sie aus ;) ), ich halte sie jedoch nicht für eine Wissenschaft, die im Sinne linearer Kausalitäten schablonenhaft stets die gleichen Resultate zeitigt - dafür brauche ich auch das virtuelle Setting eines Experiments, das kaum Lebensbezug aufweisen kann. Der Entwicklungsprozess ist erst in seinem aktuellen Fortschreiten messbar und auch nur bedingt prognostizierbar. Daher ist es Quacksalberei, zu behaupten, "ach, kommen Sie nur her, wir finden garantiert eine Lösung".... hätte man mir Lösungen auf dem Silbertablett serviert, ich hätte wohl am Absatz umgedreht.....
Caterina (46) ergänzte dazu am 25.07.08:
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 beneelim meinte dazu am 25.07.08:
das Machtgefälle, das du ansprichst, ist allerdings ein delikates Thema...nicht nur hinsichtlich der Patienten-Therapeuten Beziehung, sondern auch in Bezug auf die Lehrtherapien, die, zumindest in Österreich, einer sehr starken Vereinsmeierei unterliegen.... und PT, so finde ich, ist freilich auch nicht in jedem Fall das Mittel der Wahl.. ich arbeite in der Sozialbegleitung von psychisch schwerst beeinträchtigten Menschen, bei denen ich in den meisten Fällen PT als kontraindiziert einschätzen würde. Aber da sollten wir wohl an anderer Stelle mal weiterdiskutieren. Ich stürze mich jetzt jedenfalls mal in ein Partywochenende... Schöne Zeit dir noch, LG P
Jack (33)
(20.07.08)
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 Elén meinte dazu am 22.07.08:
:) Dank fürs Vorbeischaun.

lg
sozusagen (31)
(22.07.08)
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 m.o.bryé meinte dazu am 22.07.08:
was hat das mit links- oder rechtshänder zu tun?
lg,Lena
sozusagen (31) meinte dazu am 07.08.08:
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 m.o.bryé meinte dazu am 07.08.08:
naya konnt ich mir denken aber iwie fand ich das bild seltsam ;)
LudwigJanssen (54)
(22.07.08)
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octave (24)
(26.07.08)
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