Blei

Text

von  Diablesse

Als wir klein waren, gab Mutter uns Blei zum Frühstück. Morgen für Morgen legte sich das metallische Grau als dünne Schicht auf Butter und Honig, und auch auf der Tasse Kakao mit den lustigen Bärchen schwamm es und trübte die Milch. Ein kaum merkbarer Schimmer, nur ein schwacher Glanz, ein Abglanz von etwas, was mal war – oder vielleicht noch nie.

Meine Geschwister schienen das Blei nicht zu bemerken. Sie plauderten und schmatzten fröhlich, bissen herzhaft und hungrig in die Weißbrotscheiben, krümelten ausgiebig, hatten klebrige Finger und Münder – waren glücklich. Doch ich spürte es jeden Morgen schwer in meiner Magenkuhle. Sobald ich die Wohnküche betrat und meinen gewohnten Platz auf der Sitzbank mit dem aufdringlichen Blumenmuster einnahm, umgab es mich, nein, schlimmer, drang in mich – noch bevor ich, langsam und vorsichtig, den ersten Bissen tat.

Wenn ich Mutter beim Vorbeigehen sacht streifte, fühlte sie sich nie weich oder warm an – sondern traurig. Als verdichteten sich die Moleküle in ihr, die Luftfeuchtigkeit stieg ins unermessliche und wenn sie dann bei einhundert Prozent angelangt war, konnte sie sich nicht entscheiden, ob es tröpfchenfeiner Nebel oder ein Schauer werden sollte. Also stagnierte sie irgendwo dazwischen. Mit tonnenschweren Bleiwolken, die sie niederdrückten. Gelegentlich schien es sogar so, als würden die Wolken, und mit ihnen das Blei, sie regelrecht niederschlagen. Mutter, ja, sie war gestaltgewordene Witterung. Mutter war Niederschlag.

Später erst erfuhr ich, dass auch meine Geschwister das Blei kannten, das sie uns täglich zum Frühstück servierte. Dass sie es genau wie ich Morgen für Morgen spürten und mit dem Essen schluckten. Es aufnahmen, immer und immer wieder. Das Blei, das – da unverdaulich –, so selbstverständlich und geradezu „blei“-läufig Teil unserer Innenausstattung, unserer Selbst werden sollte. Wenn wir uns heute auf ein Glas treffen, scherzen sie, dass eine Obduktion unserer leblosen Körper zu Aufregung in der Pathologie führen würde. Sie waren sicher, dass wir innen dunkelgrauglänzend waren.

Meine Geschwister haben anders als ich mit übertriebener Fröhlichkeit auf das Bleifrühstück reagiert. Umso mehr davon aus Mutters bleischweren Lidern troff, desto mehr lachten und scherzten sie. Lachten dagegen an, versuchten das Mutterblei mit Kinderlachen zu vertreiben. Erfolglos. Doch unermüdlich, wie Kinder sind, versuchten sie es jeden Morgen wieder.

Mich hingegen machte das Blei beklommen. Ich konnte weder darüber hinwegsehen noch -fühlen, geschweige denn -lachen. Es stand wie ein großer Elefant aus Blei im Raum und schlackerte träge mit den riesigen, rissigen Ohren. Dass ich für Mutters Blei so empfänglich war, machte mich stutzig. Ja nicht nur das, es machte mich nachdenklich und unruhig. Es nagte an mir. Und so beschäftigte mich Morgen für Morgen eine Frage. Eine Frage, die sich zu der Frage schlechthin entwickelte. Eine Frage, auf der ich auf dem Schulweg herumkaute, als wäre sie trockenes Brot, von der ich entweder träumte oder von der ich wachlag und deshalb nicht von ihr träumen konnte.

Die Frage lautete nicht: Warum war Mutter so traurig. Die Frage lautete: Was hatte ich getan, dass Mutter so traurig war. Denn ich war mir sicher, der Grund, warum meine Geschwister Leichtigkeit empfanden und lachen konnten, während ich mich beim Frühstück immer schwerer fühlte, musste damit zu tun haben, dass Mutter, ihr Blei und ich etwas miteinander zu tun hatten. Also fragte ich mich: Hatte ich mir die Haare nicht gründlich gekämmt? Hatte ich beim Spielen versehentlich ein Loch in meine neue Hose gerissen? Hatte ich mein Zimmer nicht richtig aufgeräumt? Was hatte ich getan, nicht getan oder nicht genug getan, dass die Bleiproduktion antrieb? Irgendetwas von mir musste es gewesen sein, dass Mutter allmorgendlich so bleitraurig machte. Durch irgendetwas musste ich die Streifen ihrer grauen Iris zu Gefängnisstäben gemacht haben. Einem Gefängnis, von dem ich nie so genau wusste, wer darin eigentlich gefangen war: sie oder ich.


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Kommentare zu diesem Text


 Redux (24.01.24, 18:49)
Eine Geschichte, die ich sicherlich noch einige Male lesen muss, um sie tatsächlich bis in die Einzelheiten verstehen zu können.
Fest steht: absolut lesenswert und von Beginn an bleibt einem ein Lachen, falls einem danach wäre, im Hals stecken.
Die Geschichte lässt mich " beunruhigt" zurück.

 Gabyi meinte dazu am 24.01.24 um 20:17:
Ein sehr beeindruckender Text. Ich kann alles 1:1 nachvollziehen. Daumen hoch.

LG
Gabyi

 AlmÖhi antwortete darauf am 25.01.24 um 01:37:
Erinnerte mich u.a. daran, wie mich als Jugendlicher die "schwarze Milch der Frühe" in Paul Celans "Todesfuge" faszinierte. "Frühe" assoziierte ich mit der frühen Kindheit. Das Nährende, das einen vergiftet. Das einen aufwachsen läßt, aber klein und unfrei macht. 

Viele Erwachsene nutzen bewußt das Mitfühlen der Kinder um ihren Ballast auf sie abzuladen.

 eiskimo (25.01.24, 06:49)
Manche Menschen haben etwas, was sie permanent runterzieht. Andere haben eine angeborene Leichtigkeit. 
Ich halte das für genetisch bedingt...
LG

 eiskimo (25.01.24, 06:49)
 Sorry, da kam der Text glich 4 mal...

Der ursprüngliche Kommentar wurde am 25.01.2024 um 06:50 Uhr wieder zurückgezogen.

Kommentar geändert am 25.01.2024 um 06:52 Uhr

 eiskimo (25.01.24, 06:49)
Der ursprüngliche Kommentar wurde am 25.01.2024 um 06:50 Uhr wieder zurückgezogen.

 eiskimo (25.01.24, 06:49)
Der ursprüngliche Kommentar wurde am 25.01.2024 um 06:53 Uhr wieder zurückgezogen.

 Janna (25.01.24, 07:40)
Sich als Kind für das Wohl oder Unwohl der Mutter verantwortlich zu fühlen, das ist ein schweres Erbe und es bedarf großer Anstrengungen, sich daraus zu befreien. Insofern kann diese Geschichte sehr hilfreich sein, weil sie Zusammenhänge aufzeigt, die manchen Menschen (noch) nicht bewusst sind. Sehr gut beschrieben!

Liebe Grüße

Janna

 Regina (25.01.24, 07:54)
Traurig, aber gut geschrieben, aus der Sicht des Kindes. Und hier schließen sich viele Fragen an.
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