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Teil 37

Roman

von  AnastasiaCeléste

Ave hatte sich am Nachmittag die Überwachungszentrale des Innocents vorgenommen. Von diesem Büro aus wurden alle Überwachungskameras, die in und um das Innocent herum, sowie an den Lagerhallen installiert waren, überwacht. Von diesem Büro aus, konnte man den Club aus diversen Perspektiven beobachten. Man konnte sehen, wer sich auf den Fluren bewegte, sah wer in die Tiefgarage fuhr und wer sie verließ. Dieser Raum war sozusagen Corvins großes, alles sehende Auge. Ave hatte nie gefragt wie viele Kameras auf allen Geländen verteilt waren. Aber er wusste, dass es unglaublich viele waren. Sie waren eine Art Schutzschild für den Boss und ein Zeichen für alle, die feindliche Absichten hatten.
Ave ließ sich die aufgezeichneten Videodateien der letzten Tage aus den Lagerhallen zeigen.
Im Schnelldurchlauf, versuchte er mit seinen Kollegen Auffälligkeiten zu erkennen.
Bis auf einen merkwürdigen Schatten, der in einem Bild zu sehen war und im Nächsten verschwand, konnten Sie nichts finden. Es gab viele Möglichkeiten, die diesen Schatten hätten erklären können. Er schien einem Menschen zu gehören. Aber ob aus den eigenen Reihen, konnte man nicht sagen.
Stundenlang spulten sie sich durch die Aufzeichnungen, ohne handfeste Hinweise zu bekommen.
Schließlich scrollte sich Ave noch durch die Personallisten. Er würde heute nicht mehr allzu tief in die Materie einsteigen, aber zumindest schon mal eine oberflächliche Übersicht wollte er sich verschaffen.
Auf den ersten Blick gab es niemanden, der in den letzten drei Monaten neu dazugekommen war. Musste er vielleicht viel weiter zurückgehen? Gab es irgendwen, der vielleicht schon Jahrelang für jemand anderen agierte?
Die lange Bildschirmarbeit war Ave nicht gewohnt. Am späten Abend taten ihm die Augen weh und seine Konzentration ließ nach. Er würde noch ein paar Tage länger am Schreibtisch verbringen müssen.
Eine Arbeit, um die er andere für gewöhnlich nie beneidet hatte. 
Er verabschiedete sich von den Männern, die die Nachtschicht übernommen haben und machte sich auf den Weg in den Club, um sich noch einen Drink zu genehmigen.
Als er in das bunte und laute Nachtleben eintauchte, hoffte er heimlich Colby zu begegnen. Er hatte sie seit dem  Vorfall nach der Vergewaltigung nicht mehr gesprochen. Er wollte wissen, wie es ihr seither ging, wohl wissend, dass Corvin ein Auge auf beide hatte. Nachdem er einen Platz am Tresen gefunden und bestellt hatte, warf er einen Blick zu Corvins Loge. Sie war leer. Vom Big Boss keine Spur. Ave war es recht.
Er nahm einen Schluck von seinem Drink und sah sich unauffällig um. Er hielt Ausschau nach einem schwarzen Haarschopf. Es dauerte eine Weile, bis er die kleine, schlanke Frau in dem Treiben um ihn herum ausmachen konnte. Sie tanzte am Rand des Saals aufreizend an einer Stange auf einem Tisch, der von Männern für Privatshows gemietet werden konnte. Sie trug einen schwarzen, knappen Bikini, der mit unzähligen silbernen Strasssteinen verziert war, die im Licht des Clubs funkelten. Dazu schwarze Lack High Heels. Ihr langes Haar trug sie in leichten Wellen offen. In Kombination mit ihrem dunklen Make-Up und ihren Tätowierungen hätte man sie locker in die Schublade „Vamp“ stecken können.
Sein Blick wanderte zu den fünf Männern, die um den Tisch herumsaßen und sie anzüglich beobachteten. Ihre gierigen Augen und ihr süffisantes Grinsen gefielen Ave nicht. Unbewusst zogen sich seine Finger enger um das kühle Whiskeyglas. Seine Beschützerinstinkte meldeten sich sofort, zusammen mit einem überraschend besitzerreifenden Gefühl, dass ihm bisher fremd gewesen war. Er musste sich zusammenreißen und versuchte, sich wieder auf seine Freundin zu konzentrieren. Sie rekelte sich um das starre Metall, während sie einen verführerischen Blick aufgesetzt hatte.
Colby war ein Blickfang. Ihr Körper war perfekt. Ave hasste den Gedanken, dass ihre weiche Alabasterhaut jede Nacht von anderen Männern begrabscht wurde. Er hatte bemerkt, dass derartige Gedanken in den letzten Monaten intensiver geworden waren. Er kannte Colby schon mehrere Jahre, in denen sich nichts an ihrer Situation geändert hatte, doch früher nahm ihn der Gedanke an das was sie tat nicht so derartig mit. 
Seine Kiefermuskeln spannten sich an, als er beobachtete wie sie lasziv auf allen Vieren auf einen der Kerle zu krabbelte. Sie präsentierte ihr Dekolleté und animierte die Männer dazu, ihr etwas zuzustecken.
Ave schaute weg. Er musste sich beruhigen, konnte sich hier keine Fehler erlauben.
Er kippte seinen Drink hinunter und bestellte umgehend einen Neuen. Als er sich wieder umdrehte war die Show vorbei und ehe er sich darüber Gedanken machen konnte wo sie hin ist, sah er sie auf sich zukommen.
„Hi“, hauchte sie zärtlich und schenkte ihm einen strahlenden Blick, als sie vor ihm stand. Sie zupfte sich einen letzten Geldschein aus dem Bikini. „Bestellst du mir etwas? Ich bringe das hier nur weg.“ Ave nickte und sah ihr nach, wie sie in Richtung des kleinen Raumes ging, in dem er dafür sorgen wollte, dass Colby ein paar Tage nicht arbeiten musste.
Als er sie in der Menge nicht mehr ausmachen konnte, bestellte er ihr ihren Lieblingsdrink und atmete tief durch.
Colby setzte sich neben ihn. „Schön, dich mal wieder zu sehen, Ave.“ „Das kann ich nur zurückgeben“, entgegnete er und schob ihr das Glas hin. „Wie geht es dir?“ Die junge Frau lächelte zaghaft. „Man schlägt sich so durch“, antwortete sie knapp. Als sie Aves forschenden Blick bemerkte, legte sie ihm ihre Hand aufs Knie und beruhigte ihn: „Es geht mir gut, wirklich. Übrigens danke für dein Bemühen nach dem Vorfall, du weißt schon. Sie haben mich nach zwei Tagen zwar wieder in den Club gescheucht, aber die kleine Auszeit war sehr hilfreich.“
Ave nickte: „Ich hatte mir das eigentlich anders vorgestellt, aber es ist gut zu hören, dass dir deswegen nichts weiter getan wurde. Ich hatte dafür eine nette Unterredung mit Corvin, bei der es mir schwer fiel nicht auszurasten.“
Colby nippte an ihrem Getränk. Sie konnte sich das Gespräch zwischen den beiden Männern gut vorstellen.
Colby ließ sich von dem hohen Stuhl gleiten, nahm  ihr Glas und beugte sich zu ihm vor. „Können wir etwas privater reden?“ Ave nickte. Er folgte ihr zum Ausgang des Clubs. Als sie die Aufpasser passierten, warf Ave ihnen einen warnenden Blick zu. Er war sich sicher, dass sie von seinen Differenzen mit Corvin bezüglich Colby wussten.
Colby schloss ihre Zimmertür hinter sich, schnappte sich eine Strickjacke vom Stuhl und stellte endlich die Frage, die ihr auf den Lippen brannte: „Ave, was ist da draußen los? Wir haben Gerüchte über die Lagerhallen gehört.“ Nachdem beide auf ihrem Bett Platz genommen hatten, erklärte er ihr die Situation und die heikle Lage in der er sich befand, weil er Corvin Schuldige liefern musste.
„Ich will diese Leute finden und kennen lernen. Wenn sich eine ernsthafte Chance ergibt gemeinsame Sachen zu machen, kann es durchaus sein, dass ich von einen auf den nächsten Tag die Entscheidung treffen muss, mich bei Corvin auszuklinken. Und dann werde ich vermutlich der meistgesuchteste Mann der Stadt sein.“ Colby sah ihn schockiert an. „Keine Sorge, ich bin dann zwar eine Weile nicht mehr hier, aber das dient dann dafür, für euch einen Weg hier raus zu finden und Corvin zu entthronen.“
Colby kam näher, legte ihren Kopf an seine Brust. „Das macht mir Angst. Ich habe Angst um dich und vor allem was kommt.“ Ave nahm sie in den Arm und strich ihr beruhigend über den Rücken. Er schwieg. Was hätte er ihr auch antworten können? Er wollte die Zukunft nicht schön reden, weil er sie selbst nicht kannte. Es gab einfach zu viele Unbekannte in diesem Spiel.

Ave war erst tief in der Nacht nach Hause gekommen. Er hatte noch lange mit seiner Freundin zusammengesessen und ihr Trost gespendet. Umgekehrt konnte aber auch er mal wieder etwas Ruhe und Kraft sammeln in ihrer Gegenwart. Er holte den verpassten Schlaf nach, während Cat schon in der Küche Frühstück vorbereitete.
Nach einer kurzen Stärkung fuhr Ave wieder ins Innocent. Er nahm nochmal das Kontrollzentrum für sich ein, schaute sich erneut einige Videoaufnahmen an und durchforstete Personalakten. Es war zum Haare raufen. Er hatte das Gefühl einen Geist zu jagen. Nicht ein Hinweis, nicht mal ein Detail fiel ihm auf, das ihn stutzig machte. Nach stundenlanger Strafarbeit, löste sich Ave von den Akten und fuhr in die Stadt. Er erhoffte sich draußen in den Straßen einen Geistesblitz oder einen Zufall, der ihn weiterbringen würde. Es zog ihn noch einmal zu dem Haus in der Nähe des Lagers. Die verschlossene Eisentür, oder vielmehr große Luke im Boden des Kellers ließ ihm keine Ruhe.
Nachdem Ave sich umgesehen hatte und wusste, dass er alleine war, ging er mit zwei Taschenlampen gewappnet in den Keller. Er legt eine auf die Kellertreppe und die Andere so auf den Boden, dass der Raum gut ausgeleuchtet war. Wie schon zuvor versuchte er die massive Stahltür anzuheben, doch schon nach wenigen Zentimetern spürte er den Widerstand einer Verriegelung.
Dass so ein Raum, oder was auch immer darunter verborgen lag, von unten verschlossen war, war mehr als merkwürdig. Es konnte also nicht nur ein Raum sein oder eine kleine Staufläche. Wer auch immer es verschlossen hatte musste ja von dort auch wieder weg kommen. Es musste also zumindest einen Gang geben, der irgendwo zu einem anderen Ausgang führte.
Ave wurde langsam wütend. Er trat mehrfach mit seinen schweren Schuhen auf die Luke und erzeugte so ein lautes dumpfes Schallen. Insgeheim hoffte er, dass so die richtigen Leute auf ihn aufmerksam wurden.
Er hockte sich an den Rand der Eisenplatte und rief: „Wenn ihr mir irgendetwas sagen wollt, dann gebt euch endlich zu erkennen.“ Kaum war das Hallen seiner Worte verklungen hielt sich Ave für verrückt. Er sprach mit dem Boden, allein in einem Keller.
Trotzdem trat er zurück und wartete. Mittlerweile versuchte er nach jedem noch so kleinen Grashalm zu greifen. Es war vielleicht verrückt, aber nicht ausgeschlossen, dass er eine Antwort bekam.
Nach fünf Minuten in dem schummerigen und staubigen Kellerraum sammelte Ave die Lichtquellen ein und ging nach oben. Zurück im Tageslicht rieb er sich genervt die Schläfen. Er wurde nachlässig, verlor allmählich die Fassung und vor allem wurde er unvorsichtig. Eine Tatsache die ihn ärgerte. Vor einigen Monaten hätte er sich in so einer Situation wie eben, nicht wie ein Elefant im Glashaus verhalten.
Er holte ein paar Mal tief Luft, versuchte sich zu beruhigen bevor er hinaustrat, um seinen Weg durch die Stadt fortzusetzen. Der alte Impala schob sich langsam blubbernd durch die Straßen. Sein Fahrer fuhr für seinen Stil viel zu gemächlich, wollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Ave war auf der Suche nach einer Stelle, die sich zum sturen Warten eignen würde. Einen Platz an dem er nicht überrascht werden konnte. Der ihm genug Möglichkeiten bot, alles im Auge zu behalten und im schlechtesten Fall schnell zu verschwinden. Er änderte nun seine Taktik. Anstatt weiter im Nichts zu suchen, entschied er sich zu warten. Sollten seine Schatten doch zu ihm kommen. Sie waren ihm scheinbar monatelang gefolgt, warum sollten sie es nicht auch jetzt tun?
Während Ave langsam durch die Straßen fuhr, musterte er jeden Passanten ganz genau.
Es waren überall die üblichen Verdächtigen. Ein paar bekannte Gesichter zogen an ihm vorbei. Doch bei niemandem hatte er so ein gewisses Gefühl. So ein wissendes Kribbeln im Nacken. Niemand der seinen Blick hob, als er vorbeifuhr, zeigte mehr Regungen als höchstens den üblichen kurzen, aber ehrfürchtigen Blickkontakt. 
Ave hielt schließlich am Rand des Stadtzentrums auf einem Parkplatz eines mittelgroßen Supermarktes. Weit genug von den bewachten Straßensperren entfernt, um es einem Rebellen ohne Chip leicht zu machen. Die Häuser ringsherum waren übersichtlich, höchstens zwei Stockwerke, sodass Ave sich weniger Sorgen um Schützen machen musste. Er musste das Risiko einfach eingehen, mitten auf diesem Präsentierteller, auf dem er sich mittig positioniert hatte. Er blieb zunächst im Wagen und kontrollierte in regelmäßigen, kurzen Abständen jeden Spiegel, um seine Umgebung im Blick zu behalten. Er hatte die vorderen Seitenscheiben heruntergekurbelt, um auch auffällige Geräusche wahrnehmen zu können. Seine Nerven waren bis aufs Äußerste gespannt. Er musste sich jetzt auf seinen Instinkt verlassen. Die Minuten vergingen quälend langsam. Nach der ersten halben Stunde schlichen sich Zweifel ein. Der Gedanke abzubrechen hämmerte in seinem Kopf wie ein Presslufthammer.
Nach einer Stunde ohne Vorkommnisse entschied sich Ave auszusteigen. Er drehte ein paar Runden um den Wagen und kontrollierte mit geschultem Blick jede Versteckmöglichkeit, die sich um den Parkplatz herum bot. Er spürte seine Waffen schwer in seinem Holster und war dankbar für das Gefühl, dass sie ihm gaben. Das Gefühl von Sicherheit und Macht. Er trug sie bewusst offen zur Schau gestellt. Kein Mantel, keine Jacke die sie, wie sonst, verdeckten. Der großgebaute Mann, komplett in schwarz gekleidet, mit dem dunklen, längerem Haar und den glühenden, hellen Augen, der an beiden Seiten seines Brustkorbes präzise Schusswaffen trug, war ein abschreckendes Bild für sich. Wer ihn kannte, wusste, dass es keine gute Idee ist, sich mit ihm anzulegen. Und dennoch war Ave auf der Hut.
Nach einer weiteren Viertelstunde stieg Ave wieder ein. Er wollte sich nicht länger auf diesem Platz präsentieren. Er startete den Wagen und fuhr genauso langsam wie er gekommen war wieder davon. Vielleicht hatte ihn niemand von ihnen bemerkt. Vielleicht war ihnen dieser Parkplatz zu unsicher. Ave konnte nur Vermutungen anstellen. Drauf und dran seine Suche für heute zu beenden, entschied er sich, noch einen weiteren Platz zu suchen. Etwas versteckter und weniger einsehbar.
Bevor er sich entschied, hielt er an einem kleinen Laden um eine neue Packung seines Suchtmittels zu kaufen. Während er zurück zu seinem Wagen ging, dachte er daran, dass ihn sein starker Drang nach Zigaretten eines Tages umbringen würde, wenn er dieses Chaos hier überlebt. Noch bevor er sich weiter in diese Tatsache vertiefen konnte, spürte er plötzlich dieses vertraute Gefühl. Er hielt inne und sah sich um. Ave hätte schwören können einen Schatten in einem offenen Hauseingang verschwinden gesehen zu haben. Nur ganz kurz im Augenwinkel war es ihm aufgefallen. Ave steckte das Päckchen ein und sprintete über die Straße. Noch bevor er den Eingang erreichte, hatte er seine Waffe gezogen und trat vorsichtig ein.
Normalerweise bevorzugte Ave die stille Taktik. Dennoch sprach er nun diesen Schatten an: „Hey, wer auch immer ihr seid, die ihr mich beobachtet. Ich will reden. Zeigt euch.“ Ave war diese Situation unangenehm. Er fühlte sich regelrecht dumm und klein. Eine Position die er nicht gewohnt war. Er schlich fünf Minuten durch das Haus ohne einen Hinweis auf eine Person. Hatte er sich geirrt? War er so versessen darauf diese Leute zu finden, dass er sich den Schatten eingebildet hatte? Frustriert ging er zurück zu seinem Wagen. Er steckte sich eine Zigarette an und setzte seine Fahrt fort. Wahrscheinlich wurde er langsam verrückt. Der Stress und der Druck forderten vielleicht ihren Tribut.
Ave spürte, dass sich seine Stimmung verdüsterte. Er war dieses Leben so leid.

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