Bittere Träume

Kurzgeschichte zum Thema Leben

von  Sylvia

Erschöpft bringt Kerstin ihre drei -, fünf- und sechsjährigen Kinder ins Bett.
»Träumt was Schönes, ich hab euch lieb«, flüstert sie, wobei sie ihnen übers Haar streicht.
Gewissenhaft putzt sie die Zähne, cremt das Gesicht ein und legt sich aufs Bett. Seit sie sich ernsthaft damit beschäftigt, wie sie ihr Leben neu ausrichten und organisieren soll, fühlt sie sich müde, fast kraftlos. Vor ein paar Monaten ahnte sie, so könne es nicht weitergehen. Ihre Ahnung wuchs zur Gewissheit. Das zu Wissen verursacht ein starkes Angstgefühl und wühlt sie auf. Noch fehlt ihr der Mut zu drastischen Veränderungen, dennoch spürt sie, es wird etwas Richtungweisendes passieren. Viel Zeit wird sie nicht bekommen.
Bald feiern sie den ersten Hochzeitstag. Erinnerungen drängen sich vor ihr inneres Auge. Der Vater der Kinder verließ sie in der dritten Schwangerschaft. Mit ihren Nerven am Ende, traf sie ihren jetzigen Mann beim Einkaufen. Ein stattlicher Mann, sehr groß, sehr kräftig, ein Beschützer-Typ. Ihre Kinder nahm er ganz selbstverständlich an und versorgte sie liebevoll. Sie heirateten ziemlich schnell. Damals dachte sie, es sei die Chance für einen Neuanfang. Warum verschwand ihre Stärke? Wann verlor sie ihr Gefühl für sich?
Mit diesen Gedanken schläft sie ein.

Plötzlicher Lärm reißt sie aus dem Schlaf. Was war das? Ihr Herz pocht ganz schnell und beunruhigend laut. Vorsichtig verlässt sie das Bett. Der Fußboden ist kalt, doch sie verzichtet auf Strümpfe, bevor sie in den Flur schleicht. Polternd versucht ihr betrunkener Mann die Treppe zu erklimmen.
»Alle sind Scheiße! Müssen die mich immer nur provozieren!«, grölt er vor sich hin.
»Pst, die Kinder schlafen«, raunt sie.
Blutunterlaufene Augen starren sie an. Ein Bär von einem Mann, der schwankend die Treppe hocheiert und sich am Gelände festkrallt, um nicht umzukippen. Alkohol- und Körperschweißgestank schwabbeln in ihre Nase. Am liebsten würde sie sich die Nase zuhalten. Ohne viel Radau will sie ihn ins Bett befördern. Hoffend, ihre Kinder mögen weiterschlafen. Sie hasst den Anblick, sie ekelt sich vor den Ausdünstungen und vor ihm. Sobald er ruhiggestellt ist, verbringt sie die Nacht im Wohnzimmer, nimmt sie sich vor. Bei zu viel Alkoholgenuss hält er seine Blase nicht. Vor einigen Monaten pinkelte er sie an. Noch mehr Erniedrigung kam für sie nicht in Frage. Einmal weichte er sogar die Flurtapete ein. Sie wird auch diesmal das Bett nicht beziehen oder mit ihm sprechen. Wozu auch? Es wird sich nichts ändern. Und am Ende trägt sie sowieso an allem die Schuld.
Ächzend schafft er es, die Treppe unbeschadet hinter sich zu lassen. Ihr wäre es egal, wenn er stürzen würde. Auch das erlebte sie schon und rief lediglich den Notarzt. Der Sanitäter erkundigte sich, warum sie das alles mittrüge? Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Den Respekt vor ihrem Mann verlor sie unbewusst. Sie warf ihm seine ausgiebigen Trinkexzesse vor, als sie noch auf Änderungen hoffte. Er behauptete, er hätte seit vielen Jahren alles im Griff und sie würde ihn nerven.
»Mit wem poppst du? Ich weiß alles, streite es nicht ab!«, lallt er.
»Wir können Morgen reden.«
»Bei mir zickst du nur rum. Und ran lässt du mich auch nicht mehr. Seit Monaten schon nicht mehr.«
Ihre Warnglocken läuten. Möglichst rasch möchte sie sich der Situation entziehen. Sie dreht sich um und geht ins Schlafzimmer. Er wankt hinterher und reißt an ihrer der Schulter.
»Du schuldest mir was. Du bist wertlos. Deinetwegen muss ich mich ja schämen. Dumm wie Stroh biste. Dich will eh niemand mehr, frigide Kuh«, schreit er.
Speichel läuft aus seinem Mund. Sein stinkender Atem lässt ihren Magen rebellieren. Sie würgt und unterdrückt den Spuckreflex. Unvorbereitet erkennt sie Hass in seinen Augen. Trotzdem ist sie sehr überrascht, als seine Hände sich um ihren Hals legen und fest zudrücken. Ihre Überraschung weicht einem Lebenswillen, der durch ihren Körper schießt. Befrei dich, schreit ihr Hirn, der ist nicht bei Sinnen, befrei dich! Sie greift nach seinen Handgelenken, um ihre Kehle zu befreien. Sie fühlt ihre Kräfte schwinden, während sie an seinen Fingern zerrt und nach Luft schnappt. Todesangst. Pure Todesangst verleiht Kräfte, die sich niemand zutraut. Letztens las sie einen Bericht darüber, wie Adrenalin im Körper wirkt. Das Adrenalin übernimmt die Herrschaft, stärkt die Muskeln und härtet die Knochen. Gleich wird sie Ohnmächtig. Nochmals reißt sie kräftig an seinen Fingern. Der Druck an ihrer Luftröhre lässt nach, sie schnappt nach Luft. Die ersten Atemzüge tun höllisch weh. Tränen schießen aus ihren Augen, als sie sich bückt. Hastig atmet sie, wobei ihr schwindelig wird und der Mageninhalt in die Speiseröhre rutscht. Wo ist er? Greift er gleich wieder an? Gehetzt schaut sie sich um und entdeckt ihn bäuchlings auf dem Fußboden.
»Mama, hab ich ihn umgebracht?«
»Nein mein Spatz«, krächzt sie entsetzt, »er schläft bestimmt nur.«
»Mama, deine Augen sind herausgekommen.«
Frank weint und zittert mit ihr um die Wette. Seine Hand hält das Plastikschwert nicht mehr. Fest umarmt sie ihren Ältesten.
»Frank, wir müssen Maren und Sybille wecken, dann fahren wir zu Onkel Ralf. Meinst du, du kannst Maren zum Auto tragen? Du warst sehr tapfer. Nicht mehr weinen, wir müssen leise sein.«
»Ja, das schaff ich.«
»Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.«
Ihre Augen brennen immer noch. Vorsichtig nimmt sie den Schlüssel der Schlafzimmertür und taumelt heraus. Sie findet das Schloss nicht, weil ihre Hände stark zittern. Der Schlüssel klappert gegen die Tür und verursacht einen Heidenlärm, findet sie. Tränen fließen über ihre Wangen. Endlich trifft sie das Schloss und dreht den Schlüssel um. Frank steht im Flur, mit der schlafenden Maren im Arm. Sybille reibt sich gähnend die Augen.
»Kommt leise mit. Wir müssen zum Auto«, flüstert sie.
»Mama, dein Hals ist rot und wieso weinst du?«, murmelt Sybille.
»Das geht wieder weg, Kleine, mach dir keine Sorgen. Später rede ich ausführlich mit dir darüber.«
Sie greift nach ihrer Handtasche, schließt das Auto auf und schnallt die Kinder an. Langsam fährt sie die Auffahrt hinunter und lenkt sich in ein neues Leben.

Ein Jahr später trifft sie ihren Mann beim Amtsgericht.
»Wir müssen uns nicht scheiden lassen. An sich verstehen wir uns ja«, verkündet er.
»Nein, nie wieder wirst du mir zu nahe kommen.«
»So schlimm, wie du es darstelltest, kann es gar nicht gewesen sein. Immerhin verzichtetest du auf eine Anzeige. Ich vermute ja, du hast dir das alles eingebildet, da ich keine Erinnerung daran habe.«
»Weißt du, ich habe mir und dir verziehen. Kannst du das auch?«

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Kommentare zu diesem Text


 Sonnenaufgang (21.06.08)
es war kein traum.

man sagt: menschen die verzeihen können, leben länger.
vieles kann man verzeihen, aber was diese frau erlebte, ich könnte es nicht.
von daher, finde ich, könnte nach " begreifen ", ende sein.
bin aufgewühlt.

gruss feli

 Sylvia meinte dazu am 21.06.08:
Kein Traum...Feli...das stimmt, wenn du musst, dann kann jeder vieles...
Danke dür deinen Ratschlag nach "begreifen". Ich werde darüber nachdenken....
Hab einen feines WE...lieben Gruß Sylvia

 Sonnenaufgang antwortete darauf am 18.08.08:
liebe sylvia, ich sehe gerade dass du deinen text gekürzt hast. und zwar so, dass sich der leser selbst seinen teil denken kann. dies finde ich sehr gut, denn es regt zum nachdenken an.
ich danke dir.
mit lieben gruß von feli

 Sylvia schrieb daraufhin am 19.08.08:
Feli, ich danke dir...
Hab einen feinen Tag,
die Sylvia :o)
Googlehupf (55)
(21.06.08)
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 Sylvia äußerte darauf am 21.06.08:
Hallo Googlehupf, ich danke dir für deine Vorschläge, denke allerdings, das es so bleiben wird. Lieben Gruß´Sylvia
(Antwort korrigiert am 22.06.2008)
JowennaHolunder (59)
(21.06.08)
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 Sylvia ergänzte dazu am 22.06.08:
Guten Morgen Wally...danke dir für deinen Kom und Empfehlung, immer wieder ein Thema, das hilflos macht...irgendwie...lieben Gruß Sylvia
Giftsteller (40)
(26.06.08)
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 Sylvia meinte dazu am 29.06.08:
Hm...diesen Kom versteh ich auch nicht.
Giftsteller (40) meinte dazu am 29.06.08:
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 Sylvia meinte dazu am 29.06.08:
Ja scheint so. Viel Erfolg zurück...lieben Gruß Sylvia

 Sylvia meinte dazu am 02.07.08:
Hallo Giftsteller...ich glaube, dich jetzt verstanden zu haben...die Ironie des Titels kann natürlich keiner herauslesen...danke dir, ich habe die Überschrift jetzt geändert und hoffe, das der Bezug zum Text besser herauskommt...lieben Gruß Sylvia

 Martina (01.07.08)
Das ist hart....und erinnert mich an früher...Liebe Grüße und viel Glück für dich :0)

 Sylvia meinte dazu am 01.07.08:
Hallo Martina...dir auch viel Glück....lieben Gruß Sylvia
Marni (39)
(02.07.08)
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 Sylvia meinte dazu am 03.07.08:
Guten Morgen Marni...dein Lob freut mich sehr. Es stimmt, die Bilder sind schonungslos und hoffentlich eindringlich...dir einen schönen, erfreulichen Tag, lieben Gruß Sylvia
myrddin (47)
(04.07.08)
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 Sylvia meinte dazu am 04.07.08:
Lieber Ralph, es freut mich sehr, das der Text auch transportiert...auch, wenn es viele Lebensthemen gibt, die einfach hilflos machen....lächelnde Grüße von der Sylvia
NachtSchwärmer (57)
(09.09.08)
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 Sylvia meinte dazu am 10.09.08:
Hallo Ute,
mir wird das nie wieder passieren...da bin ich mir ganz sicher....
Danke für deinen Hinweis bezüglich der Selbstverteidigung...in manchen Situationen wird es erstmal weniger helfen, aber es fördert das Selbstvertrauen gegenüber dem Täter....
Hab einen lieben Abend
Sylvia
elvis1951 (59)
(09.09.09)
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 Sylvia meinte dazu am 09.09.09:
Klaus, das hofft sie auch...und derzeit weiß sie, dass es so viele andere sensible tolle feinsinnige Männer gibt.....

Danke dir
Lieben Gruß
Sylvia
yodafan (47)
(09.09.09)
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 Sylvia meinte dazu am 09.09.09:
Doch, Rolf, meine Fantasie allein würde für die Geschichte nicht reichen....ich weiß, dass viele nicht über gewisse Dinge reden geschweige denn schreiben...(anpinkeln z. B) und wie sehr Kinder ihre Mutter schützen und sich dazwischenwerfen....mein Glück war, dass ich mich dem konsequent entzogen habe...es wäre weiter gegangen, noch schlimmer weitergegangen und wer weiß, wer ich dann wäre....seufzt...aber lang ist her....

Danke dir
Lieben Gruß
Sylvia
yodafan (47) meinte dazu am 09.09.09:
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