hier reißt es ab

Text

von  kalira

Ich ziehe einen Zettel aus der Kiste auf meinem Tisch. Sachen, die so schlimm nicht mehr sind: steht darauf.

Kontaktverbot, Kulturlosigkeit (keine Theater, Konzerte, Kabarett, Ausstellungen, keine Lesungen, keine unabhängigen Nachrichten), Reiseverbot, rationierte Essens- und Hygienepakete, vorgeschriebene Ausbildungen und Anstellungen, festgelegte Lebenswege, Demonstrations- und Versammlungsverbot, ….

Hier reißt der Zettel ab, auf dem ich die Liste fortführte. Es würde mich nicht wundern, würde das Sterben verboten werden. Zur Erhaltung der Art ist das Sterben ab sofort untersagt! Bei Verstößen muss mit hohen Bußgeldern und sogar Freiheitsentzug gerechnet werden. Über den Tatbestand des Schutzes der Gefährdeten sind wir längst hinaus. Niemand ist mehr krank oder gesund. Es gibt keinen Gesundheitszustand mehr, wie ihn einst die Weltgesundheitsorganisation definierte. Wir sind eingeteilt in Infizierte ohne Symptome, nicht Infizierte aber immun, symptomhaft Infizierte mit Aussicht auf Genesung und Infizierte mit Todesfolge.

Ich krame in der Kiste verbotener Sachen, die so schlimm nicht mehr sind. Wie lange geht das jetzt schon so? Ich weiß es nicht. Monate, Jahre? Mir wird schlecht, kaltnass meine Stirn, vor den Augen ein schwarzer Flimmer, als würden Vorhänge mit leichtdurchlässiger Faser zugezogen. Ich vermisse dich, wie du hinter deinem Mundschutz Dinge sagst, die wir längst nicht mehr zu sagen wagten. Und dann die Drohnen zu beiden deiner Seiten. Dein Kopf eingekreist, die geschlechtlose, automatische Stimme, die dich ermahnte, die dir Befehle ins Ohr brüllte, die dich umschwirrte und dir den Weg vorschrieb, den du jetzt zu gehen hattest. Seither keine Nachricht mehr von dir. Morgens bist du nicht am Tor, nicht an der Schleuse, du bist nicht da, wenn ich durch die Reihen an den Betten vorbei gehe und ultrasteril wirke. Ich stolpere durch die Wohnung. Seit wann geht das so? Ich halte die Arme weit von mir gestreckt, berühre die Wände meiner Wohnung, stolpere über die Leiche. Die Drohne mit den gebrochenen Beinen. Ich hatte sie vergessen. Hier liegt sie, liegt in meinem Flur, liegt und sagt seit Tagen kein Wort. Ich nehme sie in die Hand wie einen verletzten Welpen, ich drehe und wende, als suchte ich ein Geschlecht zwischen ihren Beinen zu entdecken.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (14.04.20)
Eine großArtige Reihe!
Hach, und das Ende wieder - einfach professionell.

Begeisterte Grüße
der8.

 eiskimo (14.04.20)
Eine Vision dessen, was gerade abläuft, noch einmal verdichtet. Vor lauter Anpassung und Pragmatismus merken viele es ja gar nicht mehr....
vG
Eiskimo
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