XII. Das Gewissen

Erörterung zum Thema Abhängigkeit

von  Terminator

Das Leben ist leicht. Es kann hart, schmerzvoll, tragisch sein, und es ist immer noch leicht. Erst das Gewissen verleiht dem Leben Schwere.


Das Gewissen ist ein Speichermedium für Ressentiments, es ist das personalisierte Gedächtnis. Erinnerungen werden darin nicht neutral und objektiv nach Wahrheit und Wichtigkeit, sondern immer im Bezug zur eigenen Person gespeichert.


Wer die doppelte Buchführung erfunden hat, hat, wie die meisten Erfinder, bloß bei der Natur abgeschaut. Das Gewissen speichert Schuldscheine und Gutscheine; weil die Schuldscheine gültig sind, solange die sich schuldig fühlende Person ihre Gültigkeit durch die Schuldgefühle anerkennt, ist die Schuld harte Währung. Die Gutscheine sind immer unsicher, da eine Person nie wissen kann, ob sie tatsächlich bekommt, was ihr nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden zusteht.


Die uneingelösten Gutscheine verwandeln sich in Ressentiments. Diese berechtigen zum Hass, ohne sich dabei zu versündigen; berechtigter Hass wird ausgelebt und der Gutschein damit verbraucht. Doch hier denkt der Missratene, er würde den Gutschein dennoch für alle Ewigkeit besitzen. Er hat den Kuchen in Form von Hass (Versündigung gegen die Nächstenliebe, Übelwollen, eventuell Schadenfreude) längst gegessen, führt ihn aber weiterhin als einen Akitivposten. In den Seelenkellern der Missratenen stapeln sich gegessene Kuchen.


Die Schuld ist unmittelbar durch das Schuldgefühl wirksam. Deshalb werden Schuldgefühle benutzt, um andere zu beherrschen, zu entwaffnen oder zu schwächen. Die Sklaven bleiben durch ihre Schuldgefühle (wobei es hier eher die Furcht vor der Hölle ist) versklavt und erlösen sich nicht selbst durch den Freitod. Die mittelmäßig Missratenen werden durch Schuldgefühle zu moralisch besseren Taten angetrieben als ihre wahren Absichten (wobei es bei ihnen eine zum Schuldgefühl konditionierte Angst vor Strafe ist). Nur die Wohlgeratenen empfinden Schuld als Schuld: Reue, Bedauern, Selbstverachtung, und haben den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, und den unbedingten Willen, den Schaden wiedergutzumachen.


Auf dem Gewissen der Wohlgeratenen, das nach Reinheit strebt, parasitieren die Missratenen, indem sie ihnen Schuldgefühle machen. Manche der Wohlgeratenen, die weniger Geistig-Apollinischen und mehr Seelisch-Dionysischen, legen das Gewissen ab und befreien sich so von ihrer Schuld. Dann werden sie von den Missratenen als gewissenlos bezeichnet. Doch die Qual des Gewissens ist für einen Menschen, der wahrhaft nach seinem Ideal strebt, viel leidvoller als die dumpfe Angst der Ochsen vor dem Schlächter, ohne dessen Vorstellung sie sofort zu Verbrechern geworden wären.


Die Manipulation des Gewissens, der Missbrauch der Schuldgefühle, verursacht beim höheren Menschen so schweres Leid, dass er moralisch berechtigt ist, das Gewissen abzulegen, um weiter leben zu können: um nach der Selbstvervollkommnung zu streben, musst du am Leben sein. Dieser Zwangsabstieg vom Apollinischen zum Dionysischen ist bereits der Preis, den der Wohlgeratene für das Abwerfen des Gewissens bezahlt hat, und nun hat er das Recht, sich wie ein ungezähmtes Raubtier zu verhalten und rücksichtslos Gewalt gegen die Missratenen auszuüben: sie haben ihm bereits durch dieses Herunterziehen Gewalt angetan, und so kann er ihnen gegenüber nicht mehr schuldig werden.  


Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Hamlet (14.03.23, 21:29)
Tolle Metapher: In den Seelenkellern der Missratenen stapeln sich gegessene Kuchen.

Interessante Rechtfertigung: Sie haben ihm bereits durch dieses Herunterziehen Gewalt angetan, und so kann er ihnen gegenüber nicht mehr schuldig werden. 



Kommentar geändert am 14.03.2023 um 21:29 Uhr

Kommentar geändert am 14.03.2023 um 21:30 Uhr

Kommentar geändert am 14.03.2023 um 21:31 Uhr

 harzgebirgler (22.03.23, 09:57)
wer sich von seinem gewissen beißen lässt,
der hat es schlecht erzogen.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram