Analyse von Ambrose Bierces Kurzgeschichte "The Mocking-Bird/Die Spott-Drossel"

Essay zum Thema Krieg/Krieger

von  FrankReich

Im englischen Wörterbuch "Oxford Advanced Learner' s Dictionary 2000" wird die Spottdrossel als schwarzweiß gefiederter Vogel amerikanischer Herkunft beschrieben, der die Gesänge anderer Vögel nachahmen kann. Schon bei erstem Überfliegen der Kurzgeschichte wird das metaphorische Prinzip dieser Definition deutlich, denn einerseits verkörpern die Farben des Vogels die Ziele der beiden gegnerischen Parteien im amerikanischen Bürgerkrieg von 1861, der Föderation, bzw. den Nordstaatlern in blauen Uniformen für die Menschlichkeit entgegen der Konföderation oder den Südstaatlern in grauer Uniformierung für die Sklaverei, andererseits gibt die Gabe der Spottdrossel einen Hinweis auf den Gesinnungswechsel des Protagonisten, der Bindestrich im Titel dürfte die Trennung zwischen Körper und Geist hervorheben.

Der 24jährige Protagonist William Grayrock, zu Beginn der Geschichte noch Soldat der Nordstaaten, erinnert sich, sinnierend unter einer Pinie sitzend, wie er und sein Zwilling John an einem Fluss mit Dampfschiffverkehr aufwuchsen, allerdings nach dem Tod ihrer Mutter im Alter von zwölf Jahren jeweils von verfeindeten Verwandten aufgenommen wurden, wobei es William in den Norden und John, der eine Spottdrossel erbte, in den Süden verschlug. Aus seiner Träumerei aufgeschreckt erscheint William eben solch ein Vogel und er entdeckt kurz darauf einen konvulsivisch zuckenden, zwar noch warmen, aber toten Soldaten der Gegenseite, der ihm bis auf die gegnerische Uniform wie ein Ei dem anderen gleicht. Etwas unverständlich bleibt, ob es sich bei dieser Situation nur um eine Vision, etc. handelt, dem Leser wird dadurch jedoch eröffnet, dass William nun die Identität seines Zwillingsbruders übernimmt. Das anschließende Verschwinden der Spottdrossel zeigt an, dass ihre Aufgabe damit erledigt ist, alle Appelle der Nordstaatenarmee an ihren Soldaten, der ja nun im Graurock steckt, müssen sich folglich als wirkungslos erweisen, denn er hat durch die verführerische Stimme der Drossel bedingt, Vorname und Front gewechselt, ist also konvertiert.

Bemerkenswert an der Struktur der Geschichte ist zudem, dass Hauptfigur und Erzähler identisch sind, allerdings mit einem Jahr Unterschied, eine Recherche ergibt, dass die fiktive Figur des William Grayrock bspw. in die Rolle eines tatsächlichen "Grayrockvolunteers", Captain John R. Ferguson, geb. am 11. Juli 1837 und Angehöriger der Kompanie E der 15. Texas Infanteriebrigade geschlüpft sein könnte. Wie dem auch sei, der Ich-Erzähler John/William geht fehl in der Annahme, dass das Schicksal von Ulysses Grants Armee am denkwürdigen 06. April 1862 bei Shiloh besiegelt war, auch als Erzähler wusste der Protagonist zum Zeitpunkt der Erzählung noch nicht, dass letztendlich der Norden den amerikanischen Bürgerkrieg gewann.

Daher vergegenwärtigt besonders diese Kurzgeschichte dem Leser, dass der Autor sie jederzeit kontrolliert und nicht zwangsläufig auch der Erzähler sein muss, denn in diesem Fall wird der Leser nur über den Standpunkt des Autors assoziieren können, dass die Mutter von William und John, wobei diese Vornamen ebenfalls für Geist und Körper stehen, die gesamte Nation verkörpert, die beiden Verwandten die jeweiligen Seiten der Medaille darstellen und nur er ist auch in der Lage, dem Leser zu vermitteln, dass die Pinie, unter der Grayrock sitzt, etwas viel Größeres repräsentiert, nämlich den General-Grant-Mammutbaum und nicht zuletzt besitzt nur Ambrose Bierce den Verstand, um beim Leser die Erkenntnis anzuregen, dass der Süden sich dem Symbol der Pinie, die übrigens ein weitläufiger Verwandter des Mammutbaumes ist, zwar beugen musste, das Problem der Sklaverei, bzw. des Rassismus allerdings, hier paraphrasiert durch den Dampfbootverkehr, dadurch jedoch keineswegs gelöst sei, sondern ganz im Gegenteil noch weiter getragen werden wird, somit eigentlich dem Sieg der Nordstaaten spottet.


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (30.12.21, 22:55)
Bei mir läufst Du offene Türen ein. Hoffentlich liest es Terminator!

 Graeculus meinte dazu am 30.12.21 um 23:06:
Ich erinnere mich gerade, daß auch ich schonmal zwei Kurzgeschichten von Bierce hier vorgestellt habe:
https://keinverlag.de/433667.text
https://keinverlag.de/433723.text

Zwei Jahre ist's her ...
Es lohnt sich, auf diesen Autor ("den bekanntesten unbekannten Schriftsteller der Welt") aufmerksam zu machen.

 FrankReich antwortete darauf am 31.12.21 um 00:13:
Danke, Deine Stellungnahme zu Terminators Text hat mich daran erinnert, dass ich klauskuckuck diese Analyse schon Anfang des Jahres versprochen hatte, ich hatte sie zwar bereits Ende 2014 auf Englisch verfasst, scheute mich aber bis jetzt, sie zu übersetzen.
Bevor Terminator die Analyse liest, wäre es natürlich zweckmäßig, wenn er sich zuerst die Kurzgeschichte vornimmt, da ich mir nicht sicher bin, ihren Inhalt ausreichend umrissen zu haben.

Ciao, Frank

 Graeculus schrieb daraufhin am 31.12.21 um 00:17:
Das Problem besteht darin, daß Terminator lieber Sachbücher liest. Vielleicht können wir ihn zu einem Versuch überreden, oder er wird durch "Das Wörterbuch des Teufels" neugierig gemacht.
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