Teil 34

Roman

von  AnastasiaCeléste

Cat saß an ihrem Fenster und beobachtete den Himmel.
Sie fühlte, dass etwas Großes passiert sein musste, etwas das womöglich ein Zeichen für sie alle war.
Die junge Frau wartete ebenso sehr auf Aves Heimkehr, wie dessen Bruder, der sich mit einem Buch die Wartezeit im Wohnzimmer vertrieb.
Zwar fühlte sie sich wohl in ihrer neuen Familie, aber das Gefühl auch hier eingesperrt zu sein, nagte an ihr. Gerade in letzter Zeit vernahm sie es deutlicher, diese innere Unruhe und Traurigkeit.
Seit sich die Lage zugespitzt hatte und es eigentlich nirgends ein Durchkommen ohne Chip gab, verließ auch Asher allein die Wohnung. Sie wollte wieder leben, sich frei bewegen auf den Straßen, außerhalb der Stadt, außerhalb dieser Wohnung. Frei sein, ohne Angst. Angst, entdeckt zu werden, von den falschen Leuten gesehen zu werden. Von Menschen, die sie die letzten Jahre durch die Hölle geführt haben, zusammen mit Corvin.
Bevor sie weiter ihren düsteren Gedanken nachhängen konnte, hörte sie das vertraute Geräusch der Wohnungstür.
Sie trat in den Flur und sah ihren großen Beschützer mit ernster Miene seinen Mantel abstreifen. Er schien in Gedanken versunken zu sein. „Ave, was ist passiert?“ fragte Cat vorsichtig. Sie folgte ihm gemeinsam mit Asher in sein Zimmer. Während Ave seine Waffen ablegte, wagte keiner etwas zu sagen. Erst nachdem er sich auf sein Bett gesetzt und ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, begann er zu reden.
„Sie haben sein Lager gesprengt. Es wurde vermutlich komplett zerstört. Ein einziges Trümmerfeld. Corvin ist außer sich.“ erklärte er angespannt.
„Wer sind sie?“ wollte Asher wissen.
Ave fuhr sich durchs Haar. „Ich weiß es nicht. Ich habe da eine Vermutung, aber…ach, keine Ahnung. Corvin will, dass ich die Sache aufkläre und ihm Verantwortliche liefere.“ Er zündete sich eine Zigarette an. „Das kann ich nicht. Ich kann ihm niemanden bringen. Er wird diejenigen umbringen und das ist noch milde ausgedrückt.“ Er nahm einen kräftigen Zug. „Wer auch immer diejenigen sind, die diesen Schlag verübt haben, sie könnten der Schlüssel sein. Ich meine, wenn nicht mal ich auch nur die geringste Idee habe, wie sie das angestellt haben können, dann sind sie echt gut. Wenn sie das geschafft haben, können Sie wahrscheinlich noch ganz andere Sachen. Ich habe ein Gerücht gehört. Man munkelt man könnte seine Chips teilweise deaktivieren. Das kann alles kein Zufall sein.“
Asher stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. „Aber das ist doch gut oder nicht? Es passiert etwas. Du hast mir mal von diesem Lager erzählt. Wenn er all das auf einen Schlag verloren hat, schwächt ihn das doch, oder?“
Ave seufzte: „ Ja, es schwächt ihn zwar in gewisser Weise. Aber es macht ihn noch gefährlicher, als er es eh schon ist. Das ganze macht ihn wahnsinnig, und wenn ich ihn nicht in Kürze etwas liefere, will ich nicht wissen, was passiert.“
Ave starrte eine Weile vor sich hin, tief in Gedanken versunken. Weder sein Bruder noch Cat wussten  hilfreiche Worte in dieser Situation.
„Bis vor ein paar Monaten, wäre das hier noch einfach gewesen“, durchbrach Ave plötzlich das Schweigen. „Wie meinst du das?“ wollte Cat wissen.
Ave lächelte kalt. „Es hat sich viel geändert in letzter Zeit. Ich habe mich verändert.“ Er unterbrach sich einen Augenblick. „Bevor wir uns kannten, hätte ich die Verantwortlichen gesucht und ohne mit der Wimper zu zucken an Corvin ausgeliefert. Weil sie mir egal waren, es egal war, was mit ihnen passieren würde. Weil sie mich nichts angingen.“ Als sich Cats und Aves Blicke trafen, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Für einen Augenblick kam wieder diese gefährliche Aura durch, die ihr besonders am Anfang ihres Zusammentreffens gehörige Angst und Respekt einflößte. Seine Stimme klang in diesem Moment so kühl und emotionslos. Cat erinnerte sich an den Zwischenfall in seinem Zimmer, als er seine Waffe auf sie gerichtet hatte und etwas grob mit ihr umgegangen war. Sein Misstrauen ihr gegenüber hatte lange angehalten.
„Habe ich etwa mit deiner Veränderung zu tun?“ Cat versuchte es mit einem auflockernden Lächeln, um seine und auch ihre Gedanken etwas zu verscheuchen.
„Naja, sagen wir mal so, du hast dem Ganzen vielleicht einen Schubser gegeben. Es ist viel passiert seither, vor dem auch ich nicht mehr die Augen und Ohren verschließen konnte.“
„Ja, mein lieber Bruder hat wieder Gefühle entwickelt“, witzelte Asher von der Seite und entlockte Ave so ein kleines, seltenes Lächeln.
„Was nicht immer Vorteile hat, wie man nun sieht. Gefühle und ein Gewissen sind nicht gerade praktisch in meiner Situation. Aber jetzt mal Spaß bei Seite. Ich habe keine Ahnung, wie ich an die Sache herangehen soll“, gab Ave zu.
Nach einer weiteren stillen Phase, war es Asher der sich vorsichtig zu Wort meldete: „Dann beende es endlich.“
Ave sah ihn an. Als hätte er das Thema nicht schon dutzende Male mit seinem Bruder gehabt. „Verrätst du mir auch wie? Ich bin derjenige, der dir wieder und wieder erklären musste, dass gerade das eben nicht so einfach ist, wie es sich anhört.“ Ave stand auf und begann, wie ein Tiger im Käfig, auf und ab zu laufen.
„Und selbst wenn ich es irgendwie anstelle, mich aus dem Staub mache, betrifft das nicht nur mich. Dann steckt ihr da genauso mit drin und findet keine Ruhe mehr. Ich will nicht zusehen, wie ihr ebenso wie ich gejagt werdet, wie wilde Tiere, zum Abschuss freigegeben. Außerdem bin ich auch zu stolz, einfach so aufzugeben.“ 
„Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, was diese Gruppe uns für Vorteile bieten kann“, begann  Asher verschwörerisch. „Scheinbar sind sie in der Lage etwas zu bewegen. Du sagtest selbst, dass du keine Ahnung hast, wie man das hätte schaffen können. Wenn Abhauen keine Option ist, dann sollten wir zum Angriff übergehen und das am besten mit einer Gruppe, die etwas davon versteht.“
Ave war irritiert von der plötzlichen Kampfeslust seines Bruders. Diese Worte klangen so ungewohnt aus seinem Mund, weil er doch der Ruhigere und Vernünftigere von ihnen war. Möglichst unauffällig bleiben, war bisher sein Motto. Aber Ave wusste nur zu gut, dass irgendwann ein Punkt kommt, unter dessen Umständen sich jeder anfängt zu verändern. Und Ave glaubte zu wissen, dass dieser Punkt bei seinem Bruder in dem Moment gekommen war, als man ihm einen Chip verpasst hatte. Er hatte es kaum ertragen, seinen Bruder nicht davor schützen zu können. Ave hatte gespürt, dass Asher innerlich an dieser Situation zerbrach. Trotz allem durfte man nun nichts überstürzen.
„Wir wissen nichts über diese Leute. Außer, wenn meine Vermutungen stimmen, dass Sie mich schon seit einiger Zeit beobachten. Was auch immer das  zu bedeuten hat. Nur weil Sie einen Schlag gegen Corvin verübt haben, heißt das noch lange nicht, dass wir ihnen trauen können. Die halbe Stadt würde Corvin loswerden wollen, wenn sie könnte. Aber es kämpft eben jeder für sich.“
„Aber ein Versuch wäre es doch Wert“, bekräftigte Asher.
Ave seufzte: „Das ändert aber nichts daran, dass ich Corvin Ergebnisse liefern muss, und das am besten sofort. Mein Ausstieg müsste ein schleichender Prozess sein. Er darf so lange es geht nicht merken, was los ist.“
Cat gefiel das alles ganz und gar nicht. „Das hört sich ja schon wie eine beschlossene Sache an“, warf sie ein.
„Irgendwann müssen wir eine Entscheidung treffen“, antwortete Asher, diesmal sanfter.
„Ja, das mag ja sein, aber das kann eben auch gewaltig schief gehen. Das ist alles sehr riskant!“ gab sie zu bedenken.
„Das ist uns mehr als bewusst, Cat. Aber wo und wann sollen wir denn anfangen? Es gibt für diese Situation keinen Fahrplan“, erwiderte diesmal Ave.
Die junge Frau verstummte. Natürlich wollte sie nicht für immer in diesem Käfig leben, aber es war die Angst, die aus ihr sprach. Der Gedanke wieder in Corvins Hände zu fallen ließ sie erschaudern.
Die Brüder diskutierten noch eine Weile, doch am Ende des Tages gab es weder einen klaren Plan, noch ein genaues Ziel, höchstens grobe Überlegungen. Cat hatte sich irgendwann in ihr Zimmer zurückgezogen. Düstere Erinnerungen plagten Sie. Erinnerungen, die sie lange verdrängt hatte.
Immer wieder sah sie Corvins Gesicht über sich auftauchen, viel zu nah. Seine Züge bedrohlich verzerrt. Sie spürte wieder seine kalten Hände an ihren Wangen, ihren Lippen. Seine Finger, die sich um ihren Hals legten, zuerst sanft, sich langsam fester ziehend, bis es ihr die Luft abschnürte.
Cat starrte wie gelähmt an die Decke. Sie verstand sich selbst nicht. Es war doch noch alles gut. Noch ist nichts Beunruhigendes passiert und trotzdem schnürte ihr plötzlich Angst die Kehle zu.
Corvins aggressive Stimme hallte in ihrem Kopf, als würde er direkt neben ihr stehen.
„Hör endlich auf dich mir zu verweigern“, war einer seiner Lieblingssätze, bevor er sie wieder betäubte. Unzählige Male wachte sie später aus einem vernebelten Zustand zwischen Wachen und Schlafen auf, entblößt und geschunden, mit Schmerzen, die sie wissen lassen sollten, dass es sich nicht lohnt sich gegen ihn zu wehren, da er ohnehin bekommt was er will. „Lass es zu“, „gib auf“, Floskeln,  die sie nicht mehr vergessen würde. Doch für immer in ihre Seele eingebrannt haben sich seine Worte: „Du gehörst mir!“
Drei kleine Worte, die er ihr jedes Mal mit so einer unmissverständlichen Sicherheit und Bedrohlichkeit ins Ohr geflüstert hatte, dass sie bis heute eine Gänsehaut bekam, sobald sie nur daran dachte. 
Während Sie auf ihrem Bett lag wurde es allmählich still in der Wohnung. Es dauerte lange, bis sich ihr Unterbewusstsein beruhigte und sie in einen wenig erholsamen Schlaf entließ.

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