Fünf Minuten

Kurzgeschichte zum Thema Geborgenheit/ Wärme

von  Ephemere

Der Regen fiel in Strömen und trieb das Herbstlaub in kleinen Bächen die Straße herunter. Er
beschleunigte seinen Schritt nicht, als er im Dampf der Straßenlaternen seiner Wohnung
entgegenstrebte. Er genoss die Melancholie von kaltem Wasser, das die Kleider durchtränkt,
während er sich nach einem zu Hause sehnte wie nach dem gemütlichen Rauschen alter
Vinylschallplatten. Ja, das war eine schöne Metapher, sagte er sich und begann, andere
Archetypen der Geborgenheit zusammenzutragen: Prasselnde Kaminfeuer;
Weihnachtsbäume, die durch Fenster schimmern; das Beschlagen des elterlichen
Küchenfensters; Adventslieder; Spieluhren; die hohen, stuckdekorierten Decken des
Jugendstilbaus, in dem er aufgewachsen war; seine Mutter, die ihm „sitz gerade“ sagt
(wegen seiner aufrechten Körperhaltung hatte ihn später seine Freundin „mein stolzer Prinz“
genannt – ein Ausdruck, der von seiner untragbaren Lächerlichkeit nur durch ihre rührende
Kindlichkeit (sie waren beide erst dreizehn) erlöst wurde). Seine Gedanken verweilten für
einen Moment verwundert bei dem Gedanken, wie ein elterlicher Tadel sich in etwas
Romantisches verwandeln konnte, wie es viele Momente ungerechtfertigter Weise tun, die
man als Schätze in der Truhe seiner Kindheitserinnerungen einschließt.
Er hatte sich in seiner neuen Wohnung nie wirklich zu Hause gefühlt. Zu Hause im Sinne des
Königs, der sein eigenes Reich überblickt, jedoch nie zu Hause im Sinne des Bären, der sich
zum Winterschlaf in die Geborgenheit seiner Höhle zurückzieht. Vielleicht war das der
Grund, weshalb er sich nie seinen Winterschlaf gönnte, abends las oder sich unterhielt, bis der
Drang zu schlafen zum Zwang wurde.

Geborgenheit ist kein Ort und darin liegt das Problem dieser Schatzsuche. Er hatte diesen
Schatz an vielen Orten gefunden und verloren, mit vielen Menschen geschaffen und zerstört.
Schließlich war er zu dem Schluss gekommen, dass er sich selbst seine Geborgenheit sein
müsse.
Geborgenheit – das heißt, ein Angekommener zu sein. Einen Ort, einen Menschen oder eine
Zeit zu haben, ohne zu suchen oder zu fragen. Geborgenheit heißt, ein Beantworteter zu sein,
ein ruhig Gewordener. Schließlich heißt Geborgenheit, ein Gesicherter zu sein, ein Refugium
zu haben. Dafür mag es notwendig sein, seine Höhle noch heimeliger einzurichten und zu
verklären und gleichzeitig Dämonen mit kalten Fingern in den Nebel vorm Eingang zu
zeichnen, wie es Kinder tun.

Er war bei seinem Apartment angekommen, wand sein Gesicht noch einmal dem Regen zu
und trat ein. Die Wohnung war nicht groß, aber dennoch geräumig und mit Teppichen und
alten Holzmöbeln eingerichtet. Er legte Schuhe und Mantel ab, zündete drei Kerzen an (zwei,
bei der dritten war der Docht ertrunken) und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Die
melancholischen Klänge von Debussys Suite Bergamesque spielten in seinem inneren Ohr
und er fühlte eine angenehme Träne in seinem Auge aufsteigen.

Es waren fünf Minuten vergangen. Fünf Minuten, in denen im irakischen Falludscha eine
muslimische Familie von ihren eigenen Landsleuten ausgelöscht wurde; fünf Minuten, in
denen deutsche Bundesrichter beschlossen, heimliche Vaterschaftstests unter Strafe zu stellen;
fünf Minuten, in denen ein ehemaliger Toyota-Fließbandarbeiter in Japan 34 Millionen Euro
im Lotto gewann. Wohin waren sie vergangen? Und wie konnte es sein, dass die gleiche Zeit,
die ihn mit melancholischen Gedanken füllte, für andere über Leben und Tod, Reichtum oder
öffentliche Empörung entschied? Ist die Zeit so ungerecht verteilt? Ist Einstein vielleicht nicht
weit genug gegangen, als er die Theorie aufstellte, in unterschiedlichen Gebieten des
Universums und bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten verliefe auch die Zeit
unterschiedlich? Sind wir letztendlich alle unsere eigenen Universen, die mit unserer eigenen
Geschwindigkeit unsere Bahnen durch die Endlosigkeit ziehen?

Er wusste nichts von dieser Gleichzeitigkeit, riss sich von seinem Wein los und beschloss, ein
Bad zu nehmen. Draußen war dichter Nebel aufgezogen und von innen begann das Glas der
Fenster zu beschlagen, als er heißes Wasser einlaufen ließ. Er lehnte sich zurück und fühlte
sich zum ersten Mal seit langer Zeit als ein Angekommener.

Jan Schoenmakers, Cape Girardeau (MO, USA), Anfang 2005

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Kommentare zu diesem Text

neinneigung (33)
(05.05.08)
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 Ephemere meinte dazu am 06.05.08:
Danke für Deinen Kommentar!

Überzogen? Alles so erlebt, insofern sicherlich authentisch

Was das Sprachliche betrifft - an welchen Stellen bzw. unter welchen Aspekten meinst Du das denn? Wie kann ich Deiner Meinung nach den Text verbessern? Ist so noch ein bisschen abstrakt, die Kritik, würde mich über Konkretisierung freuen.
neinneigung (33) antwortete darauf am 06.05.08:
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 Ephemere schrieb daraufhin am 07.05.08:
Anscheinend lebe ich diese Klischees...mit Rotwein und Debussy...:-)
Ist gut zu wissen, dass das, wenn man die Situationen nicht selbst erlebt hat, klischeehaft/plakativ wirken kann. Vielleicht ist da weniger Authentizität angebracht, damit der Text auf Andere authentischer wirkt. Ein interessanter Denkanstoß in dieser Hinsicht, Danke!
ungesagt (34)
(03.08.08)
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 Ephemere äußerte darauf am 04.08.08:
Lieben Dank für Deinen Kommentar.

Ich finde nicht, dass Innen und Außen bei diesem Text gut zu trennen sind (für mich jedenfalls nicht), weil Wetter, Ort etc. hier Stimmungen hervorrufen, moderieren, vielleicht auch darstellen. Ich weiß aber, was Du mit dem "nach innen gehen" meinst.

Ich bin schon am überlegen, ob und wie ich die als plakativ empfundenen Schilderungen subtiler gestalten kann (will).
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