Über Ontogenie

Text

von  Akzidenz

Beschwerdebriefe alter Freunde
Epistŏla, erster Teil:
An den Demiurg


[..] Das sind euch elende Gestalten; Himmelsänger, Sonnenanbeter, die Kogitanten und die Träumer. Mir sind die Gewalten dieser Stümper lieber als all der güldene Schmirgel Ihrer neuen Jeunesse dorée. Man dünkt sich bald mit gutem Rechte, die Tolldreisten und Hitzköpfe gegen die unnütze Aisance der Gleichgültigen getauscht zu haben, denn man sieht sie vornehmlich in der redlichen Gestalt eines Arbeiters und Geldverdieners wieder, weil sie die Wut in ihren Bäuchen mit derbem Handwerk kompensieren können. Im besten Falle haben diese auch noch einen Schimmer von Ethik. Sie glauben doch an die Schulmoral, nicht? Haben Sie jemals die Verwahrlosung dieser Domestiken in Ihren schauerhaften Großtstädten gesehen? Ich habe nicht die Art Natur, mein Attest mit Übelkeiten einzumahnen, gerade wenn es so bedingt wie die Wahrheit einer Klasse ist - weniger will Ich mich desavouieren wie es die Modenarren tun: Stutzer von spätem Alter, die sich immer noch für Royalisten halten. Doch mir brennt es in den Fingern, wenigsten einen Holismus zu vertreten, dessen mir nur schwerlich zu entraten, und wenn es wer versuchte, ihm gleich zum Vorwurf gemacht werde!

Ich sage Ihnen, die Großstadt ist ein ökonomisches Rätsel; wenn man sich vorsieht, wird einem schlecht. Stellen Sie sich die Betrübten vor, wie sie des Nachts in ihre Wohnungen zurückkehren, so löst ihr Schwindel sich auf einer Hand. Ich rekurriere auf die Einsamkeit; Sie würden es mit aller Gewissheit nur für unbekömmlich halten, wenn Sie all Ihr Habsel der Fabrik versinnen, in der Sie täglich dienen gehen. Man muss Ihnen dazu einbekennen, dass Sie eben über solche herrschen, und dass man Ihnen die Habseligkeit gutschreibt, die Sie in diese Stadt gebracht - was sage Ich! In jede Stadt! Doch dass Sie den Menschen die aretê, die Tauglichkeit geflüstert hätten, wie man es in den Zeitungen sagt, will Ich mich nicht dringend verschreiben. Man merkt Ihnen das süßhafte und zärtliche Odeur aus den französischen Salons ab, von denen Sie sich erzogen fühlen, und dass sie wohl gefeiter waren als ihre leutseligen Gesellen, welche man nur mit ausreichender Philotechnie und guter Konvenienz kennenzulernen vermochte, da man zu eitel war, sich seine Gedankenfehler von Illiteraten überhören zu lassen.

Ihrem Arbeitsethos liegt jedefalls eine Psychologie zu Grunde, die Ihre Beispielhaftigkeit von Belegschaft nicht versteht. Die Salonières hätten es verstanden, nicht?
Ich weiß, wie liebreizend diese Art Frau auf sie gewirkt hat; sie hatten etwas geradeso Emanzipatorisches ansich, wie die eigene Mutter, wenn sie etwas genossen hatte, und man sie dabei ansah. Zu gerne hätte Ich Ihr verschmitzte Lächeln in einen Rahmen gelegt; Ihre Falten wirkten so amön da hinten, als sie Helena mit Ihrem Scharfsinn und guten Bonmots zu imponieren versuchten. Aber die echten Philosophen haben sie gefürchtet! Etwas Unglückseligeres habe Ich nie gesehen; Sie verließen den Salon nach einem hitzigen Disput mit François Duprais. Und Ich möchte mir nicht vorstellen - denn die Vorstellung scheint mir echter, als Ihre rachsüchtige Realistik - wie eilbedürftig Sie nach diesem Abend zu lukubrieren begonnen hatten, um jenes Hinterwissen nachzuholen, welches sich unser fabelhafter Monsieur Duprais wohl in die Wiege hat legen lassen. Können Sie sich vorstellen, dass dessen Mutter, freilich eine Heilige, es einzig mit der Reumut, wie sie nur Mütter empfinden können, einfach abgeschrieben hat, was Sie dazumal verschwinden ließ? Oder dass sein Vater ein renommierter Kürschner war. Das sage Ich Ihnen, da sie die Jünglinge ausbilden, deren Eltern zumeist Nachtschicht schieben. Ihr Sanscülotismus hat Sie jedenfalls davor bewahrt, Ihre namhafte Herkunft zu verbergen.

Ich bin kein Widerling, das bin Ich nicht. Sie wissen, wie ernst es mir um Gelöbnis und Beteuerungen eines veritablen Mannes steht. Und dass er mannstoll zu sein hat, woran auch immer ihm gelegen ist. Dass Ich kein Widerling sei ist offenbar eine Parapraxie. Sie kennen doch den alten Humbug: die Klosterschule hat's Ihnen beigebracht, viel zu sagen, gar zu lügen, wenn Sie nichts zu sagen haben. Ganz so vornehm stehen Sie da und beteuern Ihre Redlichkeit; ZU VIEL (!), sagt man sich. Man sagt es sich im Untergrund.

Ich werde diesen Brief auf Andettas Augen legen, wenn Sie schläft. Sie wird Ihnen nicht erzählt haben, wie es an den armseligen Küsten aussieht, und dass dort immer noch der Myrtenbaum, unter welchem Ihre Mutter starb, fröhlich in den Angeln des Kaikias und der Thyia hängt. Die Menschen wissen immer noch um die Verborgenheiten dieses wunderbaren Litorals, und sie pflegen es mit einer Observanz, die nur jemand Ehrliches, der sich verfleischt, und Ihnen von dort aus Briefe schreibt, verführen könnte, mehr zu hören aus der Welt, und von den eschatologischen Stimmungen etwas zurückzubekommen, die Sie in mir hinterlassen haben, alter Freund.

Der Okkultismus funktioniert nicht in Europa - in Frankreich vielleicht.
Ein Herborist steigt hinter das Dickicht und besichtigt einen Schachen;
welche Arznei mag er gefunden haben? Non liquet.
Er kam anderwärts wieder heraus, mit einer Haut,
wie nur Tannenzapfen sie erleuchten können . .

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram