Die Schuld und die Unschuld

Kurzgeschichte zum Thema Märchen

von  Hartmut

Die Bootsfahrt von der alten Königsstadt Luang Prabang nach Nong Kiao im Nordosten Laos, zuerst auf dem Mekong und dann auf dem Nam Ou, dauert viele Stunden. Er fährt mit dem „Publicboat“, das wie immer überladen ist mit Menschen und Gepäck. Ganz offensichtlich ist er der älteste Fahrgast, sein graues Haar fällt auf, ein Greis, gemessen an der Lebenserwartung der Menschen hier. Man sitzt nur auf einem schmalen Brett längsseits, das kleine Boot schaukelt auf den Wellen und Stromschnellen.
Neben ihm sitzt eine Prinzessin, ein zartes, schwarzhaariges Mädchen. Sie trägt den traditionellen „Pha Sin“, ein schmaler langer Rock  und eine verzierte Bluse mit langen Ärmeln.
„Sorry“, murmelt er, wenn  sie zusammenstoßen. „Sorry“, wenn sein Bein eingeschlafen ist oder er sich umständlich einen Pullover anzieht. Ab und zu legt sie den Kopf auf ihre Knie und achtet sorgsam darauf, dass ihre langen Haare den Fremden nicht berühren. Nur einmal begegnen sich ihre Blicke; er schaut in zwei schwarze Spiegel.
Auch er schläft ein und ein Traum überfällt ihn: 1968, Ende der Regenzeit. Der Auftrag, den er als Bomberpilot bekommt, ist klar. Bombardierung der Nachschubwege und Dörfer am Oberlauf des Nam Ou. Sie starten von Thailand aus und sind in einer Stunde über dem Zielgebiet. Die Streubomben werden abgeworfen. Umkehrkurve. Napalm. Rückflug. Am Abend hat er sich mit seiner Freundin in einem Stundenhotel in der Nähe des Flugplatzes verabredet. Er geht zum Zimmer, legt sich aufs Bett, wartet. Aber nicht die Prostituierte kommt, sondern die Prinzessin. Auch sie zieht sich aus, legt sich neben ihn und macht ihm durch Gesten klar, dass er sie anschauen, aber nicht berühren darf.

Das Boot stoppt, Stille, sie sind am Ziel. Er wird wach. Sein Kopf ruht auf ihrer Schulter. „Sorry“, murmelt er noch benommen, während sie ihren Rock etwas nach oben zieht und seitlich ins Wasser springt. Er schaut ihr nach, bis ihr schwarzer Zopf zwischen den Wartenden verschwindet.
Er ist am Ziel seiner Reise. Die Unschuld hat der Schuld ihre Schulter zum Anlehnen gegeben.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (03.01.18)
Ich finde die Traumsequenz nicht gelungen, der Rest ist m.E. viel interessanter, da könnte gerne mehr sein.
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