Die Hölle

Bild zum Thema Begegnung

von  Muuuzi

Gestern öffnete ich abends die Wohnungstür und sah in den kalten Gang hinaus. Er erschien mir mit seinen roten Geländer vertraut und doch war er irgendwie seltsam. Seine ganze Farbe hatte sich ins Düstere verändert und die Wände bröckelten. Die mir bekannten Türen und Fenster waren steiler, spitzer und höher. Obwohl ich bloß im ersten Stock wohnte, konnte ich das Erdgeschoß nicht mehr erkennen. Zu tief lag es, zu weit oben war ich nun und schaute überrascht über das Geländer in das Schwarz hinab. Die Klagen des Freundes, der unten an der Türe wartete und zu mir wollte, hörte ich nur sehr schwach. Ich ließ ihn zögernd herein, da ich plötzlich Stimmen von überall hörte und unbekannte Schatten von der Seite wahrnahm. Mein Freund kam zügig, hatte Blumen bei sich und wollte bleiben. Als er bei mir oben angekommen war, bat ich ihn eiligst herein. Er war stattlich, blass und schön. Dunkelbraune Haare umrandeten sein gerades Gesicht. Dann verschloss ich schnell die Tür.
Er setzte sich und trank viel Wein.

„Ich liebe dich!“, sagte ich. Er nickte bloß und sprach über Politik.
„Ich liebe dich!“, sprach ich wieder. Diesmal nur noch in meinen Gedanken.

Irgendwann war er gegangen und ich legte mich hin. Die Tatsache, dass zuvor Vieles anders war als bisher, hatte ich verdrängt und vergessen. In der Nacht wachte ich aber auf und wollte noch einmal hinaus in den Gang, um zu kontrollieren, ob sich denn wirklich etwas verändert hatte. 

Um Mitternacht also, begab ich mich auf den noch immer finsteren Gang hinaus, ging lange Stufen hinab, immer weiter ins Schwarz. Dann erkannte ich hinter einer Ecke verborgen, eine schmale Tür, die einem Wandverschlag glich. Schon Jahre hatte ich sie nicht mehr gesehen, obwohl sie nicht sehr versteckt lag. Ich musste sie bloß vergessen haben. Die Tür war gelblich, fast braun, die Klinke war schön, doch roch sie faulig. Sie war sonderbar und doch hatte sie etwas Selbstverständliches in ihrem Aussehen. 
Ich ging durch die Tür hindurch und kam in ein Gewölbe, das nur sehr schwach beleuchtet war. Die hohen Steinstufen, die wendelartig in einen unbekannten Raum führten, waren nass und hatten an einzelnen Stellen bereits Pfützen gebildet. Ich kannte diesen Weg, doch konnte ich mich auch an ihn nicht mehr erinnern. Ich wusste, dass ich schon oft dort gewesen war, doch entfiel mir nun alles daran.
Als ich das Ende der kalten Treppe erreicht hatte, kam ich in eine große, unterirdische Halle, die hohe Wände hatte. Kahle Fenster, die Dunkelheit zeigten, waren unregelmäßig angeordnet. Überall standen schmutzige, rostige Kloschüsseln, die durch kleine Zwischenwände voneinander getrennt waren. Links standen mehrere Waschbecken aus Keramik, die ebenso unsauber erschienen. Es war frostig und es stank nach Unrat. Rohre, die mitten im Raum lagen, waren teilweise verstopft oder kaputt.. Die Fliesen am Boden, mit gelblichen Flecken besudelt. Wasser tropfte. Es befanden sich Menschen in dieser Halle, doch konnte ich sie nicht sehen. Nur manchmal hörte ich Gejammer oder Gemurmel. Ein Schauer entsprang meinem Rücken und breitete sich über meine gesamten Glieder aus. Die surrende, schwache Lampe flackerte.
Als ich wieder zurück in meine Wohnung kehren wollte, hielt mich eine alte Frau am Arm fest und stöhnte mir wirre Worte zu. Ich verstand sie nicht. Ihr Geruch war mir fremd, die Hände waren feucht. Sie trug ein langes, Kleid, das am Saum blutig war. Immer wieder zeigte sie auf ein kleines Fenster, das sich von den anderen Fenstern unterschied. Mit flehenden Blicken sah sie mich an.
„Der Ausgang ist fort“, flüsterte sie. Dann ging sie zu einem verrosteten Spiegel hinüber und sah sich an.

Im selben Augenblick hörte ich etwas Lautes, Bedrohliches. Es drang ungezähmt und wild in meine Knochen. Als ich den ersten Schreck überwunden hatte, ging ich langsam zu dem kleinen Fenster, auf das die Alte gezeigt hatte. Zitternd blickte ich nach draußen und sah wie zwei Züge am Bahngleis aneinander krachten. Schwarzer Rauch stieg auf und machte die Sicht schwer. Feuer in einigen Waggons, Schreie von Kindern in der Luft. Es roch nach Schweiß, Rauch und Eisen. Menschen lagen am Boden und bewegten sich nicht mehr. Danach hörte ich erneut das Signal eines Zuges und sah wieder zwei mit ganzer Wucht aneinander fahren. Der Rauch vermehrte sich gen Himmel und die Welt wurde rot. Ich konnte mich nicht bewegen. Trümmer überall. Ich sah meinen Freund, der eben noch bei mir war, wie er nun tot und blutig auf den Gleisen lag. Er war in diesen Zugungeheuern gefangen gewesen. Er war eben noch lebendig und schön gewesen. Nun war ihm nicht mehr zu helfen.  Seine Zunge hing heraus und seine Haut wurde bleich. Ich weinte, schrie und brach zusammen. Am Boden sitzend stöhnte ich weiter. Die Welt verschwamm und ich wurde ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir kam, hörte ich Schritte näher kommen, sah nach oben und erkannte das Gesicht meines Freundes, der gestorben war und alt aussah.
Er legte mir behutsam eine Decke um die Schultern und meinte: „Hier, mein Kind. Es ist kalt. Und der Morgen bricht bald an. Ruh dich aus und gehe duschen.“
Ich nickte und folgte seinem Rat, der mir selbstverständlich erschien.
Im Nebenraum befand sich eine hohe Dusche, an der nur sehr wenig Wasser herausfloss. Die Rohre waren aus Kupfer. Ich war nackt und schmutzig. Ruß lag auf meinen Wangen.

Kinder kamen lustig herbeigeeilt und blieben direkt vor mir stehen. Einige lächelten, einige nickten mir munter zu und einige blieben regungslos vor mir stehen. Manche summten leise Lieder oder fingen an zu tanzen. Ich bat sie, mich in Ruhe duschen zu lassen, doch sie folgten mir nicht. Ich schrie und wurde zornig. Immer lauter kamen die Lieder aus ihren Mündern. Immer froher erschien ihr Blick. Dann wurden sie wieder ruhig. Ernst und traurig sahen sie mich an. Ihr zerrissenes Gewand war von Staub bedeckt. Die Haare der Mädchen zerzaust und mit Blumen geschmückt.
„Wir haben alles gesehen!“, flüsterten sie.
„Was meint ihr? Was habt ihr gesehen?“, fragte ich verwirrt.
„Dich, wie du dich gestern umgebracht hast.“

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Kommentare zu diesem Text

matwildast (37)
(28.11.17)
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 EkkehartMittelberg (28.11.17)
Wie schön, nach so langer Zeit mal wieder etwas von dir zu lesen, Muuuzi, , das so bildreich tief ins Unterbewusstsein führt,
LG
Ekki

 AZU20 meinte dazu am 29.11.17:
Das sehe ich auch so. Gern gelesen. LG
Graeculus (69)
(28.11.17)
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