Heinz fällt

Erzählung zum Thema Qual(en)

von  Thomas-Wiefelhaus

Einmal stand Heinz sehr lange stumm vor dem Fenster, wohl eine viertel oder halbe Stunde, die Augen immerzu starr nach draußen auf die Wiesen gerichtet. Er wirkte fast so leblos wie ein Gegenstand, oder wie eine unbekannte Person im Wachsfigurenkabinett. Unvermittelt bewegte er sich, stieg auf das Fensterbrett, zwängte sich schon durch den schmalen Spalt.
                                                                                              *
Vor einem Monat war Heinz-Uwe auf Tomas’ Station verlegt worden.
Tomas hatte, bei seinem ersten Aufenthalt in der Klinik, mit Heinz anfänglich noch viele Partien Mühle gespielt, meistens „unentschieden“. Sie hatten in den Räumen der Beschäftigungstherapie miteinander geredet. Damals hatte Tomas in der Klinik nur wenige Kontakte gehabt, aber zu Heinz den noch beständigsten Kontakt im Vergleich zu den anderen.
Aber offensichtlich bekam Heinz nun sehr viel stärkere Medikamente als früher; (vielleicht stärkere und mehr als Tomas zur „Zeit der zwanzig Pillen“); er wirkte wie ein Zombie, war kaum ansprechbar.
Heinz fragte jetzt niemanden mehr, ob er mit ihm Mühle spielen möchte, – und niemand fragte Heinz. Auch Tomas und er redeten miteinander kaum mal ein Wort. Sogar an so einem kommunikativen Ort wie dem Schlafsaal mit 16 Betten war Heinz völlig isoliert, denn – Tomas wusste das aus eigener Erfahrung – ein großer Schlafsaal mit Medikamenten kann ein völlig anderer sein, als derselbe ohne. Die starken Medikamente wirkten auf Heinz ähnlich isolierend, als säße er fortwährend in einer Einzelzelle.

Und noch etwas Neues, dass Tomas an Heinz bisher nicht kannte, war hinzugekommen: Heinz fiel.
Heinz fiel oft oder ließ sich einfach fallen, denn ein Anfall ging dem Fallen nicht voraus; er fiel direkt, ohne Vorwarnung: Als wäre er, just in diesem Augenblick, zur kraftlosen Puppe geworden.
Tomas sah in sein Gesicht beim Fallen. Nicht Angst, sondern große Gleichgültigkeit war zu erkennen: eine so so dermaßen grenzenlose Unlust.
Tomas konnte sehen, dass Heinz keine Lust mehr hatte!
                                                                                              *
Tomas hätte nie geglaubt, dass sich ein ausgewachsener Mensch durch den engen Fensterspalt zwängen könnte, aber Heinz war schon beinahe draußen.
Wäre das Ganze auf der gegenüberliegenden Seite des Gebäudes passiert, vermutlich hätte Tomas noch gepresst, gedrückt und gestopft, denn dort lagen alle Fenster im Erdgeschoss.
(Lauf Heinz, lauf ganz weit weg, dorthin, wo es keine überdosierten, brutal isolierenden Medikamente von Herrn Dr. Pfeffer gibt! – Lauf Heinz, selbst wenn du kaum eine Chance hast, hier geben sie dir in den nächsten Jahren wohl ohnehin keine!)
Doch die Fenster – auf dieser Seite – befanden sich im ersten Stock!

Instinktiv sprang Tomas heran, packte Heinz fest am Kragen und – zog. Heinz fiel rücklings vom Fensterbrett hinunter. Er fiel, wie er in letzter Zeit immer fiel: ohne jede Abwehrreaktion! Vergeblich versuchte Tomas, ihn festzuhalten. Heinz stürzte auf den harten Steinfußboden, ausgerechnet auf Nacken und Genick, … es gab einen lauten Knall!
Tomas hatte einen Riesenschreck bekommen … aber Heinz war nichts passiert. © Thomas Wiefelhaus


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Wieder eine ältere Geschichte von mir.

Der noch relativ junge Dauerpatient Heinz kommt bereits in meinem veröffentlichten Band "Betheljugend - Mehrbett- oder Einzelzimmer" vor.

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