Es konnte sich bis zum endgültigen Ableben nur noch um Stunden handeln. Der Sohn betrachtete seinen Vater, wie er im Bett lag und vor sich hin röchelte. Rachenkrebs im letzten Stadium. Schmerzen hat er wohl nicht mehr, konstatierte er und ertappte sich dabei, dass ihn diese Feststellung zufrieden stellte. Eigentlich, dachte er, sollte es mir egal sein, ob er unter Schmerzen stirbt. Warum sitze ich überhaupt hier an seinem Sterbebett? Er war eben doch ein Weichei, einer, der immer nachgab, also genau das, was der sterbende Vater ihm, als er noch der starke Vater war, stets vorgeworfen hatte. Seufzend zog er die Vorhänge im Elternschlafzimmer ein Stück weit zu. Als er sich wieder auf dem Stuhl neben dem Bett niederließ, fiel sein Blick auf die rechte Hand Vaters, die sich abgemagert und von Sehnen und Adern durchzogen seinen Blicken darbot. Einen Moment zögerte er, dann nahm er sie vorsichtig und während er ihre Wärme fühlte, begann er sie vorsichtig zu streicheln. Vater hatte die Augen weit aufgerissen, doch Sohn konnte nicht erkennen, wohin er blickte. Reagierte er auf die Zärtlichkeit Sohnes? Ja, jetzt begann die Hand zu zittern, nicht sehr deutlich, aber spürbar. Spürbar? Ob er es wirklich spürte, ob er wusste, dass Sohn ihm Trost im Sterben geben wollte? Nur er, denn der Rest der Familie hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen, Mutter, weil sie vorgab, das Sterben nicht zu ertragen und sich wahrscheinlich mit Sohns Schwester bei Kaffee über den tapferen Vater palaverte, der vor einigen Stunden darauf bestanden hatte, selber das Krankenhaus zu verlassen, nachdem ihm bedeutet worden war, dass er austherapiert sei und man nichts mehr für ihn tun könne. Wie er sich tatsächlich ans Steuer gesetzt habe und zum Sterben nach Hause gefahren war, wobei er an einer Kreuzung die Vorfahrt nicht beachtete und knapp einem Unfall entging, wie Mutter aufgeregt erzählte, als Sohn ankam und Vater längst im Sterbebett lag. Er habe sogar noch einmal seine Notdurft auf dem Klo verrichtet und sei dann von ihr zum Bett gebracht worden, er war ja nicht mehr schwer nach all den Therapiemaßnahmen, so dass es ihr tatsächlich gelungen war, ihn eigenhändig ins Bett zu bringen.
Erneut seufzte Sohn. Er betrachtete Vater, seine weißen, zurück gekämmten Haare, die energische Kinnpartie, die hohe Stirn eines Mannes, der es sich und anderen nie leicht gemacht hatte. Nicht einmal hatte Sohn als Kind tröstende Worte oder Gesten von ihm erfahren, nicht einmal hatte er von ihm die Beteuerung gehört, dass er ihn lieb habe. Wahrhaftig, das hatte ihm gefehlt, Trost hatte er sich immer bei Mutter holen müssen und wenn Vater davon erfuhr, hatte er verächtlich darauf verwiesen, dass aus dem Jungen ein Mann werden sollte und keine Memme!
Vaters Atem war deutlich zu hören, er rang nach Luft, vermutlich hatte der Krebs auch die Luftröhre befallen. Sohn holte aus dem Bad einen Waschlappen und feuchtete Vaters Stirn damit an. Er wollte ihm ein wenig Erleichterung verschaffen, mehr konnte er nicht tun, und er wollte bei ihm bleiben bis zum Ende. Bis zum letzten Ende, dachte Sohn, denn eigentlich war Vater schon vorher für ihn gestorben, aber dieser letzte Tod ergriff ihn stärker, als er es geahnt hatte.
Stunden später war es dann soweit. Als er starb, waren seine Augen wieder weit aufgerissen und sein Gesicht zuckte ein letztes Mal. Dann drückte Sohn die Augenlider zu.