Romeo oder Jack the Ripper?

Kurzgeschichte zum Thema Abgrund

von  Elisabeth

Vor kurzem legte die Historikerin Agathe Herman eine gründlich recherchierte Geschichte der Familie d'Arbeau vor, von ihren Anfängen im 13. Jahrhundert bis zum letzten Sproß des Geschlechts, dem Fabrikanten Gabriel Henri d'Arbeau, der erst vor wenigen Jahren starb. Obwohl das 2000 Seiten starke Werk allen Ansprüchen, die ein fachkundiger Leser an eine Arbeit dieser Art stellen kann, gerecht wird - so sind die zum Teil nur schwer zugänglichen Quellen sowohl als Faksimile als auch in kommentierter Edition beigegeben -, wird auch der interessierte Laie angesprochen, denn der Ton von Herman ist leicht und zum Teil wird spannend erzählt, insbesondere an den Stellen, an denen sie davon berichtet, wie sie einzelnen Fakten auf die Spur kam.

Angesichts der nationalen Bedeutung, die die Familie d'Arbeau in allen Jahrhunderten seit den Kreuzzügen durch ihre Nähe zu den Bourbonen hatte, verwundert es nicht, in dem Werk auf wenig neue Informationen zu stoßen. Bemerkenswert ist jedoch, was Herman zu Henri Philippe d'Arbeau, dem zweiten Sohn des bekannten Staatsmannes und Verwaltungsreformers Jean Baptiste d'Arbeau, im eigentlichen Sinne des Wortes ausgegraben hat.

Jean Baptiste d'Arbeau, der mit Bonaparte auf freundschaftlichem Fuße stand, war bekanntlich mit der Reform der Verwaltung der besetzten deutschen Gebiete beschäftigt und hielt sich zu diesem Zwecke auch einige Jahre in Deutschland auf. Sein damals zwanzigjähriger Sohn Henri Philippe lernte bei einem Besuch bei seinem Vater die damals fünfzehnjährige Cäcilie Krause, die Tochter eines ortsansässigen Apothekers kennen. Auf dem Stammsitz der d'Arbeau stieß Herman auf die bewegenden Briefe des Mädchens, die alles sind, was von dem Briefwechsel der jungen Leute erhalten ist. Aber dem Tagebuch Henris ist zu entnehmen, daß es für beide offenbar Liebe auf den ersten Blick war. Es kam im Laufe des nächsten Jahres zu einigen Besuchen Henris in Deutschland, und er warb bei deren Vater um die junge Cäcilie. Durch einen nicht näher feststellbaren Vorfall verschlechterte sich jedoch die Beziehung zwischen den beiden Familien, Cäcilie wurde der Umgang mit Henri untersagt und mit diesem Tag bricht auch das bis dahin täglich geführte Tagebuch des jungen d'Arbeau ab. In einem Brief an ihren Liebsten spricht Cäcilie davon, daß ihr Vater sie bis zur geplanten Heirat mit einem entfernten Cousin in ein Kloster schicken wolle.

Von den letzten Lebenswochen Cäcilies weiß man nur durch ihre Briefe an Henri. Das junge Mädchen schrieb flehentlich, bat ihren Liebsten, sie heimlich zu heiraten, mit ihr nach Frankreich zu gehen oder sogar nach Übersee. Ihr letzter, kurzer Brief lautete:

"Nimm mich, mein liebster Henri, nimm mich ganz; verschling mich, auf daß ich immer bei Dir bin! Ich schenke Dir mein Herz, mein Liebster, denn was nützt es mir noch, es gehört Dir ja schon längst. Auch wenn es noch in meiner Brust schlägt, so doch nur für Dich. Mein Liebster, erhör mein Flehen, denn ich bin ja die Deine mit Herz und Seele."

Am nächsten Tag wurde Cäcilie Krause tot in einem Waldstück nahe ihrer Heimatstadt aufgefunden. Ihr Grab liegt außerhalb des Kirchhofes, was den Schluß nahelegte, daß sie Selbstmord beging. Die Spur Henri Philippe d'Arbeaus verliert sich, bis er fast zwanzig Jahre später als Kavallerieoffizier in Indien anläßlich der Einnahme einer britisch besetzten Stadt namentlich erwähnt wird.

So weit führten die Quellen, die Herman auf dem Stammsitz der d'Arbeau im dortigen Familienarchiv und der Bibliothek fand. Um auf die Spur von Henris Briefen und Gedichten zu kommen, die Cäcilie in den höchsten Tönen lobte, besuchte Herman auch Deutschland und forschte in den dortigen Archiven. Angesichts der nur wenige Monate nach den oben geschilderten Vorfällen stattfindenden turbulenten Geschehnisse in Deutschland, in deren Folge die französische Besatzung der Region überstürzt abgezogen wurde, verwundert es nicht, daß die meisten Akten der Behörden, aber auch Nachlässe aus Privatbesitz franzosenfreundlicher Familien seinerzeit nur in die Keller der Archive eingelagert wurden und bis heute noch nicht vollständig katalogisiert sind. Bei ihrer Suche nach etwaig erhaltenen Briefen von Henri stieß Herman auf Polizeiakten dieser Zeit, die das Bild vom Selbstmord einer romantischen jungen 'Julia' wandeln.

Als man den Leichnam von Cäcilie Krause fand - so geht aus den Polizeiakten hervor - lag sie, von heruntergebrannten Kerzen umgeben, unbekleidet auf einer Waldlichtung. Ihr Brustkorb war geöffnet, das Herz herausgeschnitten und unauffindbar. Die Untersuchungsorgane waren sicher, daß man es hier mit einem Akt der Teufelsanbetung zu tun hatte, daher konnte Cäcilie nicht auf dem Friedhof, sondern nur in ungeweihter Erde beigesetzt werden. Erstaunlicher weise taucht in den Polizeiakten kein Hinweis auf Cäcilies Beziehung zu Henri Philippe d'Arbeau auf. Herman legt aber anhand einiger auffälliger Besonderheiten in den Akten plausibel dar, daß offenbar Henris Vater, als Chef der der Polizei vorgeordneten Verwaltungsbehörde, dafür sorgte, daß der Name seines Sohnes keine Erwähnung fand. Zumindest Jean Baptiste d'Arbeau war ganz offensichtlich der Ansicht, daß sein Sohn den blutigen Mord an Cäcilie begangen hatte. Er enterbte Henri und bis zur lobenden Erwähnung in dem Brief eines Vorgesetzten, dem Kommandanten des in Indien stationierten Kavallerie-Regimentes, hört man nichts mehr von Henri Philippe d'Arbeau.

Herman liefert anhand der erhaltenen Tagebucheinträge Henris und der sicher aus seinem Besitz stammenden Bücher sogar ein psychologisches Profil des jungen Mannes. Danach war er sehr romantisch, was ihn der ebenfalls romantischen Cäcilie ursprünglich wohl auch nahebrachte. Die beiden jungen Leute verband ihre Liebe zur Natur und zum Sternenhimmel, und beide genossen die Euphorie der Gefühle, die sie durch die Nähe des anderen erfüllte. In den letzten Briefen Cäcilies wird allerdings die selbstzerstörerische Komponente dieser bedingungslosen Liebe deutlich. Der etwas labile Henri genoß die Hingabe des jungen Mädchens, aber er war offensichtlich nicht in der Lage, verantwortungsvoll damit umzugehen. Natürlich konnte auch Herman trotz ihrer akribischen Recherche nicht klären, wer von den beiden letztlich die Idee hatte, Cäcilies Angebot, ihr Herz ihrem Liebsten zu geben, in die Tat umzusetzen, aber es ist angesichts der Tatumstände davon auszugehen, daß der Akt in gegenseitigem Einverständnis vollzogen wurde.

Es war, wie Herman ganz richtig bemerkt, für die beiden Liebenden das konsequente Ende einer aussichtslosen, romantischen Liebe.


* * *



Anmerkung von Elisabeth:

Diese angebliche Buchbesprechung habe ich 1999 geschrieben.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (11.11.23, 22:39)
Hervorragend, Elisabeth. So etwas habe ich noch nie gelesen.

Liebe Grüße
Ekki

 Elisabeth meinte dazu am 12.11.23 um 01:24:
Lieber Ekki,

ganz herzlichen Dank für Deinen Kommentar und das überschwängliche Lob.

Ich allerdings habe das Schreiben erfundener Rezensionen nicht erfunden. Als (meines Wissens) bekannteste Beispiele sei nur auf Stanislav Lems 'Die vollkommene Leere' verwiesen - und auf die Anmerkungen in Umberto Ecos 'Der Name der Rose', in denen sich eine Reihe von Beurteilungen erfundener Literatur bzw. Bücher verbergen. Beide Bücher waren mir zum Abfassungszeitpunkt meines Textes bekannt.

Aber ich freue mich natürlich sehr, daß Dir die Idee anscheinend gefallen hat.

Schöne Grüße von Elisabeth / Bettina
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