Epochentypische Gedichte. Symbolismus. Rainer Maria Rilke: Der Panther

Interpretation zum Thema Gefangen

von  EkkehartMittelberg

Diesmal beziehen sich die Ausführungen zum Symbolismus anders als bei meinen vorausgegangenen Interpretationen epochentypischer Gedichte nicht direkt auf Rilkes „Panther.“ Deshalb können eilige LeserInnen mit ihrer Lektüre bei der Überschrift „Rilkes Symbolismus“ beginnen.
Die Epoche „Symbolismus“ ist so vielschichtig, dass ich bei einem Teil meiner Leser das Bedürfnis voraussetze, einen Überblick über ihre Entstehung und Ziele zu erhalten, der sich nicht unmittelbar mit Rilkes Gedicht verbinden lässt.

Symbolismus
Dauer: mit unscharfen Grenzen von 1860 -1925

Begriff Symbol: Ein Symbol ist ein Zeichen, ein Sinnbild, das über sich selbst hinaus auf etwas Allgemeineres, Umfassenderes, Höheres verweist. Traditionelle Symbole sind das Kreuz als Zeichen für das Leiden Jesu Christi, der Ring als Zeichen der Treue, die Taube als Sinnbild des Friedens, das Wasser als Symbol des Lebens.
Das Wort Symbol geht auf das griechische Verb symballein = zusammenwerfen, vergleichen, schließen, erraten zurück. Kulturhistorisch handelte es sich damals um die zwei Hälften eines vor der Trennung bewusst zerbrochenen Gegenstandes, die man später als Erkennungszeichen zusammenfügen konnte.
Zur Zeit der Klassik gewann die Symbolik durch Goethe besondere Bedeutung: „ Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, dass die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.“ (Maximen und Reflexionen)

Ziele des literarischen Symbolismus: Die Stilrichtung ist als Abkehr von der Vernunftgläubigkeit des Realismus (1850-1890) und des Naturalismus (1880-1900) sowie von deren mimetischer (nachahmender), der Aufklärung verpflichteter Kunstauffassung zu verstehen, die sich an der Wirklichkeit orientierte (Realismus) und sie abbilden wollte (Naturalismus).
Die Symbolisten wollten ihre Literatur so weit wie möglich von gesellschaftspolitischen Zusammenhängen der Realität befreien und eine eigene Welt reiner Dichtung (Poésie pure) schaffen. Die Kunst sollte, nur sich selbst verpflichtet (L’art pour L’art), dem Schönen, Nutzlosen und Überflüssigen geweiht sein.
Um die geheimnisvollen Beziehungen der Dinge schaubar zu machen, sollte nach dem Symbolgehalt hinter den vordergründig sichtbaren Erscheinungen der Wirklichkeit gesucht werden. Die so gefundenen Symbole werden im literarischen Schaffensakt neu zusammengesetzt, so dass eine eigene künstlerische Welt entsteht.

Stilmittel des Symbolismus
Das Hauptstilmittel der Epoche sind Einzelwörter mit traditionellem Symbolgehalt, solche, in denen sich durch den Kontext neue Symbolkraft verdichtet, exotisch klingende Wörter und Wortneuschöpfungen. Ferner sollen Reime (zu Beginn der Epoche), Synästhesie (Vermischung von Sinneseindrücken), zum Beispiel „ Die gläsernen Paläste klingen spröder an deinem Blick (Rilke, Spätherbst in Venedig), Lautmalereien und freie Verse, die nur teilweise der Reimbindung unterliegen, eine Magie des Klanges, eine Musikalität der Sprache schaffen.

Entstehung des Symbolismus
Den Begriff Symbolismus führte der Franzose Jean Moréas (1886) ein. Franzosen bestimmten auch die weitere Entwicklung der Epoche. Am Anfang steht Charles Baudelaire mit seinen „Les fleurs du mal“, 1857 (Die Blumen des Bösen), von denen sechs Gedichte wegen Gotteslästerung und Beleidigung der öffentlichen Moral aus der Erstausgabe entfernt werden mussten. Von der suggestiven Sprache Stéphane Mallarmé’s (1842-1898) lernten die Symbolisten, das Gewöhnliche in einem neuen rätselhaften Zusammenhang zu verfremden. Paul Verlaine (1844-1896), zum Beispiel mit „Art poétique“, dem poetologischen Manifest der Symbolisten, Arthur Rimbaud (1854-1891), unter anderen mit seinem symbolträchtigen Gedicht „Le Bateau ivre“, 1871 (Das trunkene Schiff) und Paul Valery (1871-1945), zum Beispiel mit „La jeune Parque“,1917 („Die junge Parze“) waren weitere französische Wegbereiter und Vollender des Symbolismus.
Von den englischsprachigen Symbolisten fanden in Deutschland besondere Aufmerksamkeit der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe (1809-1849), der in seinem posthum (1850) veröffentlichten Essay „The poetic principle“ die Schönheit der Dichtung über ihre Wahrheit stellte und der Ire W. B. Yeats (1865-1939), der unabhängig von der französischen Bewegung zum Symbolismus fand und in der Kunst „die Offenbarung eines versteckten Lebens“ sah.

Der Symbolismus im deutschsprachigen Raum
Im deutschsprachigen Raum gewann der Symbolismus nicht die Bedeutung wie in Frankreich. Einer seiner bedeutendsten Repräsentanten war Stefan George (1868-1933), der die o. a. Franzosen übersetzte und in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Blätter für die Kunst“ das Prinzip der Symbolisten vertrat, dass die Kunst nur für die Kunst da sein solle (l’art pour l’art). Auch Hugo von Hofmannsthal (1874 -1929) mit seinen frühen Werken ist hier besonders hervorzuheben. Er betont wie die französischen Symbolisten die Autonomie der Kunst und nach seinen Worten ist „das Symbol mit Leben und mit dem Erleben dieses Lebens geradezu identisch.“ Der dritte herausragende deutschsprachige Symbolist war Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Rilkes Symbolismus
Rilke schuf einen Symbolismus, der auf genauer Beobachtung und Erfahrung aller Dinge beruht. Dieses genaue Hinsehen soll Zufälligkeiten und Unklarheiten der Wahrnehmung ausschließen. Es geht ihm um das symbolisch erfasste Wesen aller Dinge und deshalb hat er die Bezeichnung „Dinggedicht“ eingeführt.
Bei den Dinggedichten, zu denen auch „Der Panther“ gehört, scheint der Dichter  hinter seine Beobachtungen so zurückzutreten, als schalte er sich als beobachtender Schöpfer des Gedichts aus. Man hat deswegen von der „Ichlosigkeit“ beim Dinggedicht gesprochen. „Nicht mehr das Erlebnis, die Stimmung steht im Vordergrund und findet reflektierten Ausdruck im Gedicht, sondern die "bereinigten" Dinge, die so beschrieben werden, "as they would describe themselves if they were able to speak" - nämlich ohne Zutun des Autors. " (Daniel Gutmann :Die Dinggedichte Rilkes … http://www.gutmann.gmxhome.de/rilke.htm)



Rainer Maria Rilke
Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.


Aus: Neue Gedichte (1907)

Interpretation
Die Symbole in diesem symbolistischen Gedicht sind offensichtlich, nämlich der Gitterkäfig, in dem der Panther eingesperrt ist, als Symbol für Gefangenschaft und das Verhalten des Panthers, dessen kraftvolle Natur auf den „allerkleinsten Kreis“ (II,2) eingegrenzt wurde, dessen „großer Wille“ (II,4) betäubt ist, der also seine Natur nicht ausleben kann, als Symbol für entfremdetes Leben.

Wir haben es hier also mit einem symbolistischen Gedicht zu tun, dessen Aussage, anders als in zahlreichen Werken der französischen Symbolisten und anders als oft bei Stefan George, wenig verschlüsselt und relativ leicht zugänglich ist. Diese leichte Verständlichkeit darf aber nicht als geringere Kunst gegenüber hoch chiffrierten Gedichten missverstanden werden. Sie ist im Gegenteil Ausweis von sinnvoller Bescheidung des Autors Rilke auf das Wesentliche, die Qual der Gefangenschaft des Raubtiers auf jeder Ebene der Gestaltung sinnfällig zu machen, ohne den Ausdruck Qual benutzen zu müssen.

Bei näherer Betrachtung des Gedichts ist meine erste Frage, weshalb Rilke den Ort der Gefangenschaft des Panthers angegeben hat.
Der Jardin des Plantes in Paris wurde 1635 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er ist der älteste Bestandteil des 1793 gegründeten staatlichen Forschungs-und Bildungsinstituts für Naturwisssenschaften „Museum national d’histoire naturelle“, das unter anderem eine Menagerie als Resultat der Französischen Revolution enthält
Rilke hat sich von 1902-1906 in Paris aufgehalten und in dem Jardin des Plantes intensiv die Bewegungen von Raubtieren studiert. Mit dem kurzen Hinweis auf den Jardin teilt er mit, dass sein 1903 zuerst erschienenes Gedicht auf persönlicher Beobachtung beruht. Außerdem erfährt der Leser indirekt, dass der Panther in einem Zoo gehalten wird, der schon zur Entstehungszeit des Gedichts als alt gelten musste und nach heutigen Begriffen keineswegs eine artgerechte Tierhaltung ermöglichen konnte.

Der Autor Rilke scheint als Beobachter in dem Dinggedicht nicht in Erscheinung zu treten. Die Verse scheinen sich allein auf das Objekt der Beobachtung, den Panther, zu konzentrieren.

In der ersten Strophe erfährt man, dass der Blick des Tiers, der im Normalfall den Kontakt zur Außenwelt herstellt, nahezu funktionslos geworden ist. Er ist so müde geworden, dass er keine Wahrnehmungen mehr festhalten kann. Der Grund dafür sind die Gitterstäbe, an denen der Panther vorüber läuft. Das muss er so oft getan haben, dass die Wahrnehmung in ihr Gegenteil verkehrt wird. Nicht der Panther geht an den Stäben vorüber, sondern diese haben eine eigene Dynamik gewonnen, sie laufen an ihm vorüber und haben durch die ständige Wiederholung des immer Gleichen bewirkt, dass sein Blick nichts mehr fixieren kann.
In I,3 schildert Rilke das Bewusstsein des Panthers, den er freilich nicht so weit vermenschlicht, dass er ihn ausdrücklich denken lässt. Aber er schreibt ihm mit den Worten „Ihm ist…“ ein von der Einzelwahrnehmung abstrahierendes Gefühl zu: Die Stäbe nehmen eine Größenordnung „tausend“ an, die den Durchblick verhindert, sodass das Tier „keine Welt“, keine Außenwelt, keine Natur erblicken kann. Es sieht nur noch Stäbe, die es einengen.

Von der Einengung des Raubtiers ist in der zweiten Strophe die Rede. Ein Teil seiner Natur ist ihm noch geblieben, der „weiche Gang geschmeidig starker Schritte“. Aber er ist nicht mehr zielgerichtet, sondern als sinnlose Drehbewegung auf den „allerkleinsten Kreis“ reduziert. Der folgende Vergleich scheint etwas Schönes zu evozieren „Tanz von Kraft“, dieser kreist um das Wesen des Panthers, seinen großen Willen, doch der ist betäubt.

Die dritte Strophe kommt auf den ermüdeten, „fassungslosen“ Blick zurück. Er ist durch den „Vorhang der Pupille“ verhängt, der sich aber manchmal (reflexartig?) öffnet. Dann fasst er trotz der tausend Stäbe noch ein Bild. Dieses scheint die sinnlose Bewegung des im Kreise Laufens für einen Moment zu stoppen ("geht durch der Glieder angespannte Stille“) und erreicht das innerste Wesen des Panthers, sein Herz. Dort jedoch hört es auf zu sein, es zerfällt. So wird das gesamte Gedicht nicht allein zum Symbol für das seiner Natur entfremdete Leben eines Raubtiers, sondern darüber hinaus für sinnloses Leben. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt im Sinne des Lesers, der den Text macht, sich von der Beschränkung des Dinggedichts zu lösen und das entfremdete Leben des Raubtiers auf den Menschen zu übertragen. Ob Rilke das intendierte, spielt dabei keine Rolle.*

Der lebharte fünffüßige Jambus sowie die alternierenden weiblichen und männlichen Versausgänge entsprechen dem von der Bewegung des Panthers bestimmten Gedicht. Nur der letzte Vers, der von dem Ende des Bildes spricht, ist vierfüßig.
Starke Akzente des Rhythmus heben Schlüsselwörter aus dem regelmäßigen Ablauf der Jamben heraus, zum Beispiel “müd, nichts, tausend Stäbe, keine Welt, allerkleinsten Kreise , Tanz von Kraft, betäubt , großer Wille, Bild, Stille, Herzen auf zu sein.“
Das Zusammenspiel von Metrum und Rhythmus erlaubt beim Lesen des Gedichts Zäsuren, die in eine metrische Senke fallen und eine reizvolle Spannung erzeugen, zum Beispiel in III,2 durch den Gedankenstrich, aber auch
„in der betäubt/ein großer Wille steht;“ (II,4) „ und hört im Herzen auf/ zu sein.“ (IV,4).

Der Panther ist ein Dinggedicht, das von einem besonders vitalen Raubtier handelt, welches um seine Natur gebracht wurde. In der genauen, formvollendeten, unpathetischen Schilderung dieser Tatsache liegt seine Größe.

Ekkehart Mittelberg, Juni 2015


Anmerkung von EkkehartMittelberg:

*Ich danke ParkfüralteProfs, der mir Mut machte (siehe Thread), über den engen Rahmen des Dinggedichts hinausgehend diesen Bezug zum Menschen herzustellen.

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Kommentare zu diesem Text


 Jorge (23.06.15)
Eine lehrreiche Abhandlung, die mir selbst nach Mitternacht mein Literatur Wissen aufgefrischt hat.

Vielen Dank und saludos
Jorge

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.06.15:
Merci, Jorge, gib es doch zu, Mitternachtsspitzen wären dir noch lieber gewesen. ))
Liebe Grüße
Ekki

 Jorge antwortete darauf am 23.06.15:
Um diese Zeit sage ich nichts ohne meinen Anwalt
chichi† (80) schrieb daraufhin am 23.06.15:
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 23.06.15:
@ Jorge und chichi: Ihr habt ja Recht. Ich brauche den Anwalt immer früh morgens.

LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (23.06.15)
Der Autor Rilke als Beobachter tritt in dem Dinggedicht nicht in Erscheinung. Die Verse sind allein auf das Objekt der Beobachtung, den Panther, konzentriert.
ist natürlich eine rein literarische Betrachtung Im Allgemeinen lässt sich die Auffassung
Er schaltet sich als beobachtender Schöpfer des Gedichts aus. Man hat deswegen von der „Ichlosigkeit“ beim Dinggedicht gesprochen.
kaum aufrechterhalten. Konsequent durchgedacht bedeutet das eine Trennung von Mensch und Natur, was ich für einen Irrweg halte.

Ein sehr lesenswerter Essay.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 23.06.15:
Danke für diesen Hinweis, Trekan. Ich werde die Aussage in deinem Sinne abschwächen.
Al_Azif (34) meinte dazu am 23.06.15:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.06.15:
Richtig, dass du einhakst. Es stimmt, dass die Sprechinstanz hier deutlich wahrnehmbar ist. Merci.
parkfüralteprofs (57)
(23.06.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.06.15:
Ich finde deine Gedanken sehr anregend, Park. Danke.
Uneingeschränkte Zustimmung dazu, dass es die ganz objektiven Dinggedichte nicht gibt. Die Illusion, in einem Dinggedicht etwas von sich wegrücken zu können, Distanz zu schaffen , ist verständlich und nachvollziehbar, aber du hast Recht: Letztlich geht es immer um den Menschen, wie sehr man auch versucht, davon zu abstrahieren. Daraus folgt logisch, dass auch bei dem Gedicht über den Panther der Mensch unausgesprochen gegenwärig ist. Ich werde versuchen, das in meine Interpretation aufzunehmen (dauert noch ein bisschen). Ja, auch aus meiner Sicht ist Nietzsche der Autor der Epoche. Aber auch Rilke dachte groß von sich. Ich bin deshalb nicht sicher, ob sich Nietzsches Wille zur Macht auch auf Rilke erstreckte. ) Ich halte es durchaus für denkbar, dass Rilke auf die Formulierung Tanz von Kraft um eine Mitte ein großer Wille steht aus reiner Anschauung gekommen ist, ohne dabei an Nietzsche zu denken. Deshalb möchte ich hier nicht spekulieren. Wenn du einen Beleg für die Beeinflussung durch Nietzsche hast, sieht das natürlich anders aus.

 AZU20 (23.06.15)
Gern gelesen, zumal mich das Gedicht schon immer besonders ansprach. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.06.15:
Danke, Armin. Die Interpretation scheint dich auch ein bisschen angesprochen zu haben.

LG
Ekki
LottaManguetti (59)
(23.06.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.06.15:
"Ihm mag gleichzeitig die Parallele zum Menschen bewusst gewesen sein. Vorrangig jedoch beschreibt er minutiös das Verhalten des Tieres in der Gefangenschaft."
"Grazie, Lotta, ich denke, dass es so war, wie du es in obigem Zitat sagst. Die Parallele zwischen Panther und Mensch darf selbstverständlich hergestellt werden, gleichgültig, ob Rilke sie intendiert hat oder nicht. Aber sie kann nur hergestellt werden, weil er den Panther so genau beobachtet hat.
Ich freue mich sehr, dass dir meine Interpretation so gut gefallen hat.

Liebe Grüße
Ekki
JamesBlond (63)
(24.06.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.15:
Lieber James,Merci. Wahrscheinlich tue ich nicht gut daran, als Erster zu deinem Kommentar Stellung zu nehmen, der sich durch Präzision und Klarheit auszeichnet. Wenn es einem Autor (in diesem Falle mir) gelungen ist, durch einen Beitrag eine Diskussion auszulösen, sollte er sich zurückhalten, weil er die geringste Distanz zu seinem Text hat und Gefahr läuft, ihn rechtfertigen zu wollen. Dies bedenkend, gebe ich triebhaft inkonsequent (;-)) ) meinen Senf dazu: 1. Begriffskritik: "Ein Symbol ist kein Zeichen. Letzteres ist eine bedeutungsfreie Chiffre, der ein bestimmter Inhalt definitorisch zugeordnet werden muss, um eine Bedeutung zu erlangen. Ein Sinnbild ist demgegenüber ein Ikon, das eine wahrnehmbare Ähnlichkeit zum referenzierten Objekt aufweist, wobei das Symbol darüberhinaus einen durch Tradition und Konvention erweiterten Bezug zu übergeordneten Inhalten aufweist." Mag sein, dass ein Symbol in seiner Entstehung zunächst kein Zeichen war, aber es ist zum Zeichen geworden, weil ihm "ein bestimmter Inhalt definitorisch zugeordnet" wurde. "In hoch signo vinces" (In diesem Zeichen wirst du siegen). Mit dem Kreuz ist genau das passiert. Ihm wurde ein bestimmter Inhalt definitorisch zugeordnet und dadurcdh wurde es zum bildhaften Zeichen. Ich denke, dass ein Symbol nicht "eine wahrnehmbare Ähnlichkeit zum referenzierten Objekt" aufweisen muss. Für das Kreuz als bildhaftem Zeichen für das Leiden Jesu Christi mag das zutreffen, aber was ist mit der Taube oder dem Ring. Die Bedeutung wurde dem symbolischen Zeichen durch Konvention zuteil, was nicht heißt , dass es ein wahrnehmbare Ähnlichkeit zwischen Taube und Frieden, zwischen Ring und Treue gibt. Tatsächlich kämpft eine Taube genauso um ihre Existenz wie ein Löwe. Ihre Aggressionslust ist nur weniger offensichtlich. Der Ring mit seiner Öffnung könnte per Konvention umgekehrt zum Zeichen für Untreue geworden sein. Was du über die "Ichlosigkeit" des Dinggedichts geschrieben hast, unterschreibe ich Wort für Wort.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.15:
Die ursprüngliche Antwort wurde am 24.06.2015 von EkkehartMittelberg wieder zurückgenommen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.15:
Ich hätte meinen Kommentar gerne mit Absätzen übersichtlicher gemacht. Aus technischen Gründen ist dies nicht mehr möglich.
JamesBlond (63) meinte dazu am 25.06.15:
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MarieT (58)
(24.06.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.15:
Grazie, Marie. Ja, um das Auffrischen und Erweitern geht es mir bei den epochentypischen Gedichten.
Am wichtigsten aber ist mir, der Illusion entgegenzuwirken, wir hätten das Rad neu erfunden. Wir stehen viel mehr auf den Schultern unserer Vorgänger als uns bewusst ist.
Wir mögen nicht mehr so genial erscheinen, wenn es uns bewusst wird, aber die Unsterblichkeit der Posie und aller Künste besteht auch darin, dass die Fackel weitergereicht wird.

Liebe Grüße
Ekki

 autoralexanderschwarz (24.06.15)
Ein wenig mehr "Konjunktiv" würde der Interpretation gut tun, zumal die subjektive (Aus)deutung der Symbole (oder anders gesprochen: die Füllung der "Leerstellen") in Teilen so referiert wird, als wäre sie eine unumstößliche Gewissheit und nicht das, was sie ist: eine von zahllosen möglichen Lesarten (und ganz bestimmt niemals genuin). Ungeachtet dessen liest sie sich gut.
Graeculus (69) meinte dazu am 24.06.15:
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 24.06.15:
Ich würde mir da nicht so sicher sein...
... auch hier gibt es mindestens beide Möglichkeiten.
Graeculus (69) meinte dazu am 24.06.15:
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 24.06.15:
Und zumindest das muss ich noch nachtragen: "Konjunktiv" (in Anführungszeichen) meint hier nicht konkret den grammatischen Modus sondern vielmehr im übertragenen Sinne "ein Bewusstsein für die Relativität der eigenen Interpretation". In diesem Sinne kann man den Begriff hier sogar als ein Symbol verstehen.

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 24.06.15:
So so. Im Supermarkt.
Graeculus (69) meinte dazu am 24.06.15:
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 24.06.15:
"Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des echten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber – dessen Typus zu studieren, dessen Bekenntnisse, wenn er sie macht, anzuhören jetzt zur leidigen Pflicht wird – unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung »Philister« durch einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, daß er gar nicht weiß, was der Philister und was sein Gegensatz ist: weshalb wir uns nicht wundern werden, wenn er meistens es feierlich verschwört, Philister zu sein. Er fühlt sich, bei diesem Mangel jeder Selbsterkenntnis, fest überzeugt, daß seine »Bildung« gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei: und da er überall Gebildete seiner Art vorfindet und alle öffentlichen Institutionen, Schul-, Bildungs- und Kulturanstalten gemäß seiner Gebildetheit und nach seinen Bedürfnissen eingerichtet findet, so trägt er auch überallhin das siegreiche Gefühl mit sich herum, der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu sein, und macht dementsprechend seine Forderungen und Ansprüche."

Friedrich Nietzsche (UZB): http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3244/3
Graeculus (69) meinte dazu am 24.06.15:
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 24.06.15:
Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt. Es ist nichts so verwerflich und gering in der Natur, was nicht durch einen kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens sofort wie ein Schlauch aufgeschwellt würde; und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen.

http://www.textlog.de/455.html
Graeculus (69) meinte dazu am 24.06.15:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.15:
@autoralexanderschwarz. Nö, Alexander. Mein Beitrag ist klar als Interpretation ausgewiesen. Interpretationen sind mehr oder weniger subjektive Stellungnahmen. Man kann sich ihrer mehr oder weniger sicher sein. In diesem Falle habe ich außer der von parkfüralteprofs angeregten Erweiterung nichts geschrieben, was einen konjunktivischen Eiertanz nötig gemacht hätte.
Ich schätze den Konjunktiv als Aussage für schwebende Bedeutungen und verwende ihn dafür gern. Aber ich benutze den Indikativ, wenn ich meiner Sache sicher bin. Wenn ich mich geirrt habe, gehe ich gerne auf andere Interpretationen ein und korrigiere mich. (Siehe den Verlauf des Threads)
Ecnal (50) meinte dazu am 24.06.15:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.15:
hahaha, den verkniffe ich mir auch nicht.
Gracie especiale, Lance.
(Antwort korrigiert am 24.06.2015)
Ecnal (50)
(24.06.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.15:
Gracias, Lanze. Die Dinggedichte haben freilich eine breite Palette. Ich habe mal eine Ode auf meinen Kleiderbügel geschrieben. )
wa Bash (47)
(25.06.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.06.15:
Merci, wa Bash. Ja, ich denke auch, dass das ganze Gedicht als Symbol für die Wirkung von Gefangenschaft gesehen werden darf.

 Dieter Wal (17.07.15)
Frauke Velden-Hohrath widmete in ihrer Dissertation "Wolf Graf von Kalckreuth: Existenz - Übersetzung - Dichtung. Das lyrische Werk zwischen Todessehnsucht und Kriegslust" dem Symbolismus ein eigenes Kapitel (250f.), und fand treffende gültige Worte zum Phänomen. Das bemerkenswerte lyrische Werk Wolf von Kalckreuths steht in engem Zusammenhang zum Symbolismus und Rilke selbst.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 17.07.15:
Vielen Dank für diesen interessanten Hinweis, Dieter.

 Willibald meinte dazu am 17.09.18:
Doppelung, bitte löschen...

Antwort geändert am 17.09.2018 um 17:20 Uhr

 Willibald (17.09.18)
Doppelte Optik in Rilkes Panthergedicht?

Salute in die Runde der Aficionados...

Nehme vergnügt von Ekkehard und James und anderen den Gedanken auf, dass der Text verdeckt und offen ein Spiel treibt, indem er Wahrnehmungen und Standorte fließend anbietet und im Panther menschliche und animalische Perspektive überlappen lässt.

Ich begründe die These von der Ähnlichkeit der Situationen (innerhalb und außerhalb des Käfiggitters) vielleicht ein bisschen anders – angeregt von den klugen Gedanken meiner Vorleute. Und nicht zuletzt auf den gutgemeinten, aber nicht recht glücklichen Rat hin, den Konjunktiv in der Interpretation nicht zu vernachlässigen. Konzentriere mich dabei auf das latente lyrische Ich: einen Beobachter und Menschen vor und hinter dem Gitter. Und auf den Konjunktiv im Text ("Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/und hinter tausend Stäben keine Welt.")..

Setting und Konfiguration

Im Original - man vergleiche Ekkehards Wiedergabe - gibt es einen Untertitel („Im Jardin des Plantes, Paris“) nach der Überschrift "Der Panther", der vielen vielleicht gar nicht auffällt oder nach der Lektüre entfällt. Mit dieser Lokalisation ist das setting schärfer skizziert, eine Art Zoo, natürlich auch mit botanischem Garten, eine von Menschen ausgestellte, parkähnlich bearbeitete Natur mit Mensch, Flora und Fauna.

Eine Großstadt wie Paris: anskizziert metonymisch steht sie auch für Kultur und Zivilisation, vielleicht einen Höhepunkt der Zivilisation, den Ideal- und Realtypus. Darin, in dem Park und der Stadt, vermutlich ein Ich, das dem Panther zusieht und sich in ihn einfühlen kann.

Der Blick und der Konjunktiv

Eine besondere Art der Einfühlung ist das.
Offensichtlich ist das lyrische Ich fähig, den „müden Blick“ bis ins Bewusstein des Tieres weiterzuverfolgen. Dass der Blick nichts mehr „halten“ oder „festhalten“ kann, ist wohl auf dessen Gefängnissituation zurückzuführen. Das, was sich (scheinbar) bewegt, sind die Stäbe, die nicht aufhören. Und hinter den Stäben scheint – so die Perspektive des Panthers und das lyrische Ich kennt diese Perspektive – keine Welt zu sein.

Der Konjunktiv in „gäbe“, der Modus der eingeschränkten Gültigkeit, hat hier eine irreale Färbung, wir wissen, wir sind ja selber außerhalb des Käfigs, dass es sehr wohl eine Welt außerhalb der Gitter gibt. Der Konjunktiv nimmt also die Negation in „keine Welt“ zurück.

Andererseits lässt sich die Einfühlung in den Panther auch als eine latente Bestätigung des Pantherblickes lesen. Ich kann mich täuschen, eine Formulierung mit „als ob“ und Konjunktiv muss nicht unbedingt eine irreale Färbung haben, es kann auch eine vorsichtige Behauptung sein, die sich an die subjektive Perspektive anbindet, die nicht unbedingt unrecht haben muss: Ein Satz wie "mir ist, als ob es keine Rettung gäbe" legt nahe oder lässt zumindest offen, dass es keine Rettung gibt. Der Konjunktiv ist sozusagen redundant. Er unterstreicht die negative Formulierung von "keine Rettung".

Dort, wo wir die Passage "und hinter tausend Stäben keine Welt" so lesen, dass es sehr wohl eine Welt hinter diesen Stäben gibt, dort hat sich unsere Prämisse einer existenten Welt zum Generator der "irrealen Lesart" aufgeschwungen. Bei "Du schaust so, als ob du mich lieben würdest" ist die Liebe fraglich, aber nicht ausgeschlossen. Dass es hinter den Stäben wirklich keine Welt gibt, ist rein sprachlich nicht ausgeschlossen. Nur unser Weltwissen narkotisiert (bis zu einem gewissen Grad) diese Isotopie. Und unsere Prämisse, dass die tausend Stäbe in "Wirklichkeit" ja nicht existieren.

Dazu noch ein nicht linguistisch-grammatisches, sondern ein "ethologisches" Argument: Dort, wo die Stäbe nicht mehr sind, steht latent ein beobachtendes Ich. Wenn es das Innere des Panthers kennt, dann vielleicht, weil es die Gefangenseinsituation nachempfinden kann.

Klar doch: Wie kennen die ursprüngliche Heimat des Panthers, wir verstehen den Verlust der angestammten Wildbahn als Voraussetzung für die Irritation und Depression des Tieres. Das kann aber noch intensivere Gründe haben als nur die Einfühlung in eine nachvollziehbare, aber letzten Endes fremde Situation des Tieres.

Der Gefangene - die doppelte Optik des Gedichtes

Aber, aber, aber. Wie sicher ist die Prämisse, dass es gar keine tausend Stäbe gibt und das es eine gitterfreie Welt gibt?

Antwortversuch mit einem kleinen Salto Mortale vorwärts: Das lyrische Ich schaut hinter Stäben und durch Stäbe auf eine gefangene, animalisch schöne Kreatur. Der Bewohner der Welt außerhalb des Käfigs ist vielleicht der Bewohner, in welcher man Tiere einsperrt und ausstellt, er ist aber auch gleichzeitig in seinem vitalen, seinem animalischen Kern von der Parklandschaft und der Stadt und der Zivilisation eingeengt und gefangen. Eine reduzierte, eine wenig vitale Welt. Und somit eben nicht die ursprüngliche oder "eigentliche Welt". Und ähnlich wie eine Teilunwahrheit eine Aussage falsch machen kann, ist in dieser Perspektive die uns bekannte und von uns bewohnte Welt eben "keine Welt".

Und somit - diese Interpretationshypothese sei gewagt - sieht der Beobachter sein animalisches, sein vitales Ich im und mit dem Panther in einer Gefängniswelt.

Damit kippt die These vom irrealen Konjunktiv plötzlich. Die vom Potentialis schiebt sich vor. Und somit sind jetzt mindestens zwei Lesarten möglich. Die Welt des Beschauers als Gefängnis und/oder kein Gefängnis.


Fragt sich, ob in der letzten Strophe sich nicht auch der Beobachter im Pupillen-Bild „gesehen“ „sieht“. Einmal als ein Bildstimulus, der nicht weiter wichtig für den Panther ist und in dessen Depression versiegt. Dann weil er, der Beobachter, in einem vitalen Sinn nicht existiert, allenfalls in der reduzierten Existenz des Stadtmenschen, der sich - zweifellos auf eine sehr sensible, sehr empathische Weise im Panther einen Idealtypus von wildem Tier und Natur gönnt und sich mit „seiner“ Existenzform konfrontiert sieht. Mit der Schwundstufe von Welt unterhalb der Natur. Manche würden wohl den Begriff der "Schwundstufe" zurückweisen. Aber den gewissen Verlust mit zugestehen.

Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf-. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

von Rainer Maria Rilke

Aus: Neue Gedichte (1907)


P.S.
Hier ein bisschen Material zum Aufschlusswert von

"als ob" + Indikativ
"als ob" + Konjunktiv I
"als ob" + Konjunktiv II

Auch die literarische Qualität des Grass-Werkes kritisierte Kempowski: Die paar Ausschnitte, die er gelesen habe, finde er "bieder und altmodisch - so, als ob die Zeit an ihm vorübergegangen ist und es Arno Schmidt nie gegeben hätte". (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Mit Blick auf die Scheingesellschaften hatte Bass schon im Februar 2000 in einem Memo an Andersens Enron-Team geschrieben: "Es sieht so aus, als ob die ganze Sache keine Substanz hat". (Quelle: Der Spiegel ONLINE) (habe?, hätte?)

Italienischer Fußball wirkt derzeit wie in die dunklen Sechziger Jahre des Catenaccio zurückgefallen, so als ob man Ferraris kauft, um mit ihnen durch verkehrsberuhigte Zonen zu tuckern. (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Es komme ihm vor, als ob die "Reise zwischen Alltagsleben und Kunst auf einer Möbiusschleife stattfindet". (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Herren Anfang sechzig stehen auf den Stühlen und recken die Fäuste empor, dauergewellte Mitdreißigerinnen zappeln wie von der Spinne gestochen, biedere Schwaben johlen, als ob die Welt morgen zu Ende ginge. (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Doch auch hier werde so getan, als ob dies möglich wäre: "Es gibt einen Paragrafen über Abgeordnetenkorruption, der so speziell formuliert ist, dass er niemals zur Anwendung kommen wird." (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

"In Italien ist es so, als ob Leo Kirch in Deutschland Bundeskanzler wäre", kommentieren Beobachter die Stellung Berlusconis. (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Was Kaweh Niroomand, dem Manager des Volleyball-Bundesligisten SC Charlottenburg, nach drei Jahren gemeinsamer Arbeit zur Trennung von Trainer Brian Watson einfiel, klang nicht so, als ob da ein schwerwiegender Verlust zu beklagen sei. (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Und die singen und spielen die beiden mit so viel feinem Humor, komischem Pathos oder - je nachdem - zurückhaltendem Ernst, dass die Zuschauer im wenig gefüllten Saal bald lachen oder gebannt mitfiebern, als ob sie die Geschichten miterlebten. (Quelle: Der Spiegel ONLINE)

Und als ob diese Oase an sich nicht schon Wunder genug wäre, sonnt sich ganz oben auf den Felsen noch ein mümmelndes Murmeltier, ein Viscacha. (Quelle: Der Spiegel ONLINE)


Also:

In der deutschen Grammatik sind selbst explizite Konjunktivsätze (Konjunktiv II) mit als ob/wie wenn nicht notwendig mit der Irrealis-Lesart verknüpft. Vielmehr liegt so etwas vor wie ein hypothetischer Vergleichssatz:

Er sieht so aus, als wäre er krank/wie wenn er krank wäre. (Buscha 1995, S.14)

Max war knallrot im Gesicht - als ob er sich furchtbar aufgeregt hätte. (Oppenrieder 1991, S. 364)

In diesen beiden Sätzen ist keineswegs ausgeschlossen, dass eine Krankheit vorliegt, beziehungsweise eine heftige Aufregung.

Salute und Valeat an den geneigten Leser

willibald wamser

Kommentar geändert am 18.09.2018 um 11:25 Uhr

 Willibald (10.01.19)
Habe den obigen Kommentar, angeregt von Ekkehards Interpretation zum "Dingsymbol" Panther und angeregt von den Reaktionen seiner Leser, überarbeitet und eigens eingestellt.

Als

"Panthersachen bei Rilke".

greetse

ww

Kommentar geändert am 10.01.2019 um 10:38 Uhr

Kommentar geändert am 10.01.2019 um 14:58 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.19:
Verzeih, lieber Willibald,, die Beantwortung der Kommentare zu meinen Sonetten über Selbstironie erlaubt mir erst jetzt auf deine Interpretation einzugehen. Seit Wolfgang Iser werden unterschiedliche Lesarten von Gedichten von der Literaturwissenschaft akzeptiert, weil der Text nicht mehr die einzige Autorität ist, sondern auch die Vorstellungen, die der Leser mit dem Text verbindet. Ich finde das völlig in Ordnung.
Nicht so gut finde ich, dass heute oft unterschiedliche Lesarten ohne genauen Rückbezug auf den Text angeboten werden. Davon hebt sich deine Interpretation wohltuend ab, weil du gerade durch sorgfältigen Rekurs auf den Text, insbesondere auf die Benutzung des Konjunktivs, zu einer zweiten Lesart kommst, die mir einleuchtet. Hier noch einmal für flüchtige Leser deine Zusammenfassung: "Und somit - diese Interpretationshypothese sei gewagt - sieht der Beobachter sein animalisches, sein vitales Ich im und mit dem Panther in einer Gefängniswelt.

Damit kippt die These vom irrealen Konjunktiv plötzlich. Die vom Potentialis schiebt sich vor. Und somit sind jetzt mindestens zwei Lesarten möglich. Die Welt des Beschauers als Gefängnis und/oder kein Gefängnis."

Ich danke dir für die sorgfältige Lektüre von Rilkes Gedicht und meines Textes.
Beste Grüße
Ekki

 harzgebirgler (10.10.21)
vielleicht spielt darin stillschweigend auch mit
dionysos der auf dem panther ritt
und dessen wildheit quasi schon beschnitt -
gleich vier spannte ihm schilling vor den wagen
auf der semperoper sozusagen
um musik in alle welt zu tragen.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.10.21:
Merci, Henning, immer wieder genieße ich deine Hinweise aus dem Fundus von Bildung.
LG
Ekki
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