Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten

Legende zum Thema Normen und Werte

von  Terminator

Das Alterswerk des alten Kant. Es gibt nur einen kategorischen Imperativ, alle anderen sind hypothetisch. Der kategorische Imperativ gilt immer und überall: schwer leidende unheilbar Kranke dürfen keine Sterbehilfe fordern und der gute Deutsche im Dritten Reich darf nicht lügen, wenn der Amtsnazi frag, ob er in seinem Keller Juden versteckt. Abstrakt bedeutet das Handeln nach dem KI, immer aus Pflicht, nicht bloß pflichtgemäß, zu handeln. Konkret bedeutet es, jede Person immer als Zweck an sich zu behandeln, und nie als bloßes Mittel.


Das war die Grundlegung. Die viel längere Metaphysik der Sitten selbst sagt im Grunde nur, worin dieses Handeln aus Pflicht bzw. die Behandlung anderer als Selbstzwecke besteht: jeder ist verpflichtet, sich selbst moralisch zu vervollkommnen, und das Wohl der anderen zu befördern. Die moralische Welt nach Kant besteht im Zusammenhängen von Güte und Wohl. Das egoistische Streben nach Glück verdirbt den moralischen Charakter, der so Handelnde verliert seine Güte. Das Streben nach der Heiligkeit bei anderen kann ich nicht durch mein eigenes Handeln beeinflussen: jeder kann sich nur selbst moralisch vervollkommnen, der dem zugrunde liegende Wille ist frei.


Was den KI betrifft, so frage ich, an wen sich die Anweisung "Handle so..." eigentlich richtet. Sie richtet sich an ein entmenschlichtes abstraktes Subjekt des cartesianischen hysterischen Rationalismus. Das ist nicht der denkende, wollende, lebende, atmende Mensch. Das ist eine titanische, technische, prometheische Abstraktion. Der KI hat in der realen Welt keinen Adressaten.


Wenn Kant die Ehe als einen Vertrag zum gegenseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane definiert, so ist das keine Kuriosität, sondern die Konsequenz seines cartesianisch-newtonischen Menschenbildes. Es gibt weder Frauen noch Männer, es gibt nur Individuen. Nur zwei Individuen, die Nachwuchs zeugen können, können, technisch betrachtet, eine Ehe eingehen. Eine sexlose Ehe gilt für Kant als nicht vollzogen. Mit Liebe hat Ehe eben auch nichts zu tun: sie ist ein abstrakt-rechtlicher Vertrag zweier Individuen, Drohnen, Roboter, die nur ihre Pflicht tun. Kant ist ein Vordenker des Transhumanismus.


Und so verfehlt Kant meilenweit die Antwort auf seine wichtigste Frage "Was ist der Mensch?". Von der richtigen Antwort darauf hängt nämlich ab, wie die drei abgeleiteten Fragen beantwortet werden müssen. Gehen wir von Kants Menschenbild aus und antworten diesem gemäß. "Was kann ich wissen?" Nur das, was mein Erkenntnisapparat mir zu wissen ermöglicht. Eine nichtssagende Antwort (sagte schon Nietzsche). "Was soll ich tun?" Deine Pflicht nach dem KI. Du kennst den Algorithmus. Werde selbst zum Algorithmus, dann ist es nicht mehr so anstrengend. Mache den KI zu deiner Natur. "Was darf ich hoffen?" Kants ehrliche Antwort lautet, gemäß dem heroischen Nihilismus: nichts.


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Kommentare zu diesem Text


 Augustus (12.09.22, 22:35)
Die hier vorliegende Erkenntnis  ist dermaßen bedeutend, dass sie wohl von nur ganz wenigen verstanden wird.
Wer hätte gedacht, dass Kant neugelesen und neu interpretiert werden muss.  Seine Werke wurden stets kurzfristig betrachtet und nie auf Idee langfristigkeit geprüft.  Nun stellen wir fest, seine Werke knüpfen vielmehr an eine cyber-synthetische Zukunft an. Seine Werke sind zwar ein Produkt seiner Zeit, aber für Menschen außerhalb seiner Zeit geschrieben. Sind seine Werke Warnung vor dem nihilismus oder als Vorbereiter des nihilismus zu betrachten? 

Kommentar geändert am 12.09.2022 um 22:37 Uhr

Kommentar geändert am 12.09.2022 um 22:38 Uhr

 Terminator meinte dazu am 12.09.22 um 22:51:
Wer den Nominalismus verabsolutiert, liest Kants Grundlegung ohne deren Grundlage. Und diese besteht im seelenlosen abstrakten Individualismus. Kant sieht nicht den Menschen, er sieht das theoretische Individuum, das neuzeitliche Subjekt. Doch jede Kritik an Kant, die auf denselben philosophischen Voraussetzungen beruht, trifft nicht den Punkt; gegen diese Kritik hat Kant sein Werk auch bestens geschützt.

 EkkehartMittelberg (13.09.22, 16:57)
Jack, du legst den Finger in die Wunde: Lieblose Ethik, die zur bloßen Pflichterfüllung verkommt. So deutlich habe ich das noch nirgends gelesen.

LG
Ekki

 Terminator antwortete darauf am 13.09.22 um 23:45:
Dieser Horizont eröffnet sich mir erst jetzt. Bis vorgestern sah ich in Kants Ethik das abgeschwächte Solare (nicht im Modus des Logos oder Logik, sondern der Logistik), aber Kant hat auch eine szientistisch-titanische Dimension. Und diese ist für sein Menschenbild entscheidend.

Bisher bin ich unreflektiert vom leeren Subjekt der neuzeitlichen Philosophie ausgegangen, vom "Ich denke, also bin ich" und "Ich=Ich". Das Ich ist auch schwer hintergehbar, es sei denn, man begreift, dass es kein Individuum gibt, sondern den Prozess der Individuation. Das Subjekt ist nicht ein Sein, es ist ein Tun, sonst wäre es in der Ewigkeit, und nicht in der Zeit.
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